Luftangriffe auf Göttingen

Die Luftangriffe auf Göttingen durch alliierte Bomber fügten der Stadt Göttingen während des Zweiten Weltkrieges einige Schäden zu. Im Mai 1939 zählte die Stadt 51.214 Einwohner.[1] An kriegswichtigen Einrichtungen verfügte Göttingen über einen Rangierbahnhof, das Bahnbetriebs- und Ausbesserungswerk mit der Lokrichthalle, den 1937 im Westen der Stadt eröffneten Fliegerhorst der Luftwaffe sowie über die Aerodynamische Versuchsanstalt (AVA), die sich im Stadtzentrum zwischen Brauweg und Leinekanal befand.[2] Auch die Autobahn (heutige A 7), die im Westen dicht an Göttingen vorbeiführt, war bei Kriegsbeginn bereits über Göttingen hinaus nach Norden bis Nörten fertiggestellt.

In einer britischen Aufzählung potenzieller Bombenziele im Deutschen Reich von 1944 wird auch Göttingen aufgeführt. Die Universitätsstadt hatte demnach keine wichtige Industrie, lediglich als Eisenbahnknotenpunkt kam ihr eine gewisse Bedeutung zu. Benannt werden der Verschiebebahnhof und das Eisenbahnausbesserungswerk, ferner die Gas-Anstalt, das Aluminiumwerk und einige feinmechanische Betriebe.[3] Im Gegensatz zu naheliegenden größeren Städten wie Kassel, Paderborn, Hannover und Braunschweig, blieb Göttingen von einem britischen Flächenbombardement verschont.

Luftangriffe

Göttingen war achtmal von Luftangriffen betroffen:[4]

Tafel am 1944 zerstörten Kollegienhaus
Tafel an der 1944 zerstörten Bibliothek
Detail der erhalten gebliebenen Fassade der Fabrik Mehle
Untere Maschstraße in Göttingen: Die 18 am 24. Nov. 1944 zerstörten Häuser wurden im typischen Stil der 1950er Jahre wieder aufgebaut.

Geplant war ein britischer Angriff auf Göttingen für die Nacht vom 26. auf den 27. Juni 1944. Das Eisenbahnausbesserungswerk sollte das Ziel für 35 zweimotorige Schnellbomber vom Typ De Havilland DH.98 Mosquito sein. Aber die Flugzeuge fanden die Stadt nicht.[5]

Der erste Luftangriff erfolgte am 7. Juli 1944. An diesem Tag griff die 8. US-Luftflotte Anlagen der Treibstoffindustrie, Flugplätze und Eisenbahneinrichtungen im Reichsgebiet an. In Göttingen war der Verschiebebahnhof das Ziel von 16 viermotorigen Bombern des Typs Boeing B-17 "Flying Fortress".[6] Der Angriff forderte ein Todesopfer, als rund 200 Sprengbomben eine Kaserne im Westen der Stadt und den Maschmühlenweg trafen.[7]

Beim zweiten Luftangriff auf Göttingen, am Abend des 23. November 1944, handelte es sich um einen britischen Störangriff. Durchgeführt wurde er von lediglich sechs Schnellbombern des Typs "Mosquito".[8] Das Gaswerk am Maschmühlenweg wurde zerstört und die Kaserne am heutigen Hiroshimaplatz von einer Luftmine getroffen. Auch Häuser am Geismartor wurden von Bomben zerstört oder beschädigt. Neun Menschen kamen ums Leben.[9]

Am 24. November 1944 um 19.15 Uhr, also am folgenden Abend, gab es einen weiteren Störangriff. Erneut waren es sechs Flugzeuge vom Typ "Mosquito" die Bomben abwarfen und somit die Bevölkerung wieder in die Schutzräume zwang.[10] Dieser Angriff forderte zwar nur ein Menschenleben, richtete aber in der Innenstadt erhebliche Schäden an: Von den 28 Häusern in der Unteren Maschstraße wurden 18 – Nr. 8 bis Nr. 25 – völlig zerstört, auch in der Prinzenstraße und in der Paulinerstraße wurden Häuser von Bomben getroffen. Auf die damals als Universitätsbibliothek genutzte Paulinerkirche fiel eine Luftmine.[11] Dadurch wurden die Kirche sowie umliegende Häuser – z. B. die Commerzbank (auf dem Prinzenhaus) und eine Gärtnerei in der Prinzenstraße – stark beschädigt.[12] Ein Teil des Bücherbestandes wurde unwiederbringlich zerstört. Das angrenzende Kollegienhaus wurde vollständig zerstört. Ebenfalls erlitten das Rathaus und vor allem die Johanniskirche erhebliche Schäden. Auch die Lutherschule wurde von Bomben getroffen. Eine weitere Luftmine, die Ecke Maschmühlenweg/Weender Tor explodierte, zerstörte zahlreiche Schaufensterscheiben in der Weender Straße und anderen Geschäftsstraßen.[13]

