Gisant

Gisant [ʒiˈzɑ̃] (französisch „Liegender“, deutsch auch Liegefigur) ist der kunstgeschichtliche Fachterminus für die plastische Gestaltung eines liegenden Toten auf einem Sarkophag oder Kenotaph. Im indischen und ostasiatischen Kulturraum wurden bereits im 4./5. Jahrhundert der ins Nirwana eingegangene Buddha, aber auch der Hindu-Gott Vishnu-Narayana als Liegefiguren dargestellt.

Die Grabplatte Rudolfs von Schwaben (nach 1080) im Merseburger Dom ist die älteste figürliche Bronzegrabplatte des Mittelalters.

Geschichte

phönizischer Sarkophag aus Cádiz (5. Jh. v. Chr.)

Antike

Bereits auf etruskischen und römischen Grabmälern bzw. Wandmalereien werden Verstorbene liegend dargestellt, jedoch nicht als Tote, sondern in ähnlicher Weise wie bei einem Gastmahl (Symposion): Der Oberkörper ist auf einen angewinkelten Arm gestützt, der Kopf mit geöffneten Augen ist dem Betrachter zugewendet.

Die beiden anthropomorphen phönizischen Sarkophage aus Cádiz zeigen hingegen den Typus einer echten Liegefigur. Während der Kopf mit geschlossenen Augen vollplastisch gearbeitet ist, ruhen die als Flachrelief gearbeiteten Arme und Hände auf dem Körper.

Mittelalter

Der Ursprung der mittelalterlichen Liegefiguren (gisants) ist in der Forschung umstritten: Einige sehen antike Einflüsse, andere sind der Ansicht, die ältesten mittelalterlichen Exemplare lägen geographisch und ikonographisch viel zu weit von den wenigen erhaltenen antiken Darstellungen entfernt.

Frühestes bekanntes Beispiel einer mittelalterlichen Liegefigur ist das Grabmal des Gegenkönigs Rudolfs von Schwaben im Merseburger Dom (nach 1080), wo der Tote – wie aufrecht stehend – in einem Hochrelief aus Bronze und mit den Reichsinsignien in seinen Händen auf der Grabplatte dargestellt ist. Diesem vergleichbar ist die etwas spätere und künstlerisch entwickeltere Grabplatte des vermeintlichen Sarkophages für den Sachsenherzog Widukind in der Stiftskirche Enger (nach 1100).

Aus den frühen Reliefbildnissen entwickelt sich dann im Lauf der Zeit eine immer vollplastischer werdende Darstellungsweise.

Renaissance

Seit der Renaissance taucht der römisch-etruskische Typus wieder auf (vgl. Gisant des Philippe Chabot), bleibt jedoch gegenüber der mittelalterlichen Liegefigur auf Einzelfälle beschränkt.

Entwicklung

Gisants in liegender Haltung (Eleonore von Aquitanien und Heinrich II.) in der Abteikirche von Fontevraud

Die frühesten mittelalterlichen Gisants stellen die betreffende Figur noch so dar, als ob sie stünde (erkennbar u. a. am fehlenden Kopfkissen). Später wurden die geehrten Verstorbenen dann wie auf einem Bett liegend dargestellt, aber oft so als ob sie noch lebten (erkennbar an den geöffneten Augen oder an Tätigkeiten). Alle Toten dieser Epoche werden nicht im tatsächlichen Lebensalter zum Zeitpunkt ihres Ablebens, sondern in der Blüte ihrer Jahre gezeigt.

Bei frühen Darstellungen ruhen die Füße des Toten manchmal auf einer Steinplatte, dann auf einer Konsole oder einem Kissen; später ist oft ein Hund zu Füßen der Liegefigur zu sehen – er symbolisiert die eheliche Treue des oder der Verstorbenen. Bei Männern findet sich anstelle des Hundes häufig ein Löwe als Symbol der Stärke bzw. der weltlichen Macht des Toten.

Ab dem 14. Jahrhundert ließen sich die männlichen Verstorbenen auf ihren Sarkophagen in einigen Fällen auch in einer sehr realistischen Weise als gerade Entschlafener (z. B. mit eingefallenen Augen), als Verwesende oder gar als Skelett darstellen. Der französische Fachbegriff für eine derartige Darstellungsweise lautet transi – ein Begriff, der im Deutschen nur selten gebraucht wird. Bei Frauen ist diese Darstellungsweise unüblich.

