Nestor Machno

Nestor Machno 1921

Nestor Iwanowytsch Machno (ukrainisch Нестор Іванович Махно, wiss. Transliteration Nestor Ivanovyč Machno; russisch Нестор Иванович МахноNestor Iwanowitsch Machno, wiss. Transliteration Nestor Ivanovič Machno; auch bekannt als Batko Machno, ukrainisch батько Махно [ˈbɑtʲko mɐxˈnɔ], „Vater Machno“[1]) * 26. Oktoberjul. / 7. November 1888greg. in Huljajpole, Russisches Kaiserreich; † 6. Juli 1934 in Paris) war ein ukrainischer Anarchist, der zwischen 1917 und 1921 während des russischen Bürgerkriegs zum Anführer der nach ihm benannten Machnowschtschina, einer anarchistischen Volksbewegung wurde, der es zeitweise gelang, einen beträchtlichen Teil der Ukraine zu kontrollieren.

Leben

Frühe Jahre

Nestor Machno kam in Huljajpole, im Gouvernement Jekaterinoslaw in der heute ukrainischen Oblast Saporischschja als jüngstes von fünf Kindern einer armen Bauernfamilie zur Welt. Der Vater starb, als er zehn Monate alt war. Aufgrund der Armut musste Machno bereits mit sieben Jahren als Schafhirte arbeiten. Ab dem Alter von acht Jahren ging er in den Wintermonaten zur Schule, während er in den Sommermonaten bei ortsansässigen Gutsherren arbeitete. Im Alter von zwölf Jahren verließ Machno die Schule, um in Vollzeit auf den Gütern von Adligen, wohlhabenden (auch deutschen) Siedlern und Bauern zu arbeiten. Diese Siedler und Bauern wurden auch Kulaken genannt, wenn auch noch ohne die spätere pejorative Zuschreibung. Als er siebzehn Jahre alt war, begann er eine Lehre als Maler, arbeitete später als ungelernter Arbeiter in einer Eisengießerei und dann als Gießer im selben Betrieb. Dort machte er auch die ersten Erfahrungen mit revolutionären politischen Vorstellungen.[2]

Nestor Machno im Jahre 1909

Durch die Ereignisse der Russischen Revolution 1905 und die darauffolgende Repression des Russischen Kaiserreiches begann er sich für den Anarchismus zu interessieren. In seinen Vorstellungen einer freien Gesellschaft wurde Machno von den Ideen der anarchistischen Theoretiker und Aktivisten Michail Bakunin und Fürst Kropotkin beeinflusst. Er wurde im Jahre 1906 Mitglied in einer lokalen Gruppe von Anarchisten, die 1905 entstanden war und hauptsächlich aus Söhnen der ärmeren Landbevölkerung bestand. Ende des Jahres 1906 wurde Machno wegen politischer Attentate inhaftiert und im Jahre 1907, aus Mangel an Beweisen, wieder auf freien Fuß gesetzt. Im Jahre 1908 hatte die politische Polizei die Gruppe mit Informanten infiltriert, so dass er im Jahre 1910 mit dreizehn anderen durch ein Militärgericht zum Tode durch Hängen verurteilt wurde. Aufgrund seines Alters und der Bemühungen seiner Mutter wurde die Strafe in lebenslängliche Haft bei harter Arbeit reduziert. Während seiner Gefangenschaft wurde ihm auf Grund einer Tuberkuloseerkrankung ein Teil seiner Lunge entfernt.[3] Im Butyrka-Gefängnis in Moskau freundete er sich mit Pjotr Andrejewitsch Arschinow an.[2][4]

Revolution und Bürgerkrieg

Nestor Machno (Mitte) mit Semen Karetnyk (Dritter von links) und Fedossij Schtschus (Erster von rechts)

Durch die Februarrevolution 1917 wurde Machno in Russland befreit. Er kehrte in die Ukraine zurück, wo er im lokalen Umfeld begann, als Vorsitzender des Rayon-Bauern-Komitees und später als Vorsitzender des örtlichen Sowjets die Bauern und Arbeiter zu organisieren.[5] Durch den Frieden von Brest-Litowsk wurde die Ukraine im März 1918 politisch und ökonomisch von Sowjetrussland getrennt. Bereits vor der Oktoberrevolution von 1917 und vor dem Erlass des Land-Dekrets durch die Bolschewiki kam es so zur Enteignung von Großgrundbesitzern und Unternehmern und zur Errichtung von anarchistischen Kommunen.