Am 1. Januar 1945 flog die 8. US-Luftflotte Angriffe auf die deutsche Treibstoffindustrie und Eisenbahnanlagen. Auf den Göttinger Verschiebebahnhof war ein Pulk von 26 B-17 "Flying Fortress" angesetzt.[14] Dabei wurden vor allem Bomben mit Zeitzündern abgeworfen.[15] Dieser Luftangriff forderte 47 Todesopfer.[16] Neben dem Rangierbahnhof wurde das Bahnbetriebswerk stark zerstört, ebenso Häuser in der Emilienstraße, Arndtstraße, Weender Landstraße, Königsallee und Kasseler Landstraße. Viele Bomben trafen das Zwangsarbeiterlager auf dem Schützenplatz, wo 39 Menschen (darunter 9 Kinder) ums Leben kamen.[17] Am Salinenweg 2 wurde eine Fabrik fast völlig zerstört. Das Auditorium der Universität am Weender Tor wurde schwer beschädigt. In Grone zerstörte ein Bombentreffer ein Wohnhaus im Lütjen Steinsweg, wobei fünf Menschen ums Leben kamen.

Ein weiterer Luftangriff der 8. US-Luftflotte erfolgte am 9. Februar 1945. Dieses Mal griffen 15 B-17 Bomber die Eisenbahnanlagen an.[18] Der Bahnhof und der Fliegerhorst im Westen der Stadt, aber auch wieder Wohnhäuser wurden von Bomben getroffen. Das Aluminiumwerk an der Weender Landstraße erlitt starke Schäden. Insgesamt waren 21 Tote zu beklagen.

Am 22. Februar 1945 startete die US-Luftwaffe die "Operation Clarion", eine groß angelegte Kampagne gegen die deutschen Verkehrsanlagen. Dabei waren die Göttinger Eisenbahnanlagen das Ziel von 29 viermotorigen Bombern des Typs Consolidated B-24 "Liberator". Um mögliche Flugabwehr zu erschweren, flogen die Maschinen in 3000 m Höhe und wählten ihre Angriffsziele visuell aus.[19] Es kamen 27 Menschen ums Leben, als Bahnhof und Bahnanlagen angegriffen und auch die Brauerei am Brauweg zerstört wurden.[20] Möglicherweise galt der Angriff der Aerodynamischen Versuchsanstalt, die sich ebenfalls am Brauweg befand. Auch der Maschmühlenweg wurde getroffen, und die Häuser Arndtstraße Nr. 2 und 3 wurden zerstört.[21]

Am 21. März 1945 fielen in der Nacht um 3.30 Uhr einige Sprengbomben auf die Stadt, sie detonierten mit zeitlicher Verzögerung. Dabei wurden in der Jüdenstraße und in der Angerstraße mehrere Häuser getroffen. Die Junkernschänke und der Rheinische Hof wurden zerstört.[22][23] Bei diesem Luftangriff, der ein Todesopfer forderte, wurde auch in der Wohnsiedlung Treuenhagen und zwar Am Markgraben ein Haus durch eine Bombe zerstört. Explodiert waren 2 Bomben, eine auf der Straße und eine auf dem Grundstück. Vermutlich handelte es sich bei diesen relativ wahllosen Bombenabwürfen nicht um einen konzentrierten Angriff. Vielmehr dürften es "Mosquitos" auf Patrouillenflug gewesen sein. Am Vorabend waren 55 Maschinen dieses Typs deshalb zu Einsätzen über Nord- und Mitteldeutschland gestartet.[24]

Zwei amerikanische Jagdbomber vom Typ P-38 "Lightning" attackierten am 1. April den Bahnhof und den Fliegerhorst westlich der Innenstadt. Dabei wurde eine der angreifenden Maschinen von der Flak abgeschossen. Der Pilot kam dabei ums Leben.[25][26]

