Michel Leiris

Michel Leiris in seinem Büro des Musée de l’Homme, Februar 1984

Michel Leiris (* 20. April 1901 in Paris; † 30. September 1990) war ein französischer Schriftsteller und Ethnologe.

Leben

Der aus dem französischen Bildungsbürgertum stammende Leiris, dessen literarische Neigung schon früh zutage trat, wurde von seiner Familie gegen seinen Willen zu einem Studium der Chemie genötigt. Er gewann in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg Anschluss an die avantgardistischen Künstlerzirkel der Epoche, insbesondere zum Surrealismus; rasch befreundete er sich mit Max Jacob, André Masson, Picasso, Joan Miró und anderen. Diese Verbindungen hielten bis ins Jahr 1929, wonach er die Gruppe verließ, um größere künstlerische Selbständigkeit zu erlangen. Lediglich mit Masson verband ihn eine lebenslange Freundschaft.

Leiris begann ein Studium der Ethnologie und lernte Georges Bataille kennen, für dessen Zeitschrift Documents er sich redaktionell engagierte. In der vierten Ausgabe verfasste er 1929 eine erste Würdigung von Alberto Giacomettis Werk. Zusammen mit Bataille, Roger Caillois und Jules Monnerot gründete er das religionswissenschaftlich inspirierte Collège de Sociologie. Von 1931 bis 1933 begab sich Leiris auf eine Forschungsmission Dakar-Dschibuti unter der Leitung von Marcel Griaule, einem Kollegen von den Documents. In Äthiopien wurde er als Zeuge eines Zar-Kults tief beeindruckt, eines besessenen Handelns, das er als rituelles Theater begriff: als Inszenierung zwar, mit der aber zugleich aus der Vorstellung echte Besessenheit und ein Imaginäres erlitten wird.[1]

Nach seiner Rückkehr verfasste er ein längeres Traktat über seine Erlebnisse (L’Afrique fantôme), in dem er dieses Ritual erstmals beschrieb und die Tropenreise zum Modus geistiger Erlösung stilisierte, ein Genre, das bereits Paul Nizans Aden Arabie maßgeblich vorbereitet hatte. Das monumentale Reisetagebuch Leiris’ nutzt die Forschungstechniken der Ethnographie, um sie auf seinen eigenen Alltag („das Heilige im Alltag“) und die Erlebnisse auf seiner Reise anzuwenden. Die Veröffentlichung dieses Texts führte zum Bruch zwischen Leiris und Marcel Griaule.

Von 1929 bis 1935 unterzog er sich einer psychoanalytischen Behandlung bei Adrien Borel, in deren Verlauf er die Notwendigkeit einer intimen Autobiographie als Voraussetzung für einen Heilungserfolg erkannte. Diese Überlegung bildete die Grundlage von L’Âge d’Homme (dt. Mannesalter). Das Buch erschien 1939 und fand eine Fortsetzung in La Règle du Jeu (dt. Die Spielregel), deren vier Bände zwischen 1948 und 1976 erschienen. Im Jahr 1957 wurde Leiris Mitglied des Instituts für Pataphysik. Es folgten Novellen und Gedichte.

Seine Karriere als Ethnologe konnte er nach der Dakar-Dschibuti-Reise ausbauen. Er wurde Forscher am neu gegründeten Musée de l’Homme. Nach 1945 näherte er sich Sartres Existenzialismus an und wurde Gründungsmitglied der Zeitschrift Les Temps Modernes. Zusammen mit Alioune Diop, Aimé Césaire und Georges Balandier gründete er außerdem 1945 die Présence africaine. Als ein heftiger Gegner des Kolonialismus unterzeichnete Leiris das in Frankreich berühmte Manifest der 121 mit. Zu seinen wichtigeren ethnologischen Werken gehörte eine Studie über den Eigentumsbegriff im nördlichen Äthiopien, den er aus einer Sartreschen Perspektive analysierte.

Michel Leiris starb im Alter von 89 Jahren und wurde auf dem Pariser Cimetière du Père-Lachaise (Division 97) beigesetzt.[2]

Leiris war ein Neffe von Raymond Roussel und Schwager von Daniel-Henry Kahnweiler.