Die Machno-Bewegung (genannt: Machnowschtschina) wuchs schnell und hatte das Ziel, eine anarchistische Ukraine zu verwirklichen. Die Anhänger Machnos kämpften mit bis zu 50.000 freiwilligen Partisanen in der Ukraine mit sieben Millionen Einwohnern, in deren bäuerlicher Bevölkerung sie starken Rückhalt hatten. Die Bewegung Machnos war durch Verwendung von mit Pferden oder Maultieren bespannten (und oft mit Maschinengewehren bestückten) Kutschen und Bauernwagen, den Tatschankas, hoch beweglich. Sie hatten durch ihre Verwurzelung in der bäuerlichen Bevölkerung, den Muschiki, nicht nur deren Unterstützung, sondern auch logistische Vorteile. Die Pferde wurden bei den Bauern nicht gewaltsam requiriert. Dokumente aus ukrainischen und russischen Archiven, die bisher der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren, belegen, dass Machno für eine Bezahlung mit Geld oder Naturalien sorgte. Die Machnowschtschina konnte sich erfolgreich gegen die Besatzungstruppen der deutschen und österreichischen Mittelmächte sowie gegen die Armeen der Weißen behaupten.

Im Juni 1918 traf Machno auf Vermittlung Jakow Swerdlows im Moskauer Kreml Lenin, der versuchte, die Bewegung für seine bolschewistische Gegenregierung in Charkiw zu gewinnen. Nach deren Zusammenbruch im November 1918, der ein machtpolitisches Vakuum hinterließ, wurde der von der deutschen obersten Heeresleitung inzwischen eingesetzte Ataman Pawlo Skoropadskyj von Machnos Truppen vertrieben.

Das Eingreifen polnischer, bolschewistischer und rest-ukrainischer Militärverbände mündete in langwierige Kriegshandlungen, in denen die Machno-Bewegung, die Machnowschtschina, über vier Jahre ihre Positionen erfolgreich gegen die Weiße Armee verteidigte. Offiziere Anton Iwanowitsch Denikins wurden nach ihrer Gefangennahme durch Machno-Leute meist erschossen. Einfache Soldaten der Denikin-Armee ließ man dagegen laufen, nachdem man sie ihrer Oberbekleidung beraubt hatte. (Uniformen beziehungsweise Kleidung überhaupt waren während der Bürgerkriegswirren noch knapper als Waffen und Munition.) Zeitweise war Machno mit dem Ataman Matwij Hryhorjew verbündet, der eine „Ukraine für Ukrainer“ forderte und hoffte, Hetman der Ukraine zu werden.[6] Bei Verhandlungen über den einzuschlagenden Kurs kam es zur Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden. Daraufhin ließ Machno Hryhorjew erschießen.[7]

Während für ein Viertel der ca. 30.000 im Jahr 1919 in der Ukraine bei Pogromen ermordeten Juden die unabhängigen Bauernarmeen verantwortlich waren, bescheinigt der Historiker Serhii Plokhy: „Der einzige Warlord, der, wenngleich mit wechselndem Erfolg, versuchte seine Truppen von Pogromen abzuhalten und den Antisemitismus in den Reihen seiner Bauernarmee zu bekämpfen, war Nestor Machno.“[8]

Machno lehnte Verhandlungen mit den Weißen ab und schlug sich 1920 nach einer Phase des Partisanenkriegs gegen die sowjetische Regierung wieder auf die Seite der Roten Armee. Abgesandte der Weißen Armee General Wrangels wurden dabei exekutiert.

