Lilli Jahn
Lilli Jahn, geb. Schlüchterer (* 5. März 1900 in Köln; † mutmaßlich 19. Juni 1944 in Auschwitz-Birkenau) war eine deutsche Ärztin jüdischen Glaubens und Opfer des Nationalsozialismus. Ihre Briefe gelten als wichtiges literarisches Zeitzeugnis.
Leben
Kindheit und Ausbildung
Lilli Jahn wurde als Lilli Schlüchterer, Tochter des wohlhabenden Kaufmanns Josef Schlüchterer im liberalen assimilierten jüdischen Milieu der Stadt Köln geboren. Ihre jüngere Schwester Elsa Schlüchterer kam ein Jahr später, am 2. Juni 1901, zur Welt. Die Familie wohnte in einer geräumigen Wohnung in der Kölner Bismarckstraße, besuchte kulturelle Veranstaltungen, wie Theater- und Musikaufführungen, und war uneingeschränkt ein Teil des gesellschaftlichen Lebens in Köln. 1907 führte die Verleihung der preußischen Staatsbürgerschaft zu einem weiteren Zeichen der sozialen Integration.[1] Für ihre Zeit erhielt Lilli eine für ein Mädchen sehr fortschrittliche Erziehung: 1906 wurde sie eingeschult und besuchte bis 1913 eine Privatschule für höhere Töchter. Danach wechselte sie auf das Realgymnasium der Kaiserin-Augusta-Schule, was zu der Zeit als ein Privileg angesehen wurde. 1919 machte sie das Abitur und studierte anschließend in Würzburg, Halle (Saale), Freiburg im Breisgau und Köln Medizin. Ihre ein Jahr jüngere Schwester Elsa studierte Chemie. Lilli Jahn kehrte 1924 nach Köln zurück, schloss ihr Studium mit dem Staatsexamen ab[1] und promovierte mit dem hämatologischen Thema Über den Gesamtschwefelgehalt des Blutes, insbesondere der roten Blutzellen.[2] Ihre Prüfer waren u. a. die Kinderärzte Ferdinand Siegert und Erwin Thomas sowie der Dermatologe Ferdinand Zinsser. Nach der bestandenen Prüfung arbeitete sie zunächst als Praxisvertretung sowie als Volontärin und ab 1925 als Assistenzärztin im Israelitischen Asyl für Kranke und Altersschwache in Köln.[2]
Heirat und Familiengründung in Immenhausen
Ihren Plan, eine Facharztausbildung zur Kinderärztin zu machen und sich in Halle niederzulassen, gab sie auf, als sie den gleichaltrigen evangelischen Arzt Ernst Jahn während ihres Studiums im Spätsommer 1923 kennenlernte[1] und ihn gegen die Einwände der Eltern 1926 heiratete. Nach der Trauung im August 1926 fuhren Lilli und Ernst auf Hochzeitsreise nach München, bevor sie gemeinsam nach Immenhausen zurückkehrten und eine Gemeinschaftspraxis besaßen[1]. Das ungleiche Paar – Ernst Jahn galt als grüblerisch und zaudernd, Lilli Schlüchterer als zupackend und lebensfroh – zog ins nordhessische Immenhausen, wo sie eine gemeinsame Hausarztpraxis eröffneten. Die fünf gemeinsamen Kinder Gerhard, Ilse, Johanna, Eva und Dorothea wurden evangelisch getauft und erzogen. In der nordhessischen Region verkehrten die Jahns mit den Honoratioren des Ortes. Der jüdische Glaube der beliebten Hausärztin, die regelmäßig die Synagoge in Kassel besuchte, war zunächst kein Thema.
Leben unter dem Nazi-Terror
Das änderte sich nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und der Ersetzung des SPD-Bürgermeisters durch ein NSDAP-Mitglied zunächst schleichend und durchaus nicht von der Mehrheit der traditionell sozialdemokratisch wählenden Immenhäusener Bevölkerung getragen. 1933 drang in Immenhausen die Sturmabteilung in die Häuser und Wohnungen und deportierten die Opfer in eine damalige Knopffabrik. Dort kam es zu schweren körperlichen Misshandlungen und Folterungen. Ernst Jahn wurde als Arzt für die Behandlungen der Opfer gerufen.[1]
Bis 1943 blieb Lilli Jahn relativ geschützt, da sie in einer sogenannten „privilegierten Mischehe“ lebte. Als Ärztin durfte Lilli Jahn allerdings nicht mehr arbeiten. Sie wurde zunehmend im Ort geschnitten und lebte weitgehend isoliert. Nur durch zahlreiche Briefe, die sie an Freunde und Verwandte schrieb, blieb sie mit der Außenwelt verbunden. Bald war Lilli Jahn die einzige Jüdin in Immenhausen. Lillis Schwester Elsa und ihre Mutter Paula – der Vater war bereits 1932 gestorben – konnten rechtzeitig nach England emigrieren.
