Neoromanik

Das neoromanische Schloss Neuschwanstein in Schwangau

Die Neoromanik (von altgriechisch νέοςnéos, deutsch ‚neu‘) oder Neuromanik ist ein europäischer Kunststil des 19. Jahrhunderts. Künstler, vor allem Architekten, griffen damals auf Vorbilder der vergangenen zwei Jahrtausende zurück – in diesem Falle auf die Romanik. Daneben gab es jedoch auch Neugotik, Neorenaissance, Neubarock und die Vereinigung mehrerer dieser Stilrichtungen in einem Werk (sogenannter Eklektizismus), die gemeinsam in der Stilgeschichte als Historismus bezeichnet werden.

Entwicklung

Rückgriffe auf die Romanik gab es, seit diese von anderen Stilen abgelöst worden war. Rückgriffe auf die romanische Architektur in der Zeit der Spätgotik und der Renaissance werden allerdings zumeist als retrospektive Architektur bezeichnet, was auch Rückgriffe auf andere Stile beinhalten kann.[1] So wurde die Pfarrkirche St. Martin im schweizerischen Kanton Zug Mitte des 14. Jahrhunderts durch eine wesentlich größere ersetzt. Das Schiff wurde später barockisiert, aber der Turm ist abgesehen vom Dach original erhalten – mit „romanischen“ Koppelfenstern. In der spätgotischen Maria-Magdalenen-Kirche in Münnerstadt, Unterfranken, wurde nach der Durchsetzung der Gegenreformation das Mittelschiff 1605–1612 ersetzt, zwar mit spätgotischen Flamboyantstil-Obergaden, aber mit Flachdecke, ungegliederten Hochschiffswänden und Rundbogenarkaden nach Vorbildern aus der Frühromanik, etwa dem 1040 bis 1075 errichteten Würzburger Dom. Der heute älteste Teil der Dorfkirche Hohennauen im brandenburgischen Havelland ist der Backsteinturm in romanischen Formen. Er wurde von Grund auf 1596 errichtet, nicht nur (wie lange vermutet) sein Glockengeschoss. Von den zahlreichen in der frühen Neuzeit in der östlichen Peripherie Frankreichs errichteten Kirchen, die größtenteils dem style classique zugerechnet werden, greifen einige eher auf die Romanik zurück, als auf antike Vorbilder. Schon im 17. Jahrhundert finden sich dezidiert romanische Details.

Wegbereiter der Neuromanik in Deutschland und im europaweiten Rahmen waren Heinrich Hübsch 1828 mit In welchem Style sollen wir bauen?, einer allgemeinen Favorisierung des Rundbogenstils; dann Rudolf Wiegmann 1829 mit einer Reaktion auf Hübsch und vor allem 1841 mit Gedanken über die Entwicklung eines zeitgemäßen nationalen Baustils, worin er im Vergleich zu der in Frankreich entwickelten Gotik die „deutsche Romanik“ als deutscher beurteilte. Zu den ersten Architekten der Neuromanik zählen Johann Claudius von Lassaulx (1781–1848, Architekt seit etwa 1812) und Friedrich von Gärtner (1791–1847, Veröffentlichungen seit 1819, Architekt seit etwa 1827), dessen Rundbogenstil neben der Romanik auch andere Einflüsse zeigte. Da der kunstgeschichtliche Begriff der „Romanik“ gerade erst 1818 geprägt wurde, wurden anfänglich die Bezeichnungen „byzantinischer Stil“, „Rundbogenstil“ oder auch „altchristlicher Stil“ gleichwertig verwendet. Die Vorliebe für Neoromanik im Deutschen Reich aus Aversion gegen Französisches darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Frankreich mit seinem immensen Bestand an romanischer Architektur verschiedener regionaler Schulen auch einige Motivation gab, neoromanisch zu bauen.

Sakralbauten

Ringkirche Wiesbaden

Für den protestantischen Kirchenbau erlaubte das 1861 publizierte Eisenacher Regulativ als Stil neben der altchristlichen Basilika die mittelalterlichen Formen der Romanik und Gotik. Der Höhepunkt der Neuromanik ist 1891 mit dem Wiesbadener Programm über den evangelischen Kirchenbau anzusetzen. Der Stil reicht über das Ende des eigentlichen Historismus um die Jahrhundertwende hinaus bis in die 1950er-Jahre. Die Bautätigkeit der Neuromanik hatte ihren Schwerpunkt im Kirchenbau. Durch die Industrialisierung gab es in den stark wachsenden Städten dazu ein reiches Betätigungsfeld. Im katholischen Süden des deutschsprachigen Raumes ist der Stil dagegen seltener.