Am 7. April 1945 griff die 9. US-Luftflotte die Bahnanlagen in Northeim und Göttingen mit insgesamt 268 zweimotorigen Mittelstreckenbombern der Typen A-20, A-26 "Invader" und B-26 "Marauder" an. Dadurch sollte der Vormarsch der US-Bodentruppen an der Weser unterstützt werden.[27] Bei diesem schwersten und letzten Luftangriff auf die Stadt wurden das Empfangsgebäude des Bahnhofes, das Anatomische Institut der Universität (heute Busbahnhof) und das Obergeschoss des Zoologischen Instituts vollständig zerstört. Fünf Menschen, die im Keller des Anatomischen Instituts Zuflucht gesucht hatten, kamen ums Leben.[28] Auch die Eisenbahnbrücke über die Leine wurde vernichtet. Die Fabrik des Emil Mehle in der Weender Landstraße sowie Wohnhäuser im östlichen Teil der Weender Landstraße wurden schwer beschädigt.[29]

Todesopfer und Schäden

Insgesamt kamen in Göttingen 107 Menschen durch Luftangriffe ums Leben; 59 Wohnhäuser wurden völlig zerstört.[30] Es kam zur Vernichtung von 300 Göttinger Wohnungen, was einem Zerstörungsgrad von 2,1 % entspricht.[31] Abgefahren wurden insgesamt 150.000 m³ Trümmerschutt.[32]

Bis heute müssen als Spätfolgen des Krieges zahlreiche nicht detonierte Blindgänger geräumt werden. Am 1. Juni 2010 verloren 3 erfahrene Angestellte des Kampfmittelbeseitigungsdienstes ihr Leben, als eine – eine Woche zuvor in 7 m Tiefe geortete – US-amerikanische Zehn-Zentner-Fliegerbombe mit Langzeitzünder während Vorbereitungen[33] zur Entschärfung detonierte. Ein 7-kg-Splitter schlug 700 m weit in eine Dachwohnung ein und sechs weitere Kampfmittelräumer wurden verletzt. Ein Wasserschneideroboter sollte zum Einsatz kommen. Am 26. April 2011 musste eine US-amerikanische 5-Zentner-Bombe auf einem Baugelände in der Güterbahnhofstraße nach wenigen Stunden entschärft werden.

Am 31. Januar 2021 erfolgte nach umfangreichen Sondierungs- und Sicherungsmaßnahmen die kontrollierte Sprengung von vier Zehn-Zentner-Zeitzünderbomben. Die ersten beiden Blindgänger explodierten um 0:12 Uhr in der Pfalz-Grona-Breite, eine Minute später der nächste neben der Godehard-Straße und um 0:46 Uhr die letzte der Bomben im Leinebett.[34]

Am Vormittag des 7. Oktober 2021 wurde bei Bauarbeiten am Weender Tor ein Blindgänger gefunden. In Unkenntnis der Situation hatte ein Baggerfahrer die 250-kg-Sprengbombe bereits auf einen Anhänger geladen. Eine sofortige Evakuierung im Umkreis von 1.000 Meter um den Fundort wurde eingeleitet. Davon war auch die gesamte Innenstadt betroffen. Erst am Abend waren ca. 20.000 Menschen in Sicherheit. Um 0.38 Uhr war der Blindgänger entschärft.[35]

Literatur

  • Martin Heinzelmann: Göttingen im Luftkrieg, 1935–1945. Die Werkstatt, Göttingen 2003, ISBN 3-89533-424-3.