Werk

In Deutschland ist Leiris vor allem durch seinen autobiographischen Roman Mannesalter (1939) bekannt geworden. Techniken seiner surrealistischen Lehrjahre, psychoanalytische Selbstbefragung und ein auf die Deutung des eigenen Lebens gerichtetes ethnologisches Instrumentarium definierten das Genre der Autobiographie neu. Das Buch ist dabei retrospektiv ausgelegt: der 34-jährige, geistig wie körperlich zerschlagene Ich-Erzähler bemüht sich um die rückhaltlose Rekonstruktion der frühkindlichen Quellen seiner psychologischen und sexuellen Obsessionen. Der dem Werk seit 1946 üblicherweise vorgelagerte Essay La littérature considerée comme une tauromachie (Literatur als Stierkampf) begründet dies: die völlige exhibitionistische Selbstpreisgabe verwandelt den Schriftsteller in einen Torero, der den monströsen Stier (das eigene desaströse Ich) aufstachelt, um es zu besiegen. Zweck ist nicht so sehr die nostalgische Rückgewinnung einer verlorenen Vergangenheit (Proust), als vielmehr die In-Frage-Stellung der eigenen biographischen Identität, welche, zusammengesetzt aus tiefenstrukturellen Neurosen, sprachlicher Selbstreferenz und getrübten, nur punktuellen Gedächtnisfragmenten, auf ständig neue Weise spekulativ erzeugt werden muss.

Weniger bekannt ist in Deutschland das vierbändige Werk La règle du jeu (1948–1976), das um die eigenen, von der Reflexion immer wieder zerstückelten Erinnerungen und Träume kreist, die mit extremer Detailgenauigkeit in hochkomplexer Sprache wiedergegeben werden – einschließlich des Suizidversuchs 1957 –, und gleichzeitig die politischen Stimmungen und Enttäuschungen des Autors von der deutschen Besatzung (der erste Band entstand im besetzten Paris) über die kubanische Revolution und den Algerienkrieg bis zum Mai 1968 und sein so empfundenes fast permanentes Scheitern spiegelt.[3]

Werke

  • 1925: Simulacre
  • 1927: Le Point Cardinal
  • 1934: L’Afrique Fantôme (dt. Phantom Afrika, 1980, übersetzt von Rolf Wintermeyer und Tim Trzaskalik; Durchgesehene und erweiterte Neuausgabe Matthes & Seitz, Berlin 2022, ISBN 978-3-95757-778-8)
  • 1936: Die Nereide des Roten Meeres (dt. 1980)
  • 1939: L’Âge d’homme (dt. Mannesalter, 1975, übersetzt von Kurt Leonhard)
  • 1943: Haut Mal
  • 1946: Aurora (dt. Aurora 1979)
  • 1948: Biffures: La Règle du Jeu I (dt. Die Spielregel 4 Bände. publiziert ab 1982, übersetzt von Hans Therre)
  • 1955: Fourbis: La Règle du Jeu II
  • 1958: La Possession et ses aspects théâtraux chez les Éthiopiens de Gondar
  • 1961: Nuits sans nuits et quelques jours sans jour
  • 1961: Vivantes cendres, innomées, (mit 13 Radierungen Alberto Giacomettis)
  • 1964: Grande fuite de neige
  • 1966: Fibrilles: La Règle du Jeu III
  • 1967: mit Jacqueline Delange: Afrique noire: la création plastique (L’univers des formes)
  • 1969: Cinq études d'ethnologie
  • 1969: Mots sans mémoire (eine Anthologie lyrischer Texte) (dt. Wörter ohne Gedächtnis, 1084, übersetzt von Simon Werle)
  • 1971: André Masson, „Massacres“ et autres dessins
  • 1974: Francis Bacon ou la vérité criante
  • 1976: Frêle bruit: La Règle du Jeu IV
  • 1978: Alberto Giacometti
  • 1980: Au verso des images
  • 1981: Le Ruban au cou de l’Olympia (dt. Das Band am Hals der Olympia, 1983, übersetzt von Simon Werle und Rolf Wintermeyr)
  • 1981: Das Auge des Ethnographen
  • 1981: Die Lust am Zusehen.[4]
  • 1982: Miroir de la tauromachie/Spiegel der Tauromachie, zweisprachig, 2004, übersetzt von Verena von der Heyden-Rynsch
  • 1985: Langage tangage
  • 1987: Francis Bacon
  • 1988: A cor et à cri
  • 1989: Bacon le hors-la-loi
  • 1992: Zébrage
  • 1992: Journal 1922–1989 (dt. Tagebücher 1922–1989, 1996, übersetzt von Elfi Friesenbiller und Chantal Niebisch)
  • 1994: Journal de Chine
  • 1996: Miroir de l’Afrique (posthum herausgegebener Sammelband seiner wichtigsten Afrika-Studien)
  • 2022: Phantom Afrika. Neuausgabe aus dem Französischen von Rolf Wintermeyer und Tim Trzaskalik

