Linguistische Synergetik
Die linguistische Synergetik (auch: synergetische Linguistik, sprachliche Synergetik) hat zum Ziel, das Zusammenwirken möglichst vieler Sprachgesetze in einem einheitlichen System vorzuschlagen und empirisch zu überprüfen. Soweit dies gelingt, kommt man zu einem neuen Konzept einer Sprachtheorie. Die linguistische Synergetik erfüllt damit ein zentrales Anliegen der von Gabriel Altmann geprägten neueren Quantitativen Linguistik. Ihrer Ausarbeitung hat Reinhard Köhler eine ganze Reihe von Arbeiten gewidmet.
Ein elementares Konzept
In einfachster Form stellt sich dieses Konzept als Köhlers Regelkreis dar, in dem folgende Zusammenhänge gelten: Je häufiger Wörter sind, desto kürzer sind sie;[1][2] je kürzer Wörter sind, desto mehr verschiedene Bedeutungen haben sie;[3]; je mehr verschiedene Bedeutungen Wörter haben, in desto mehr unterschiedlichen Texten kommen sie vor; in je mehr Texten Wörter vorkommen, desto häufiger sind sie auch insgesamt.[4] Hier schließt sich dieser einfache Regelkreis (Köhler & Altmann 1986). Dieses Grundmodell gilt nicht für einzelne Wörter, sondern immer nur für eine große, möglichst repräsentative Menge von Wörtern. Es ist inzwischen um etliche weitere Zusammenhänge angereichert worden (Köhler 1986; Hammerl 1991). So ist nachweisbar, dass die Wortlängen in einer Sprache vom Umfang ihres Phoneminventars abhängen.[5] Auch die semantischen Eigenschaften der Wörter (Polysemie, Synonymie) sind mit ihrer Länge verknüpft.[6] Es hat sich außerdem gezeigt, dass die Polysemie von Wörtern je nach ihrem Alter unterschiedlich ausfällt: Je älter Wörter sind, desto größer ist tendenziell ihre Polysemie.[7] Auch die Rolle der Sprachfunktionen, hier „Systembedürfnisse“ genannt, ist in das Modell einbezogen worden. Es hat sich in einer Vielzahl von Untersuchungen bewährt und konnte auch auf außersprachliche Gegenstände übertragen werden.
Beispiele für Regelkreise
Es sind mehrere Regelkreise entwickelt worden: Die Anwendung auf die deutsche (Köhler 1986) und die polnische Lexik (Hammerl 1991) wurde bereits erwähnt; in entsprechender Weise wurde die japanische Lexik bearbeitet.[8] Das Modell des Regelkreises konnte ferner auf die Morphologie übertragen werden.[9] Für den Bereich der Syntax hat Köhler (1999)[10] ein entsprechendes Konzept entwickelt. Neuerdings ist ein ähnlicher Regelkreis für die Silbe erstellt worden, in den unter anderen die Silbenhäufigkeit und -länge, die Wortlänge und die Häufigkeit von Silbentypen einbezogen sind.[11] Einen Regelkreis für die Einflüsse, die sich auf die Zahl der Silben auswirken, haben Zörnig & Altmann präsentiert.[12] Auch für die Schrift[13] und für musikalische Gegenstände lässt sich ein solcher Regelkreis erstellen.[14] Das Konzept hat sich damit als außerordentlich erfolgreich erwiesen.
Historisches
Als Vorläufer der modernen linguistischen Synergetik kann George Kingsley Zipf benannt werden, wie Prün (1999) ausführlich darlegt.[15] Im Anschluss an Köhler (1986) wurde in Bochum ein interdisziplinäres Forschungsprojekt „Sprachliche Synergetik“ begründet, aus dem unter anderem die Untersuchung von Hammerl (1991) hervorging.
Siehe auch
- Regelkreis
- Synergetik
- Quantitative Textanalyse
Literatur
- Karl-Heinz Best: Quantitative Linguistik. Eine Annäherung. 3., stark überarbeitete und ergänzte Auflage. Peust & Gutschmidt, Göttingen 2006. ISBN 3-933043-17-4, Seite 21f, 128–132.
- Rolf Hammerl: Untersuchungen zur Struktur der Lexik: Aufbau eines lexikalischen Basismodells. Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 1991. ISBN 3-88476-005-X.
- Karl-Heinz Best, Otto Rottmann: Quantitative Linguistics, an Invitation. RAM-Verlag, Lüdenscheid 2017. ISBN 978-3-942303-51-4, Seite 20f., 136–140.
- Gabriel Altmann, Dariusch Bagheri, Hans Goebl, Reinhard Köhler, Prün, Claudia: Einführung in die quantitative Lexikologie. Peust & Gutschmidt, Göttingen 2002. ISBN 3-933043-09-3, Kapitel: Selbstregulation und Selbstorganisation im Lexikon (Reinhard Köhler), Seite 167–178.