Lillis Kinder, die nach nationalsozialistischer Terminologie als Halbjuden angesehen wurden, waren ebenfalls Konsequenzen ausgesetzt. Dadurch sind ihnen fast alle Berufs- und Lebenschancen genommen wurden. Die Ausschließung von sozialen und schulische Aktivitäten wurde normalisiert. Unter anderem wurde der Zutritt zu Jung-Gruppen abgelehnt und das Anziehen ihrer Schuluniform war ebenfalls nicht mehr gestattet.
Auch als einzig lebende Jüdin in Immenhausen, wurde Lilli der Zugang zu sämtlichen Veranstaltungen verboten. Dank ihrer Ehe mit einem protestantischen Arzt, musste sie den gelben Stern nicht tragen.[1]
Scheidung und Wiederverheiratung des Ehemannes
Die Situation änderte sich dramatisch, als Ernst Jahn sich in eine junge, nichtjüdische Ärztin verliebte, die 1942 in seinem Haus ein Kind von ihm bekam. Lilli Jahn assistierte ihrem Mann sogar bei der Entbindung. Im gleichen Jahr willigte sie, gegen den Rat von Freunden, in die von Jahn gewünschte Scheidung ein. Im November 1942 heiratete Ernst Jahn seine Geliebte, die mit dem gemeinsamen Kind nach Kassel zog, während er bei seiner „alten“ Familie in Immenhausen blieb.
Vertreibung aus Immenhausen
Im Juli 1943 wurde Lilli Jahn auf Betreiben des stellvertretenden Ortsgruppenleiters der NSDAP und Immenhausener Bürgermeisters Karl Groß aus dem Ort vertrieben und musste in eine Mietwohnung im von alliierten Bombenangriffen schwer bedrängten Kassel ziehen. Der 15-jährige Sohn Gerhard Jahn war zu dieser Zeit bei der Fliegerabwehr, der Vater zum Dienst in einem Militärlazarett eingezogen. Im Familienhaus wohnte jetzt die neue Frau Jahn mit ihrem Kind.
Inhaftierung in Breitenau
Ende August 1943 wurde Lilli Jahn denunziert – sie hatte auf dem Klingelschild das für alle Jüdinnen vorgeschriebene „Sara“ in ihrem Namen weggelassen, dafür aber den für Juden verbotenen Doktortitel belassen. Sie wurde von der Gestapo verhaftet, verhört und wegen Verstoßes gegen die Verordnung vom 17. August 1938 unter nie ganz geklärten Umständen in das Arbeitserziehungslager Breitenau bei Guxhagen südlich von Kassel überführt. Die minderjährigen Kinder blieben weitgehend auf sich allein gestellt. Lilli Jahn wurde zunächst als Zwangsarbeiterin im Zweigwerk Spangenberg der Pharmafabrik B. Braun Melsungen eingesetzt.[3][4] Nur einmal gelang es der Tochter Ilse, die bereits erheblich geschwächte Mutter während der Lagerhaft zu besuchen. Ob Ernst Jahn versuchte, das Leben seiner ehemaligen Frau durch Gesuche bei der zuständigen Gestapo in Kassel oder beim Reichssicherheitshauptamt in Berlin zu retten, ist bis heute nicht geklärt. Rettungsversuche befreundeter Mitglieder der Bekennenden Kirche in Kassel blieben erfolglos.
Deportation nach Auschwitz und Ermordung
Im März 1944 wurde Lilli Jahn mit einem Sammeltransport über Dresden nach Auschwitz deportiert. Vorher gelang es ihr noch, die Briefe ihrer Kinder aus Breitenau hinauszuschmuggeln: Sie gelangten in die Hände ihres Sohnes, der sie ohne Wissen seiner Schwestern bis zu seinem Tod 1998 aufbewahrte. Der letzte erhaltene Brief Lilli Jahns aus Auschwitz vom 6. März 1944 ist von fremder Hand geschrieben, nur die Unterschrift ist die ihre. Im September 1944 erhielten die Kinder in Immenhausen die Nachricht vom Tod ihrer Mutter.