Literatur

  • Irene Albers, Helmut Pfeiffer: Michel Leiris – Szenen der Transgression. Fink, München 2004.
  • Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie 1937–1939. UVK, Konstanz 2006, ISBN 978-3-89669-532-1.
  • Hans-Jürgen Heinrichs: Ein Leben als Künstler und Ethnologe. Über Michel Leiris. Fischer, Frankfurt am Main 1992.
  • Irene Albers: Der diskrete Charme der Anthropologie: Michel Leiris’ ethnologische Poetik. Konstanz University Press, Konstanz 2018, ISBN 978-3-83539097-3.
  • Susanne Goumegou: Traumtext und Traumdiskurs: Nerval, Breton, Leiris. Fink, München 2007.
  • Leiris & Co. Katalog des Centre Pompidou-Metz, Gallimard 2015.[5]
  • Michael Peppiatt: Francis Bacon – Michel Leiris. Eine Freundschaft. Meyer, Bern 2016, ISBN 978-3-905799-39-2.

Auszeichnungen

  • Satrap des Collège de Pataphysique 1957[6]

Weblinks

Commons: Michel Leiris – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Irene Albers, Helmut Pfeiffer: Der besessene Ethnograph und die Rituale des Schreibens. Michel Leiris Texte über den Zar-Kult in Äthiopien. In : Stefan Rieger, Schamma Schahadat, Manfred Weinberg (Hrsg.): Interkulturalität. Zwischen Inszenierung und Archiv. Tübingen 1999, S. 145–163
  2. knerger.de: Das Grab von Michel Leiris
  3. Deutsche Ausgabe: Michel Leiris: Die Spielregel. Band 1: Streichungen (1982), Band 2: Krempel (1985), Band 3: Fibrillen (1991), Band 4: Wehlaut (1999), alle bei Matthes & Seitz, München.
  4. wieder 1988. Hrsg. Hans-Jürgen Heinrichs, übersetzt von Rolf Wintermeyer, Heribert Becker, Eugen Helmlé, Dietrich Leube, Hanns Grössel, Helmut Scheffel. Reihe: Portrait 3. Leiris über: Fred Astaire, Satie, Arnold Schönberg, Sartre, Baudelaire, Mallarmé, Georges Bataille, Raymond Roussel, Michel Butor, Queneau, Paul Éluard, Max Jacob, Limbour, Yves Elléouët, André Masson, Joan Miró, Hans Arp, Marcel Duchamp, Michel Giacometti, die Höhle von Lascaux, Henri Laurens
  5. Werner Spies: Reisen ins zersplitterte Ich. In: Die Literarische Welt. 25. Juli 2015, S. 8.
  6. Histoire de Collège Ý Le 23. clinamen 84 auf fatrazie.com (französisch, abgerufen am 29. Juli 2014)

Auf dieser Seite verwendete Medien

Michel Leiris.JJ.1984.jpg
Autor/Urheber: Charles Mallison, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Michel Leiris dans son bureau du Musée de l'Homme en 1984.