- Reinhard Köhler, Gabriel Altmann: Systemtheorie und Linguistik. In: Zeitschrift für Semiotik 5, 1983, Seite 424–431.
- Reinhard Köhler: Zur linguistischen Synergetik: Struktur und Dynamik der Lexik. Brockmeyer, Bochum 1986. ISBN 3-88339-538-2.
- Reinhard Köhler, Gabriel Altmann, Rajmund G. Piotrowski (Hrsg.) (2005): Quantitative Linguistik – Quantitative Linguistics. Ein internationales Handbuch. de Gruyter, Berlin/ New York 2005. ISBN 3-11-015578-8.
- Reinhard Köhler: Bibliography of quantitative linguistics. John Benjamins, Amsterdam 1995. ISBN 90-272-3751-4.
- Reinhard Köhler, Gabriel Altmann: Synergetische Aspekte der Linguistik. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 5, 1986, Seite 253–265.
- Edda Leopold: Stochastische Modellierung lexikalischer Evolutionsprozesse. Verlag Dr. Kovač, Hamburg 1998. ISBN 3-86064-856-X. (= Dissertation, Trier 1998.)
- Reinhard Köhler: Synergetic Linguistics. In: Reinhard Köhler, Gabriel Altmann, Rajmund G. Piotrowski (Hrsg.): Quantitative Linguistik – Quantitative Linguistics. Ein internationales Handbuch. de Gruyter, Berlin/ New York 2005, Seite 760–774. ISBN 3-11-015578-8.
Weblinks
- http://ubt.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2004/279/ – Aufsatzsammlung mit Beiträgen zur Linguistischen Synergetik
- http://wwwuser.gwdg.de/~kbest – Bibliographien und weitere Informationen zum Göttinger Projekt Quantitative Linguistik
- http://www.ldv.uni-trier.de/index.php? – Eigener Studiengang Quantitative Linguistik
Quellen
- ↑ Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 15. Februar 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Auf diesen Zusammenhang hat bereits Luzzatto 1836 mit seiner Legge della brevità hingewiesen in Samuel David Luzzatto: Prolegomeni ad una grammatica ragionata della lingua Ebraica. Cartallier, Padova 1836, S. 111: „Del resto la tendenza alla brevità agisce sulle singole parole in ragione della frequenza del loro uso nel parte quotidiano; onde avvienne che i vocaboli d'un uso più frequente sogliano essere in tutte le lingue i più accorciati e più anomali.“
- ↑ Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 2. April 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 2. April 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 2. April 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 30. Januar 2016 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. ; Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 24. Dezember 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. ; Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 24. Dezember 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. ; Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 2. April 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 2. April 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Haruko Sanada: Investigations in Japanese Historical Lexikology (Revised Edition). Peust & Gutschmidt, Göttingen 2008, ISBN 978-3-933043-12-2, Kapitel: Analysis of scolarly terms using Synergetic Linguistics theory, Seite 91–141.
- ↑ Andrea Krott: Ein funktionalanalytisches Modell der Wortbildung [A functional analytical model of word formation]. In: Reinhard Köhler (Hrsg.): Korpuslinguistische Untersuchungen zur Quantitativen und Systemtheoretischen Linguistik [Corpus-linguistic Investigations of Quantitative and System-theoretical Linguistics] (pp. 75–126). Elektronische Hochschulschriften an der Universität Trier 2004. See http://ubt.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2004/279/pdf/04_krott.pdf
- ↑ Reinhard Köhler: Syntactic Structures: Properties and Interrelations. In: Journal of Quantitative Linguistics 6, 1999, Seite 46–57.
- ↑ Emmerich Kelih: Die Silbe in slawischen Sprachen. Verlag Otto Sagner, München/Berlin/Washington D.C. 2012, ISBN 978-3-86688-256-0, Seite 150.
- ↑ Peter Zörnig, Gabriel Altmann: A model for the distribution of syllable types. In: Gabriel Altmann (ed.): Glottometrika 14. Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 1993, S. 190–196, Modell S. 191. ISBN 3-88476-081-5.
- ↑ Gabriel Altmann: Towards a theory of script. In: Gabriel Altmann, Fan Fengxiang (Hrsg.): Analyses of Script. Properties of Characters and Writing Systems. Mouton de Gruyter 2008, ISBN 978-3-11-019641-2, Seite 160.
- ↑ Reinhard Köhler, Zuzana Martináková-Redenková: A systems theoretical approach to language and music. In: Gabriel Altmann, Walter A. Koch (Hrsg.): Systems. New Paradigms for the Human Sciences. de Gruyter, Berlin/New York 1998, Seite 514–546.
- ↑ Claudia Prün: G.K. Zipf’s conception of language as an early prototype of synergetic linguistics. In: Journal of quantitative linguistics 6, 1999, Seite 78–84.