Gedenken
1962 pflanzte Gerhard Jahn zwei Bäume zu Ehren seiner Mutter in Yad Vashem in Jerusalem. Lillis Großcousine und enge Freundin Lotte Paepcke überlebte die Nazizeit, wurde Schriftstellerin und erinnerte an Lilli 1952 in ihrer Autobiografie Unter einem fremden Stern.
Historiker der Universität Kassel pflegen die Erinnerung an die jüdische Ärztin. Seit 1992 steht in der heutigen Gedenkstätte Breitenau eine Vitrine mit Briefen und Erinnerungsstücken an Lilli Jahn. In Immenhausen wurde 1995 eine Straße, 1999 die örtliche Grundschule nach ihr benannt. In Guxhagen ist 2011 der Platz vor der ehemaligen Synagoge nach Lilli Jahn benannt worden.[5] Im Kasseler Stadtteil Vorderer Westen wurde der Platz vor der Adventskirche in Dr.-Lilli-Jahn-Platz umbenannt. Die Aufnahme eines Doktortitels in einen Straßen- oder Platznamen ist in Kassel nicht üblich. Hier wurde eine Ausnahme gemacht, weil die Nennung ihres Doktortitels auf dem Klingelschild zu der Verhaftung von Lilli Jahn beigetragen hat.[6] Auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Bocklemünd erinnert eine Inschrift auf dem Grabstein ihres Vaters Josef Schlüchterer an Lilli Jahn.[7]
Die Briefe
Nach dem Tod ihres Sohnes und späteren Justizministers der Bundesrepublik Gerhard Jahn 1998 in Marburg fanden seine Erben Kartons und Umschläge mit rund 250 Briefen der Kinder Lilli Jahns an ihre Mutter. Sie gelangten in die Obhut des Historikers und Spiegel-Redakteurs Martin Doerry, eines Sohnes von Lilli Jahns Tochter Ilse.
Der Enkel edierte eine Auswahl der Briefe an seine Großmutter, zusammen mit Briefen Lilli Jahns aus dem Besitz ihrer Töchter, den Brautbriefen Lillis an ihren späteren Ehemann Ernst Jahn sowie weiteren Dokumenten und Fotos. Mit kommentierenden und ergänzenden Texten erschienen diese Lebenszeugnisse 2002 unter dem Titel Mein verwundetes Herz. Das Buch wurde sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik ein großer Erfolg. Namhafte Literaten wie Eva Menasse, Martin Walser und Eva Rühmkorf bescheinigen vor allem den Briefen Lilli Jahns einen hohen literarisch-dokumentarischen Rang und stellen sie auf eine Stufe mit dem Tagebuch der Anne Frank und den Aufzeichnungen Victor Klemperers. 2003 erschienen Übersetzungen ins Spanische,[8] Katalanische,[9] Niederländische,[10] Dänische,[11] Italienische,[12] Finnische,[13] 2004 solche ins Englische,[14] Polnische,[15] Norwegische,[16] Französische,[17] Schwedische,[18] Portugiesische,[19] Ungarische,[20] und 2006 auch ins Hebräische, Japanische und Tschechische. Ein Hörbuch mit Sunnyi Melles, Beate Jensen und Martin Doerry als Sprechern war bereits 2003 herausgekommen.[21]
Literatur
- Lotte Paepcke: Ich wurde vergessen. Bericht einer Jüdin, die das Dritte Reich überlebte, Freiburg i. Br. 1979 (zuerst als Unter einem fremden Stern; Frankfurt am Main, 1952), darin viele Erinnerungen an Lilli Jahn
- Martin Doerry: Mein verwundetes Herz. Das Leben der Lilli Jahn 1900–1944; 2. Auflage, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart und München 2002, ISBN 3-421-05634-X. Als Hörbuch: 2 CDs (Lesung) mit Booklet; DAV – der Audio Verlag, Berlin 2003
Film
2002 drehte Carola Wittrock einen Dokumentarfilm über Lilli Jahn für den WDR.
Theater
Die Wiener Theaterregisseurin Nehle Dick erarbeitete zusammen mit der aus Kiel stammenden Schauspielerin Katrin Marie Bernet ein Ein-Personen-Stück, das unter anderem in Kiel, Wien und München gezeigt wurde.