Der Sieg der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg hatte als politisches Ziel, die Integration der Machnowschtschina in die mit ihr vormals verbündete Rote Armee zu erreichen sowie die Ukraine zu bolschewisieren. So forderte Lew Borissowitsch Kamenew die Auflösung der von Machno gegründeten selbstständigen Räte. Dagegen gab es aus den Reihen der Machnowschtschina, die weiterhin für eine anarchistische Ukraine kämpfen wollte, heftigen Widerstand.[9] Unter Führung Leo Trotzkis schlug die Rote Armee die Bewegung endgültig gewaltsam nieder.[10]

Exil und Tod

Machno selbst, der mehrfach verwundet wurde und wegen der Spätfolgen der Tuberkulose kränkelte, konnte 1921 mit seiner Partnerin Galina über Rumänien, Polen, Danzig und Berlin nach Paris fliehen, wo er sich 1927 unter anderem mit Buenaventura Durruti und Francisco Ascaso traf. Er schrieb ab 1926 zusammen mit russischen Exilanten für die Monatszeitschrift Delo Truda und war Mitverfasser der Organisatorischen Plattform der libertären Kommunisten. Diese Schrift wurde zum Grundlagentext des Plattformismus, einer Strömung des Anarchismus, die stark von den Erfahrungen des Kampfes der Machnowschtschina beeinflusst war und auf eine starrere Struktur der revolutionären Organisation setzte. Von der Mehrheit der zeitgenössischen Anarchisten wie Volin und Errico Malatesta wurden diese Ideen aber als Versuche einer Hierarchisierung der Bewegung gesehen und als „Bolschewisierung“ des Anarchismus bezeichnet und abgelehnt.

Durch die politische Isolation in Frankreich und die Entwicklung in der Ukraine verbittert, zog er sich mehr und mehr zurück. Er arbeitete als Zimmermann, als Bühnenarbeiter an der Pariser Oper und in einer Renault-Werkstatt. Am 6. Juli 1934 starb Nestor Machno an Tuberkulose. 500 Personen nahmen drei Tage nach seinem Tod an seinem Begräbnis auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise teil.

Literatur

  • Victor Peters: Nestor Machno. Das Leben eines Anarchisten. Echo Books, Winnipeg, Canada ca. 1970, OCLC 5298027.
  • Andreas Pittler: Nestor Machno. Das wilde Feld. In: Pittler/Verdel: Der große Traum von Freiheit. Promedia, Wien 2010, ISBN 978-3-85371-319-8
  • Alexandre Skrida (Hrsg.), Nestor Machno: The Struggle Against the State and other Essays. AK Press, Edinburgh/ San Francisco 1996, ISBN 1-873176-78-3 (englisch).
  • Volin: Die unbekannte Revolution. Band 3: zur Machnobewegung. Verlag Association, Hamburg 1976, ISBN 3-88032-011-X.
  • Felix Schnell: Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905–1933. Hamburger Edition: HIS-Verlag, Hamburg 2012, ISBN 978-3-86854-244-8.
  • Peter A. Arschinoff: Geschichte der Machno-Bewegung. Unrast Verlag, Münster 2008, ISBN 978-3-89771-917-0.
  • Rudolf Naef: Russische Revolution und Bolschewismus 1917/18 in anarchistischer Sicht. Edition AV, Lich 2005, ISBN 3-936049-54-8.
  • Augustin Souchy: Reise nach Rußland 1920. Verlag Europäische Ideen und Klaus Guhl Verlag, Berlin 1979, ISBN 3-921572-12-6. (Originalausgabe: Wie lebt der Arbeiter und Bauer in Rußland und der Ukraine? Resultat einer Studienreise von April bis Oktober 1920. Verlag Der Syndikalist, Fritz Kater, Berlin 1920).
  • Nestor Machno (1889–1934). Der Erfinder des modernen Partisanenkrieges. In: Ralf Höller (Hrsg.): Der Kampf bin ich. Rebellen und Revolutionäre aus sechs Jahrhunderten. Aufbau TB Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-7466-8054-9, S. 257 ff.
  • Mark Zak: Erinnert euch an mich. Über Nestor Machno. Mit einem Nachwort von Bini Adamczak. Edition Nautilus, Hamburg 2018, ISBN 978-3-96054-085-4.
  • Viktor P. Danilov, Viktor V. Kondraˇsin, Teodor Shanin (Hrsg.): Nestor Machno. Krest’janskoe Dviženie na Ukraine 1918–1921. Dokumenty i Materialy. Rosspen, Moskau 2006
  • Ettore Cinella: Machno in der ukrainischen Revolution 1917 bis 1921. In: Wolfgang Braunschädel (Hrsg.): Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit. Nr. 17, Fernwald 2003, ISBN 3-88663-417-5, S. 311 ff.
  • Rudolf Rocker: Memoiren eines deutschen Anarchisten. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1974, ISBN 3-518-00711-4 (Auszug über Nestor Machno (Memento vom 16. August 2004 im Internet Archive)).

