Multikonditionale Betrachtungsweise

Multikonditionale Betrachtungsweise (manchmal: mehrdimensionale Betrachtungsweise) ist als Ergebnis psychiatriegeschichtlicher Auseinandersetzungen anzusehen, die zwischen ideologisch orientierten Gruppierungen von Psychiatern im 19. Jahrhundert ausgetragen wurden. Die Betrachtungsweise soll einen Beitrag zur Krankheitssystematik in der Psychiatrie leisten. Hierbei soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die ursprünglich gegensätzlichen und streithaften Standpunkte der Protagonisten im Sinne einer Synthese ihrer Aussagen zu verwerten sind. Als solche ursprünglich gegensätzliche Sichtweisen sind hauptsächlich die der Psychiker und Somatiker anzusehen. Während von den Psychikern soziale Gesichtspunkte verfolgt wurden, betrachteten die Somatiker hauptsächlich naturwissenschaftlich fassbare Krankheitsursachen, wie sie bereits damals in der übrigen Medizin anerkannt waren. Jede Krankheitslehre ist nach Ludolf von Krehl von ihrer historischen Entwicklung geprägt. („Unsere gegenwärtige Systematik trägt die Narben ihrer historischen Entwicklung.“)[1]

Ideologie

Die Neigung zur Verabsolutierung von Krankheitslehren[2] macht sie anfällig gegen ideologische Verfestigungen. Indiz für diese jeweiligen Machtansprüche ist etwa die mit ihnen verbundene Bedenkenlosigkeit in der Anwendung von Zwangsbehandlungen. Wilhelm Griesinger konnte daher 1845 den Anspruch der somatischen Krankheitslehre mit der Forderung nach freiheitlichen Behandlungsformen ohne mechanischen Zwang (no restraint) verbinden. Aber auch im Zusammenhang mit somatischen Krankheitskonzepten waren Zwangsmaßnahmen nicht ausgeschlossen (Somatotherapie). So konnte es dazu kommen, dass das Postulat der körperlichen Begründbarkeit von endogenen Psychosen wie ein Glaubenssatz bzw. Dogma angesehen wurde ohne Rücksicht etwa auf die damit oft verbundene "körperliche Stigmatisierung".[3] Vgl. auch Stigmatisierung psychisch Kranker.

Schichtenlehre

Das triadische System der Psychiatrie kann entsprechend der Schichtregel nach Karl Jaspers als eine Gliederung entsprechend kausal zunehmend stark bzw. zunehmend determinierend wirksamen Krankheitsfaktoren angesehen werden. Hierdurch wird auf die Bedeutung kausal bestimmender Faktoren beim Erstellen von Diagnosen hingewiesen. Es ist beim Erstellen jeder Diagnose darauf zu achten, dass eine bestimmte Symptomatik, wie etwa eine Alkoholabhängigkeit, ggf. auch als Ausdruck einer endogenen Symptomatik anzusehen ist und nicht nur als Ausdruck einer verständlichen Ausnahmesituation, wie dies von Betroffenen häufig geltend gemacht wird.[4][5] Die tiefere (organische) Schicht kann somit die höhere (psychische) Schicht schädlich beeinflussen.

Einzelnachweise

  1. Bräutigam, Walter: Reaktionen, Neurosen, Psychopathien. Ein Grundriß der kleinen Psychiatrie. dtv Wissenschaftliche Reihe, Georg Thieme, Stuttgart 21969; Seite 23
  2. Dörner, Klaus und Ursula Plog: Irren ist menschlich oder Lehrbuch der Psychiatrie / Psychotherapie. Psychiatrie-Verlag Rehburg-Loccum 71983, ISBN 3-88414-001-9; Seite 440
  3. Uexküll, Thure von: Grundfragen der psychosomatischen Medizin. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 1963, Seiten 44–49
  4. Tölle, Rainer: Psychiatrie. Kinder- und jugendpsychiatrische Bearbeitung von Reinhart Lempp. Springer, Berlin 71985, ISBN 3-540-15853-7, zu Stw. „Mehrdimensionale Betrachtungsweise“: Seiten 16, 174 f.
  5. Huber, Gerd: Psychiatrie. Systematischer Lehrtext für Studenten und Ärzte. F.K. Schattauer, Stuttgart 1974, ISBN 3-7945-0404-6; zu Stw. „Multikonditionale Betrachtungsweise“ Seiten 9, 12, 13, 46, 55, 88, 95, 110, 123, 221, 229, 251, 305, 313, 337