Weblinks
- Literatur von und über Lilli Jahn im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Rezensionsnotizen zu Mein verwundetes Herz – Das Leben der Lilli Jahn 1900–1944. bei perlentaucher.de
- ZDF History: Die Geschichte der Lilli Jahn
- Eine Opfer-Biografie, kein Holocaust-Zeugnis. (Memento vom 23. August 2007 im Internet Archive). Kritische Anmerkungen zur Rezeption des Buches von Martin Doerry auf dem Server des Fritz Bauer Instituts, Herbst 2002.
- Die Briefe der Ärztin Lilli Jahn aus dem Lager Breitenau. (Memento vom 16. Juli 2014 im Internet Archive). Text zu einer Hörfunksendung des Hessischen Rundfunks, im Original publiziert auf hr-online.de vom 10. August 2012.
Belege
- ↑ a b c d e f Martin Doerry: Mein Verwundestes Herz. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart und München 2002, ISBN 3-421-05634-X.
- ↑ a b Barbara Becker-Jákli: Das jüdische Krankenhaus in Köln : die Geschichte des Israelitischen Asyls für Kranke und Altersschwache 1869 bis 1945. Emons, Köln 2004, ISBN 3-89705-350-0, S. 403.
- ↑ Gemeinde enthüllt Gedenktafel vor ehemaliger Synagoge. Auf: hna.de vom 10. November 2011
- ↑ Warum ist es nicht anders gekommen? Das Schicksal der Lilli Jahn (...). Rezension zu Martin Doerry: Mein verwundetes Herz auf leipzig-almanach.de vom 19. Februar 2003
- ↑ Die Lokalzeitung berichtete. Webseite der HNA. Abgerufen am 8. August 2013.
- ↑ Beschluss des Ortsbeirats vom 26. März 2014 zur Neubenennung eines Platzes nach Dr. Lilli Jahn auf der Internetseite des Vereins Kassel-West e.V.
- ↑ ZDF History: Die Geschichte der Lilli Jahn. ab Minute 42:00. Abgerufen am 4. Oktober 2017.
- ↑ Mi corazón herido: la vida de Lilli Jahn 1900–1944. Übersetzung Rosa Pilar Blanco. Taurus Madrid
- ↑ El meu cor ferit: biografia de Lilli Jahn, 1900–1944. Übersetzung Carme Gala. Columna Barcelona
- ↑ Mijn gewonde hart: het leven van Lilli Jahn, 1900–1944. Übersetzung Gerda Meijerink. Bezige Bij Amsterdam
- ↑ Mit sårede hjerte: Lilli Jahns liv 1900–1944. Übersetzung Astrid Heise-Fjeldgren. [København]: Aschehoug
- ↑ Lilli Jahn il mio cuore ferito: lettere di una madre dall'Olocausto. Übersetzung Roberta Zuppet. Rizzoli Milano
- ↑ "Haavoittunut sydämeni": Lilli Jahnin elämä 1900–1944. Übersetzung Veli-Pekka Ketola, Dingua. Espoo : Plataani Oy
- ↑ My Wounded Heart. Übersetzer: John Brownjohn
- ↑ Moje zranione serce. Übers. von Anna Kryczyńska. Warszawa: Muza
- ↑ Mitt sårede hjerte: Lilli Jahns liv 1900–1944. Übersetzung Eivind Lilleskjaeret
- ↑ A tout de suite, les enfants
- ↑ Mitt sargade hjärta
- ↑ Meu coração ferido
- ↑ "Megsebzett szívem"
- ↑ Eintrag der Hörbuchfassung im Katalog der DNB
Personendaten | |
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NAME | Jahn, Lilli |
ALTERNATIVNAMEN | Lili Schlüchterer |
KURZBESCHREIBUNG | deutsche Ärztin und Briefautorin |
GEBURTSDATUM | 5. März 1900 |
GEBURTSORT | Köln |
STERBEDATUM | 19. Juni 1944 |
STERBEORT | Auschwitz-Birkenau |
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Lilli Jahn - Grab auf dem Jüdischen Friedhof Köln-Bocklemünd (Flur 1)
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Stolperstein: Lilli Jahn (Bismarckstraße 29), Köln.
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der Stolperstein für Dr. Lilli Jahn vor dem Haus Lindenstraße 11 in Immenhausen