Melitta Sallai

Melitta Sallai an ihrem 85. Geburtstag am 2. Oktober 2012

Melitta Sallai (gesprochen „Schallei“, * 2. Oktober 1927 in Breslau) ist eine deutsche Aktivistin und Autorin. Sie ist die Tochter von Hans-Christoph von Wietersheim-Kramsta, des letzten Besitzers von Schloss Muhrau,[1] und seiner Frau Herta geborene von Johnston.[2]

Sie ist Gründungsmitglied der Hedwig-Stiftung[3] und erhielt 1997 den Orden des Lächelns, 1999 den POLCUL-Preis[4] und 2015 den Sonderpreis des niedersächsischen Kulturpreises Schlesien. 1999 wurde ihr die polnische Ehrenstaatsbürgerschaft verliehen.

Leben

Sorgenfreie Kindheit bis 1945

Melitta Sallai wuchs in der Tradition des niederschlesischen Adels in einer sorglosen Kindheit im Schloss Muhrau auf.

„Reiten spielte in unserer Familie immer eine große Rolle. Wir mussten, kaum dass wir laufen konnten, schon aufs Pferd. ... Es waren dann immer lange Ausritte, um die vier Güter, die zu Muhrau gehörten: Grunau, Puschkau, Preilsdorf, Tschechen. ... Die modernste Errungenschaft war damals der Dampfpflug. ... Die Jagden spielten immer eine große Rolle. ... Unsere Ernährung war spartanisch, aber gesund. Kuchen gab es so gut wie nie, nur Sirupschnitten. Die Hofekinder,[5] bei denen es öfters Kuchen gab, meinten aber im Schloss gäbe es immer Kuchen. Wir genierten uns ... und dachten uns Unmengen von Kuchensorten aus. Als sie sagten, wir sollten ihnen doch mal "a Stickel" mitbringen, flog die Lüge auf.“

Melitta Sallai: Von Muhrau nach Morawa, S. 23f

Zunächst gab es für Melitta und ihre Schwestern Hauslehrerinnen – nur die Jungen gingen auf die Dorfschule. Ab 1938 besuchte sie das Lyceum in Striegau, 1942 kam sie auf ein Internat in Heiligengrabe (Brandenburg).

Melittas Mutter hatte schon im Krieg ein Haus im Kleinen Walsertal gekauft. Es hieß „Bergfrieden“ und war nur zu Fuß oder im Winter mit Skiern zu erreichen. 1945 flohen Melitta und ihre Schwester von Heiligengrabe ins Kleine Walsertal.

„Heute denke ich, was das für meine Mutter für eine Verantwortung war. Sieben Kinder, ihre Mutter, zwei Angestellte und nichts zu essen. Aber ein Dach über dem Kopf, was damals viele nicht hatten. ... Meine Mutter zog sich Stiefel und einen dicken Mantel an, und ging ins Tal, um etwas zum Essen zu organisieren. Ihr Weg führte sie zu den Bauern und in die Hotels, die jetzt leer standen.“

Melitta Sallai: Von Muhrau nach Morawa, S. 39

Wechselvolles Leben nach 1945

Melitta Sallai ging als Au-pair-Mädchen nach Frankreich, nach Portugal und schließlich nach Angola. Ziemlich unbedarft hatte sie das Glück, als Groundhostess bei Panair do Brasil angestellt zu werden. Als zu sehen war, dass die Fluggesellschaft schließen würde, bekam sie einen neuen Job bei der Aerotour-Deutsche-Luftreederei. Als auch diese schloss, arbeitete sie in Jobs, die sie nicht befriedigten, z. B. in einer Auto-Vermietung. Als sie ein Kind bekam, heiratete sie im Februar 1965 Charles Sallai, der in Angola Pflanzungen bewirtschaftete, jedoch nicht der Vater des Kindes war.