Manche Abweichungen vom romanischen Formenkanon im engeren Sinne lassen sich von mittelalterlichen Vorbildern ableiten. Wie am Beispiel der Kathedrale von Périgueux zu erkennen, gab es in der Romanik Südwestfrankreichs einige byzantinische Einflüsse. In Deutschland entstand nach Beginn der Gotik im französischen Kronland eine umfangreiche spätromanische Architektur mit gotischen Kreuzrippengewölben in Verbindung mit romanischen Außenmauern, v. a. rundbogigen Fenstern und Portalen. Eine eindeutige Abweichung von mittelalterlicher Romanik liegt in der Verwendung ausgereiften Maßwerks, das in Wirklichkeit erst über siebzig Jahre nach Beginn der Gotik aufgekommen war. Die Grundrisse neuromanischer Kirchen konnten originalgetreu sein, gotische Formen wie Joche rechteckigen Grundrisses übernehmen, oder auch Neuschöpfungen des 19. und 20. Jahrhunderts sein. Da die mittelalterliche Romanik teilweise sparsam mit Verzierungen gewesen war, war Neuromanik gerade auch in der Spätphase des Historismus beliebt. Auch im Altarbau spricht man von Neuromanik. Da in der Romanik jedoch keine Altaraufbauten verwendet wurden, sind „neuromanische“ Hochaltäre oft im Grunde neugotische Altäre, die anstelle von Spitzbögen Rundbögen verwenden und auf Fialen verzichten. Das Fehlen historischer Vorbilder führte immerhin dazu, dass im historistischen Altarbau unter dem Etikett der „Neuromanik“ kreativ mit Formen und Aufbau umgegangen wurde und entsprechende Altäre oftmals spielerischer erscheinen als jene der Neugotik.

Profanbauten

Wartburg Eisenach

Bedeutende romanische Profanbauten des Mittelalters hatten in nachfolgenden Stilperioden wechselvolle Geschichten von Modernisierungen und Verfall durchlaufen. Bei ihrer Rekonstruktion wurden verschwundene Bauteile nicht selten fantasievoll ersetzt. Hinzu kamen romantisch inspirierte Neubauten von Schlössern und Villen.

Beispiele für Renovierungen im Schlösser- und Burgenbau, die mit Neubauten verlorener Gebäudeteile, Treppen, Fenster etc. und vor allem mit neuromanischen Innenausstattungen einhergingen, sind der Wiederaufbau der romanischen Wartburg bei Eisenach, der Kaiserpfalz Goslar oder der Burg Liechtenstein bei Wien. Als berühmtestes neuromanisches Gebäude überhaupt kann Schloss Neuschwanstein gelten, das jedoch neugotische Türme und eine eklektizistische Innenausstattung hat.

Als die „deutsche Romanik“ als deutscher Nationalstil gefeiert wurde, wurde im wilhelminischen Deutschland die Neuromanik als „echter“ deutscher Stil zunehmend auch für öffentliche Profanbauten wie Postämter, Regierungsgebäude oder Verkehrsbauten verwendet. Bekannte Vertreter sind z. B. das Preußische Regierungsgebäude in Koblenz sowie die Bahnhöfe Metz-Ville und Worms Hauptbahnhof. Darüber hinaus wurde eine Unzahl kleiner Bahnhöfe in neuromanischem Stil errichtet. Da die Baukörper funktionell oder klassizistisch geprägt waren, fällt das Dekor oft nur bei genauer Betrachtung als neuromanisch auf.

Beispiele

Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin (um 1900)
Burg Dankwarderode Braunschweig
Synagoge Köln
Garnisonkirche Dresden
Regierungsgebäude Koblenz
Lukaskirche München
Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläumskirche Wien
Burg Liechtenstein Maria Enzersdorf

Die Beispiele sind nach Entstehungszeiten geordnet, obwohl die Gestaltungen mindestens ebenso davon abhängen, welche Phase der mittelalterlichen Romanik zum Vorbild genommen wurde.