Weblink

Einzelnachweise

  1. Deutscher Städtetag: Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden. Braunschweig 1952, S. 382.
  2. Martin Heinzelmann: Göttingen im Luftkrieg. Göttingen 2003, S. 74.
  3. The Bomber's Baedeker (1944). Mainz: Universitätsbibliothek: 2019, abgerufen am 29. Oktober 2020.
  4. Niedersächsisches Städtebuch. Stuttgart 1952.
  5. Martin Middlebrook, Chris Everitt: The Bomber Command War Diaries. Hersham 1985, ISBN 978-1-85780-335-8, S. 534.
  6. USAAF Worldwide Operations Chronology. In: Aircrew Remembered. Abgerufen am 27. Oktober 2020 (englisch).
  7. Martin Heinzelmann: Göttingen im Luftkrieg. Göttingen 2003, S. 43.
  8. Martin Middlebrook, Chris Everitt: The Bomber Command War Diaries. Hersham 1985, ISBN 978-1-85780-335-8, S. 622.
  9. Martin Heinzelmann: Göttingen im Luftkrieg. Göttingen 2003, S. 44.
  10. Martin Middlebrook, Chris Everitt: The Bomber Command War Diaries. Hersham 1985, ISBN 978-1-85780-335-8, S. 622.
  11. https://www.sub.uni-goettingen.de/wir-ueber-uns/portrait/geschichte/paulinerkirche/
  12. Bomben in Göttingen im Zweiten Weltkrieg. (Memento des Originals vom 25. Februar 2015 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.goettinger-tageblatt.de In: Göttinger Tageblatt. (Bildergalerie)
  13. Stadtarchiv Göttingen: Chronik November 1944. (Memento des Originals vom 27. Dezember 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.stadtarchiv.goettingen.de
  14. USAAF Worldwide Operations Chronology. In: Aircrew Remembered. Abgerufen am 27. Oktober 2020 (englisch).
  15. Walther Hubatsch: Wie Göttingen vor der Zerstörung bewahrt wurde. In: Göttinger Jahrbuch 1961. Heinz Reise-Verlag, Göttingen 1961, S. 87.
  16. Martin Heinzelmann: Göttingen im Luftkrieg. Göttingen 2003, S. 47.
  17. Der Bombenangriff auf das Lager Schützenplatz und das Lager Auf der Masch am 1. Januar 1945 mit 39 Toten (darunter 9 Kinder) auf zwangsarbeit-in-goettingen.de
  18. USAAF Worldwide Operations Chronology. In: Aircrew Remembered. Abgerufen am 28. Oktober 2020 (englisch).
  19. USAAF Worldwide Operations Chronology. In: Aircrew Remembered. Abgerufen am 28. Oktober 2020 (englisch).
  20. Martin Heinzelmann: Göttingen im Luftkrieg. Göttingen 2003, S. 49.
  21. Stadtarchiv Göttingen: Chronik Februar 1945 (Memento des Originals vom 23. Juni 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.stadtarchiv.goettingen.de
  22. Martin Heinzelmann: Göttingen im Luftkrieg. Göttingen 2003, S. 50.
  23. Stadtarchiv Göttingen, Dep. 51, Nr. 3a.
  24. Martin Middlebrook, Chris Everitt: The Bomber Command War Diaries. Hersham 1985, ISBN 978-1-85780-335-8, S. 684.
  25. Stadtarchiv Göttingen: Chronik für das Jahr 1945. Stadtarchiv Göttingen, abgerufen am 29. Dezember 2020.
  26. Arbeitsgruppe Luftfahrtarchäologie Niedersachsen: Absturzorte. In: https://www.luftfahrtarchaeologie.de/. Arbeitsgruppe Luftfahrtarchäologie Niedersachsen, abgerufen am 29. Dezember 2020.
  27. USAAF Worldwide Operations Chronology. In: Aircrew Remembered. Abgerufen am 28. Oktober 2020 (englisch).
  28. Göttinger Tageblatt: 7. April 1945: Der letzte Luftangriff auf Göttingen, Artikel vom 2. Juni 2010.
  29. Stadtarchiv Göttingen: Chronik für das Jahr 1945 (online)
  30. Martin Heinzelmann: Göttingen im Luftkrieg. Göttingen 2003, S. 51 f.
  31. Deutscher Städtetag: Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden. Braunschweig 1952, S. 383.
  32. Deutscher Städtetag: Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden. Braunschweig 1952, S. 382.
  33. Tobias Morchner, Heidi Niemann, Britta Bielefeld: Göttingen: Drei Menschen sterben bei Bombenexplosion. In: Göttinger Tageblatt. 1. Juni 2010, abgerufen am 12. August 2015.
  34. Göttingen: Bombensprengung erfolgreich – Prüfung auf Schäden läuft, in: RND.de vom 31. Januar 2021, abgerufen am 2. Februar 2021.
  35. Bernd Schlegel / Thomas Kopietz / Stefan Rampfel: Göttingen: Bombe entschärft - Details zu Evakuierung. In: HNA. 8. Oktober 2021, abgerufen am 11. Oktober 2021.

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