„Für mich waren die Jahre mit den Kindern und Charles auf der Pflanzung, aus heutiger Sicht, wohl die glücklichsten meines Lebens.“

Melitta Sallai: Von Muhrau nach Morawa, S. 133

Am 11. November 1975 sollte die Unabhängigkeit Angolas ausgerufen werden. Melitta Sallai machte sich zuvor mit den Kindern von Luanda über Lissabon nach München auf den Weg zu ihren Eltern. Danach flog sie zu ihrem Mann nach Angola zurück. Die Pflanzer fühlten sich nicht von den eigenen Arbeitern bedroht – aber von durchziehenden Banden. Melitta und Charles Sallai mussten die Pflanzung und Angola verlassen, ohne zu wissen, wo und von was sie in Deutschland leben sollten. Melittas Mann bekam einen neuen ungarischen Pass. Sie hatten in Angola wenig vom Kalten Krieg und den „verbiesterten Beziehungen zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland“[6] mitbekommen. Im Oktober 1981 verließ Melitta Sallai endgültig Angola. Ihr Mann konnte erst später nachkommen.

Suche nach neuer Existenz in Deutschland

Melitta Sallai bekam eine Stelle als Sekretärin bei der Max-Planck-Gesellschaft in München. Ihr Mann bekam als promovierter Jurist, der perfekt Ungarisch, Deutsch und Portugiesisch beherrschte, beim Bundesnachrichtendienst in Pullach Arbeit als Übersetzer. Am 1. Mai 1987 starb er und wurde in Beverstedt begraben, wo sein Sohn Tierarzt war.

Rückkehr nach Muhrau

„Kinder macht was aus Muhrau, nicht wiederhaben wollen, etwas machen ist wichtiger. Wenn man nur will, wird es irgendwann schon gehen.“

Melitta Sallais Mutter: Von Muhrau nach Morawa, S. 183

1985 gab es erste Kontakte der Familie zu dem Vollblutgestüt in Striegau/Muhrau.[7] Der Kontakt wurde mit Hilfsgütersendungen und gegenseitigen Besuchen aufrechterhalten. Nach der Wende 1990 entstand ein Plan: In Polen schlossen viele staatliche Kindergärten und die privaten konnte sich viele Menschen nicht leisten. Deshalb sollte in Baden-Baden ein deutscher Verein gegründet werden, der Spenden sammelte, so dass ein Teil des Schlosses renoviert werden könnte. Darin sollte ein Ganztagskindergarten eingerichtet werden, in dem Kinder kostenlos betreut würden. Einer aus der Familie sollte in Muhrau wohnen – Melitta meldete sich dafür, zumal sie 1992 in Rente ging. Ende 1992 wurde ein Pachtvertrag mit der polnischen Treuhandanstalt geschlossen für das Schloss und 12,3 Hektar Park. Aus dem zweiten Teil des Hauses wollte die Familie eine Begegnungsstätte machen. Mit den Einnahmen – auch aus Übernachtungen – sollte der karitative Kindergarten finanziert werden. Im Dezember 1992 fand die erste Weihnachtsfeier für die zukünftigen Kindergartenkinder und ihre Eltern statt.

„Für mich war dieses erste Weihnachten nach fast 50 Jahren wieder im Elternhaus, sehr beeindruckend. Es war ein Weihnachten nicht für die Familie mit sieben Kindern, die hier gewohnt hatten, sondern ein Weihnachten für fremde Kinder aus armen Familien.“

Melitta Sallai: Von Muhrau nach Morawa, S. 189

2006 stellt Melitta Sallai zufrieden fest[8]

„„Ich gehöre jetzt dazu. Die Leute im Dorf sagen ‚unser Schloss' und ‚unser Kindergarten'“, freut sich Melitta Sallei. ... Einige Hundert Meter weiter sitzt eine alte Frau auf einer Bank vor ihrem Haus. Von hier aus hat sie einen guten Blick auf den Schlossturm. „Den Krieg wird es nicht mehr geben, die Deutsche kann bleiben“, sagt sie.“