Deutschland

China

Dänemark

Frankreich

davon zur Bauzeit Deutsches Reich:

Großbritannien

Irland

Italien

  • 1866–1893 San Tommaso di Canterbury in Rom, Architekt Virgilio Vespignani
  • 1897–1899 Herz-Jesu-Kirche in Bozen, Architekt Johann Bittner

Kroatien

Österreich

Polen

Rumänien

Pasquart-Kirche Biel

Schweiz

Südamerika

Ungarn

Vereinigte Staaten

Siehe auch

Literatur

  • Kathleen Curran: The Romanesque Revival: Religion, Politics, and Transnational Exchange. Pennsylvania State University Press, University Park 2003. ISBN 978-0-271-02215-4
  • Claudia Grund: Deutschsprachige Vorlagenwerke des 19. Jahrhunderts zur Neuromanik und Neugotik = Kataloge der Universitätsbibliothek Eichstätt 2. Harrasowitz, Wiesbaden 1997. ISBN 3-447-03852-7
  • Heinrich Hübsch: In welchem Style sollen wir bauen? Müller, Karlsruhe 1828. (Nachdruck: Müller, Karlsruhe 1984. ISBN 3-7880-9695-0)
  • Stefanie Lieb: Der Rezeptionsprozeß in der neuromanischen Architektur. Studien zur Rezeption von Einzelformen in restaurierter romanischer und in neuromanischer Architektur = Kölner Architekturstudien. 82. Veröffentlichung der Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln. Köln 2005. ISSN 0940-7812
  • Albrecht Mann: Die Neuromanik. Eine rheinische Komponente im Historismus des 19. Jahrhunderts. Greven, Köln 1966.
  • Rudolf Wiegmann: Bemerkungen über die Schrift „In welchem Style sollen wir bauen?“ von Heinrich Hübsch. In: Kunstblatt. 10, 1829, S. 173–174, 177–179 und 181–183.
Commons: Neuromanik – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Michael Schmidt: Reverentia und Magnificentia. Historizität in der Architektur Süddeutschlands, Österreichs und Böhmens vom 14. bis zum 17. Jahrhundert.Verlag Schnell + Steiner, 1999, ISBN 978-3-7954-1238-8
  2. https://www.patrimoine-religieux.fr/eglises_edifices/77-Seine-et-Marne/77290-Mery-sur-Marne/170038-EgliseSaint-Remi

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Südansicht der Burg Liechtenstein in der niederösterreichischen Marktgemeinde Maria Enzersdorf.
Eine weithin sichtbare und hoch aufragende mächtige romanische Burg, die bis ins 17. Jahrhundert mehrfach verändert, erweitert bzw. nach Zerstörungen wiederaufgebaut wurde. Bei der Türkenbelagerung 1683 wurde sie stark beschädigt und war anschließend eine Ruine, die erst ab dem Anfang des 19. Jahrhundert durch Fürst Johann I. Joseph von und zu Liechtenstein unter Einbeziehung der mittelalterlichen Anlage wiederaufgebaut bzw. rekonstruiert und erweitert wurde.
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04.03.2007 01099 Dresden, Stauffenbergallee 9: Die Garnisonkirche St. Martin (GMP: 51.074545,13.759698) wurde 1895 - 1900 nach Plänen des Dresdner Architekturbüros William Lossow und Hermann Viehweger erbaut. Die Kirche wurde zu Ehren des hl. Soldaten und späteren Bischofs Martin von Tours (316/317-397) geweiht. Die Simultankirche teilte sich baulich in einen evangelisch und eine römisch-katholisch genutzen Bereich. Bis 1945 dienten beide Teile der Militärseelsorge. Heute wird nur noch der katholische Teil, die heutige Pfarrkirche St. Martin der Pfarrei St. Franziskus Xaverius in Dresden-Neustadt, sakral genutzt. Stilistisch gehört sie zu den letzten Sakralbauten des Historismus (neoromanisch-neogtischer Stil) in Dresden. Sicht von Süden. [DSCN21162.TIF]20070304025DR.JPG(c)Blobelt
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Nordansicht der Mexikokirche, auch als Franz-von-Assisi-Kirche bzw. Kaiser-Jubiläums-Kirche bezeichnet, am Mexikoplatz im 2. Wiener Gemeindebezirk Leopoldstadt. Die Kirche wurde nach Plänen des Architekten Victor Luntz errichtet und 1913 geweiht.
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