Film

  • Helene Chatalain, Dimitri Pliouchtch: Nestor Machno – Paysane d'Ukraine. Frankreich La Sept-Arte 1996. (Deutscher TV-Titel: Nestor Machno – ukrainischer Bauer und Anarchist.)
  • Nikolaj Kaptan, Wladimir Dostal: Dewjatch Shisnej Nestora Machno/Девять жизней Нестора Махно. 12-teiliger Fernsehfilm Russland Pervyj Kanal/Первый канал Juli 2007, nach dem gleichnamigen Roman von Igor Bolgarin und Wiktor Smirnow.
  • Bolschaja-malaja woina (Большая—малая война/Der große kleine Krieg), auch unter dem Titel Banda Machno (Die Machno-Bande) ediert, Regie: Vasile Pescaru, UdSSR 1980, mit Wiktor Saitow, Gennadi Sajfulin, Jewgeni Lasarow

Weitere künstlerische Rezeption

  • Alexei Tolstoi: Der Leidensweg, Romantrilogie, 1920–1941
  • Alexander Parchomenko; Film, 1942; Regie: Leonid Lukow; Boris Tschirkow als Nestor Machno[11]

Weblinks

Commons: Nestor Makhno – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Korine Amacher: Lev Kamenev at Nestor Makhno’s (Huliaipole, May 1919): The Four Stages of a Narrative. In: Quaestio Rossica, 5(3): 738-756. doi:10.15826/qr.2017.3.248
  2. a b Makhno, Nestor, 1889-1934. In: libcom.org. 8. September 2006, abgerufen am 7. Januar 2016 (englisch).
  3. Das Leben des ukrainischen Anarchistenführers Nestor Machno - Biographie in Untergrundblättle; abgerufen am 11. Oktober 2018
  4. Heiner Becker In: Peter A. Arschinoff: Geschichte der Machno-Bewegung. Unrast Verlag, Münster 2009, ISBN 978-3-89771-917-0, S. 256 ff.
  5. In Zeiten des Krieges. In: Heise online. 15. Februar 2009, abgerufen am 20. Juli 2013.
  6. Felix Schnell: Die erwartete Nation. Imperien, Bauern und das Nationale in der Ukraine (Zarenreich und Sowjetunion). In: Journal of Modern European History / Zeitschrift für moderne europäische Geschichte / Revue d’histoire européenne contemporaine, Bd. 11 (2013), S. 375–396, hier S. 385.
  7. Alexandre Skirda: Nestor Makhno – Anarchy’s Cossack. The Struggle for Free Soviets in the Ukraine 1917–1921. AK Press, Edinburgh 2004, ISBN 1-902593-68-5, S. 125.
  8. Serhii Plokhy: Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine. Aus dem Englischen von Anselm Bühling u. a. Hoffmann und Campe, Hamburg 2022, S. 320. ISBN 978-3-455-01526-3.
  9. NESTOR MACHNO: Syndikalist Nr. 43/ 1922 Beilage. In: Nestor Makhno Info. Abgerufen am 20. Juli 2013.
  10. Nestor Makhno: Biography. In: Spartacus School Net. Abgerufen am 20. Juli 2013 (englisch).
  11. Alexander Parchomenko in der Internet Movie Database (englisch), abgerufen am 14. Juni 2022.

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