Wioletta Weiß: Machen ist besser als haben - Morawa. Als Mädchen musste Melitta Sallai fort vom Schloss. Jetzt schafft sie dort Kindern Platz. Sächsische SZ vom 21. August 2006

Neues Leben in Muhrau

Im Mai 1993 wurde der Kindergarten[9] mit vielen Gästen aus Deutschland, der Schweiz und Polen eingeweiht. Seit 1991 verfolgt der gemeinnützige Verein „Kindergarten und Bildungsstätte Hedwig e.V.“ mit ca. 80 Mitgliedern in Deutschland, Polen und der Schweiz in Zusammenarbeit mit der 1995 gegründeten polnischen Stiftung „Fundacja sw. Jadwigi“ (St. Hedwigs Stiftung) die Jugendhilfe und Jugendfürsorge im Geiste der Völkerverständigung durch finanzielle und organisatorische Unterstützung eines gemeinnützigen Kindergartens und Bildungseinrichtung in Muhrau/Morawa in Niederschlesien/Polen, etwa drei Autostunden südöstlich von Berlin.

Diese Bildungseinrichtung konzentriert sich auf deutsch-polnische Jugendbegegnungen und die Organisation von Kursen und Seminaren in den Bereichen Pädagogik, Bildung, Spracherwerb, Natur und Kultur. Die Angebotspalette wurde kontinuierlich im Hinblick auf Qualität und Nachhaltigkeit überprüft und weiterentwickelt. Ein wesentliches Kriterium für den Erfolg ist die Versöhnung zwischen Polen und Deutschen, das friedliche Zusammenleben in Europa und der Abbau bestehender Vorurteile, beginnend mit den Kindern. Der Verein ist seit vielen Jahren als koordinierende und entsendende Organisation im Europäischen Freiwilligendienst tätig. Der Einsatz von Freiwilligen ist seit den 1990er Jahren in zweierlei Hinsicht eine wesentliche Säule unserer Arbeit. Das gemeinnützige Projekt hängt von dieser freiwilligen Verpflichtung ab. Darüber hinaus sind die jungen Freiwilligen selbst wichtige Akteure in dem Dialog zwischen Europäern und Generationen, die immer wieder neue Impulse in unsere Arbeit einbringen.

Die Geschäftsstelle in Berlin wird von einem ehrenamtlichen Vorstand geführt. Marie-Therese von Werner, die Vorsitzende des Fördervereins lebt in Berlin und leitet den dort ansässigen Verein. Der Verein bemüht sich um öffentliche und private Mittel und ist damit seit fast 30 Jahren eine wichtige finanzielle Säule für die deutsch-polnische Generationen verbindende Bildungsstätte. Der Verein kann auf ein Netzwerk von über 800 Unterstützer zurückgreifen. Die Schirmherrin des Vereins ist die ehemalige Herzogin von Schlesien, Hedwig, die um das Jahr 1200 lebte und anerkannt ist für ihr karitatives Engagement, insbesondere in der Armenfürsorge. Das Haus Muhrau (Morawa), in dem die Stiftung und ihre Aktivitäten untergebracht sind, hat eine besondere, gesellschaftlich geprägte Tradition. Bis 1923 lebte dort Maria von Kramsta, die zu Lebzeiten für ihr karitatives Wirken bekannt war. Sie errichtete zahlreiche soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen in Freiburg (Swiebodzice) und im Gebiet Striegau (Strzegom). Das Haus Muhrau war zu jeder Zeit offen für Menschen, die mit ihren Bitten und Anliegen zu ihr kamen. Nachdem sie kinderlos starb, ging das Haus an ihren Neffen Hans-Christoph von Wietersheim-Kramsta über, der sich ebenfalls bis zur Vertreibung 1945 um die Sozialfürsorge der örtlichen Bevölkerung kümmerte. Während der kommunistischen Zeit wurde das Haus teils vom polnischen Zivilschutz, teils als Dorfschule und als Kinderferienlager genutzt.

