Linsenträger

Nogat-Brücke mit Linsenträgern über der Fahrbahn (kriegszerstört 1945)[1]

Der Linsenträger ist ein im Bauwesen verwendeter Träger mit der äußeren Form der seitlichen Ansicht einer doppelt konvexen Linse. Er ist häufig in Balkenbrücken als Abwandlung eines Fachwerkträgers mit geraden und parallelen Gurten zu finden. Bei ihm sind beide Gurte konvex gewölbt.[2] Linsenträger werden unter oder über der Fahrbahn angebracht. Letztere wird wegen der Krümmung der Gurte mit zusätzlichen Tragelementen am Träger befestigt.

In der Literatur wird gelegentlich auch der Fischbauchträger, bei dem nur der Untergurt konvex geformt ist, als Linsenträger bezeichnet.

Geschichte

Eine Zeichnung Leonardo da Vincis in seinem Codex Atlanticus ist wohl die älteste Darstellung eines Linsenträgers. Ein Jahrhundert später zeigte Fausto Veranzio in seinen Machinae Novae eine linsenförmige Bogenbrücke. Wieder zwei Jahrhunderte danach befasste sich Claude-Henri Navier 1826 theoretisch mit den Eigenschaften des Linsenträgers.[3] Zur praktischen Anwendbarkeit entwickelt wurde der Linsenträger vermutlich vom führenden Architekten des Königreichs Hannover Georg Ludwig Friedrich Laves Anfang des 19. Jahrhunderts.

Lavesbrücke im Welfengarten/Hannover mit flachem Linsenträger unter dem Fußweg

Linsenträger

Laves erstellte eine "unechte" Bogenbrücke, indem er dem oben liegenden Bogen einen unteren hinzufügte und beide an ihren Enden miteinander verband: «Während hierbei die untere Kette [der untere Bogen] das Ausweichen des oberen Bogens verhindert, widerstrebt der obere Bogen dem Zusammenziehen der Kette [des unteren Bogens], wodurch beide Kräfte neutralisiert werden und ein für sich bestehendes Ganzes erlangt wird, welches weder zieht noch schiebt, sondern senkrecht auf die Unterlagenpunkte wirkt oder drückt.»[4] Der auch Laves-Balken genannte, nur aufliegende Linsenträger ermöglichte den Bau weiter als bisher gespannter Balkenbrücken (nur vertikale Lagerkräfte). Diese Erfindung ließ er sich 1835 patentieren.[5][6] Er wandte sie bei der Stadtgrabenbrücke in Hannover und bei drei Brücken in Derneburg an. Es handelt sich um einen Fachwerkträger mit gewöhnlich zu einer horizontalen Achse symmetrisch angeordneten gekrümmten oder polygonal geformten Gurten mit größter Höhe in Trägermitte. Über den Auflagern vereinigen sich die Gurtungen.[2]

Pauliträger

Großhesseloher Brücke mit Pauliträger unter der Fahrbahn
(1908/09 durch Fischbauchträger ersetzt)
Mainzer Rheinbrücke mit Pauliträger über der Fahrbahn
(1911 durch Parabelträger ersetzt)
(c) sk01, CC BY-SA 3.0
Minamikawachi-Brücke in Japan

Die Weiterentwicklung des Linsenträgers erfolgte durch Friedrich August von Pauli, der sie bei der ersten, zwischen 1851 und 1857 gebauten Großhesseloher Brücke in München verwendete. Bei dem nach ihm benannten, äußerlich kaum vom Lavesträger mit parabelförmigen Gurten (s. a. Parabelträger) unterscheidbaren Pauliträger haben Ober- und Untergurte an allen Stellen die gleiche Spannung, sie können daher an allen Stellen mit dem gleichen Querschnitt ausgeführt werden.[7] Heinrich Gerber hat 1865 in einem Aufsatz den wichtigsten theoretischen Beitrag zur Berechnung von Paulis Konstruktionssystem beigetragen.[8][9] Von 1860 bis 1862 führte Gerber mit der Mainzer Rheinbrücke die größte Pauliträgerbrücke aus. Ab 1870 verlor das System immer mehr an Bedeutung, auch wenn Gustav Lindenthal noch 1881 bis 1883 nach diesem System die große Smithfield Street Bridge in Pittsburgh, PA erstellte.

Möglicherweise hat die Großhesseloher Brücke Isambard Kingdom Brunel beim Bau der Royal Albert Bridge beeinflusst, der jedenfalls mit Laves seit dessen Besuch in England bekannt war.

Literatur

  • Helmut Knocke: Laves-Balken In: Klaus Mlynek, Waldemar R. Röhrbein (Hrsg.) u. a.: Stadtlexikon Hannover. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Schlütersche, Hannover 2009, ISBN 978-3-89993-662-9, S. 389.
  • Karl-Eugen Kurrer: Deutscher Stahlbautag in Hannover, in: Stahlbau, 84. Jg. (2015), H. 2, S. 143–151.

Einzelnachweise

  1. Da die Bogenenden nicht spitz, sondern wie bei einer Ellipse etwa kreisförmig zusammen geführt sind, wird diese Form auch Ellipsenträger genannt.
  2. a b Otto Lueger (Hrsg.): Linsenträger, Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften. Bd. 6, Stuttgart, Leipzig 1908, S. 171. Auf Zeno.org
  3. Dirk Bühler: Die Eisenbahnbrücke Großhesselohe in ScienceBlogs des Deutschen Museums mit einer Darstellung der Entwicklung des Linsenträgers
  4. Laves, zitiert aus:in VSVI-Information, Zeitschrift der Vereinigungen der Straßenbau und Verkehrsingenieure in Niedersachsen und Bremen, Heft Nr. 3, Dezember 2009, Seite 14 (Memento vom 29. Dezember 2009 im Internet Archive)
  5. Günther Kokkelink: Laves, Georg Ludwig Friedrich. In: Neue Deutsche Biographie.
  6. Möglicherweise hatte er auf seinen Englandreisen George Stephensons Gaunless Bridge für die Stockton and Darlington Railway gesehen, die ähnlich konstruiert zu sein scheint.
  7. Otto Lueger (Hrsg.): Paulische Träger, Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften. Bd. 6, Stuttgart, Leipzig 1909, S. 54–56. Auf Zeno.org
  8. Heinrich Gerber: Die Berechnung der Brückenträger nach System Pauli. In: Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, ZDB-ID 200611-x, 1865.
  9. Ingenieurporträt in db-bauzeitung 6/02 (Memento vom 29. Dezember 2013 im Internet Archive)

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Südbrücke Mainz 1862.jpg
Die Eisenbahnbrücke über den Rhein, deren Bau 1860 den Anlaß zur Gründung von Werk Gustavsburg gab.
Nogatstrombrücken.tif
Eisenbahnbrücke über die Nogat in Marienburg, Westpreußen (Malbork), erbaut 1889-1892
Stromüberbauten als Linsenträger mit Mittelgurt, Ingenieure: Johann Wilhelm Schwedler, Georg Mehrtens
(erbaut als Ergänzung der parallel laufenden älteren Brücke, beide kriegszerstört)