Beispiele

Grabplatte Widukinds (nach 1100) in der Stiftskirche Enger

Deutschland

Zwei bedeutende Epitaphaltäre seien auch genannt:

Frankreich

Gisant Ludwigs von Sancerre in der ehemaligen Abteikirche und heutigen Kathedrale von Saint-Denis (15. Jh.)
Die Gisants des bretonischen Herzogs Franz II. und seiner 2. Ehefrau Marguerite de Foix zählen zu den schönsten ihrer Art.
Grabmal von François Michel Le Tellier de Louvois, Kriegsminister Ludwigs XIV. im Hôtel-Dieu von Tonnerre, Burgund

Katalonien

  • 13. Jahrhundert
    • Grabmal des Wilhelm de Jordan, Elne, Roussillon
  • 14. Jahrhundert

Spanien

Gisant von Tello Pérez de Meneses in der Kirche San Tirso in Sahagún

Portugal

Österreich

Liegefiguren Erzherzog Karls II. und seiner Gattin Erzherzogin Maria Anna von Bayern auf Kenotaph, Habsburger Mausoleum, Basilika Seckau

Belgien

  • 13. Jahrhundert
    • Gisant Thierrys II. († 1282), Église Ste-Catherine, Houffalize
    • Gisant der Sibylle von Lusignan († 1187), Schwester König Balduins IV. von Jerusalem, in Namêche
  • 16. Jahrhundert
  • 17. Jahrhundert
    • Marmor-Gisant des Propstes Conrad de Gavre († 1602) in der Basilika Saint-Martin in Lüttich
    • Gisants von Gillion-Othon de Trazegnies († 1669) und seiner Ehefrau Jacqueline de Lalaing, Kirche St. Martin, Trazegnies

England

Italien

Polen

Literatur

  • Barbara Tuchman: Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert. Claasen-Verlag, Düsseldorf 1980, ISBN 3-546-49187-4.
  • Mark Duffy: Royal Tombs of Medieval England. History Press, London 2003, ISBN 0-7524-2579-X.
  • Philippe Ariès: Bilder zur Geschichte des Todes. Hanser-Verlag, München/ Wien 1984, ISBN 3-446-13911-7.
  • Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden. Drei Masken Verlag, München 1924.
  • Françoise Baron: Le médecin, le prince, les prélats et la mort. L’apparition du transi dans la sculpture française du Moyen Âge Cahiers archéologiques, Numéro 51. Paris, Picard, 2006, S. 125–158.
  • Hans Körner: Grabmonumente des Mittelalters. Primus-Verlag, Darmstadt 1997, ISBN 3-89678-042-5.
  • Philippe Ariès: Geschichte des Todes. dtv, München 2005, ISBN 3-423-30169-4.
  • Kurt Bauch: Das mittelalterliche Grabbild. Figürliche Grabbilder des 11. bis 15. Jahrhunderts in Europa. De Gruyter, 1976, ISBN 3-11-004482-X.
  • Philippe Ariès: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland. dtv, München 1986, ISBN 3-423-04369-5.

Weblinks

Commons: Gisant – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien

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Tombe de Victor Noir au Père Lachaise, sculpted by Jules Dalou
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Grave of François Michel Le Tellier, Marquis of Louvois, French secreteray of State for war of Louis XIV. The grave is located in the Old Hospital (or Hôtel-Dieu) of Tonnerre (Yonne -Burgundy-France)
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Epitaph (romanisch, um 1100) am Grabmal des Widukinds in Enger, Kreis Herford, Nordrhein-Westfalen.
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Head and bust of the mannerist carved alabaster lying by Jacques du Broeucq (XVIth century) depicting a man dying - Mortuary chapel of the lords of Boussu in Boussu (Belgium).
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Basilika Seckau, Habsburger Mausoleum, Kenotaph: geharnischte Liegefigur Erzherzog Karls II. und Liegefigur seiner Ehegattin, Erzherzogin Maria Anna von Bayern
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Sarcófago antropoide masculino fenicio de Gades, hallado en 1887 en los astilleros de Cádiz y expuesto en el Museo de Cádiz (España). Siglo V a. C.
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Sepulcro gótico del siglo XIII, procedente del desaparecido monasterio de Trianos y recuperado del cementerio de Sahagún, hoy, en la iglesia de San Tirso de Sahagún (León, España)
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Gisant de François II, cathédrale de Nantes (France). Photo prise par Jibi44
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Johann III. von Trazegnies (†1550) und seine Frau Isabel von Werchin - Kirche des Heiligen Martin (Trazegnies)
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Grabplatte des Gegenkönigs Rudolf von Schwaben im Merseburger Dom. Dabei handelt es sich um die älteste Bronzegrabplatte Mitteleuropas. Sie war einst vergoldet und mit Edelsteinen ausgelegt.
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Houffalize (Belgium), Saint Catherine church - Lying of Thierry II de Houffalize in black limestone (13th century).