Im Kindergarten werden 36 Kinder unter der Leitung von Arletta Drozdowicz betreut. Die Bildungseinrichtung, geführt von Marzena Muszynska-Szwegler, organisiert deutsch-polnische, tri- und internationale Begegnungen, Projekte und Seminare (incl. Übernachtung und Verpflegung). Der Erfolg unserer Arbeit und des Projekts in Muhrau (Morawa) spiegelt sich in zahlreichen Auszeichnungen der Stiftung wider, darunter der Deutsch-Polnische Preis der Regierungen der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland in 2001 und der Schlesischen Kulturpreis des Landes Niedersachsen im Jahr 2015. Frau Sallai wurde 2015 zur Ehrenbürgerin der Stadt Striegau ernannt. Der Verein wurde für den Europapreis Blauer Bär 2020 des Landes Berlin nominiert.[10] Auch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit aus Warschau war zugegen. Im Herbst 1995 wurde die Akademie feierlich eröffnet. Seit 1999 hat Melitta Sallai die polnische Ehrenstaatsbürgerschaft.

„In einem kleinen Teil des Schlosses hat sie sich eine Wohnung eingerichtet. Hinter der Tür mit der Aufschrift „privat“, durch die trotzdem jeder unbefangen geht, ist ein Zimmer mit Computer, einem Korb voller Welpen, Erinnerungsstücken aus Afrika und einigen bis zum Bersten gefüllte Fotoalben: von den sepiabraunen Fotos vom Anfang des Jahrhunderts über die verfärbten Polaroids aus Angola bis zu den jüngsten Bildern vom Schloß. ... Auf dem Gut ist von der Vorkriegseinrichtung nichts übriggeblieben, nicht einmal ein Puppenhaar. ... Das Schmuckstück des ersten Stockwerks ist die Garnitur mit Sofa und Stühlen, die damals wie durch ein Wunder den Brand in dem Alpenhäuschen überlebte. Vor einem Jahr hat die Stiftung das Haus und 12 Hektar Park gekauft.“

Melitta Sallai und die St. Hedwigs-Stiftung betreiben einen Kindergarten[11] und eine Bildungsstätte, die Akademie Hedwig.[12][13] Melitta Sallai hat Ausbaumaßnahmen in Angriff genommen. Es sind neue Böden verlegt, die Wände neu gestrichen worden, nachdem man einige Schichten Linoleum weggerissen und Ölfarbe von der Holztreppe geschliffen hatte. Die alten Stuckdecken sind wieder zu Tage getreten.[14]

Literatur

  • Melitta Sallai, Von Muhrau nach Morawa – Ein ungewöhnliches Leben in Europa und Afrika, KLAK-Verlag, ISBN 9 783943 767094

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Mitglieder der Familie von Wietersheim/Kramsta,
  2. Mitglieder der Familie von Johnston
  3. Hedwig-Stiftung/Fundacja Św.Jadwiga
  4. Internetseite der Stiftung für Unabhängige Polnische Kultur
  5. siehe auch Inste zur Erläuterung der Situation der Gutstagelöhner.
  6. Formulierung Melitta Sallais in "Von Muhrau nach Morawa", S. 152
  7. Internetseite des Gestüts in Morawa
  8. Karolina Pajdak, Eine Schlesierin macht "ihr" Schloss zur Kita, Hamburger Abendblatt vom 3. März 2007
  9. "Ein Schloss für Kinder", Beitrag im Projekt "Junge Journalisten on Tour"
  10. Europäisches Jugendportal/Kindergarten in Morawa
  11. Internetseite über den Kindergarten
  12. Internetseite der Akademie Hedwig
  13. Musikakademie in Morawa (2020)
  14. Angaben der Deutsch-Polnischen Stiftung

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Autor/Urheber: Ekkehard Brucksch, Lizenz: CC BY-SA 4.0
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