Lieblingsjünger

Der Lieblingsjünger des Jesus von Nazaret ist eine anonyme Gestalt aus dem Johannesevangelium. Er kommt in wichtigen Momenten der Passionsgeschichte vor, meist mit dem Ausdruck: „der Jünger, den Jesus liebte“. Wörtlich genommen, ergibt sich aus dieser Formulierung keine Sonderstellung gegenüber anderen Jüngern Jesu. Die Bezeichnung “Lieblingsjünger” ist also eine Deutung.

Als einziger Jünger am Fuß des Kreuzes ist er ein beispielhafter Gläubiger. Er wird mehrmals in Beziehung oder in Konkurrenz zu Petrus erwähnt (zum Beispiel Joh 21,2–20 ). Aus dem Evangelium geht jedoch nicht hervor, wer diese Person ist. Der Lieblingsjünger wird in der Tradition meist – wie auch der Verfasser des Evangeliums – mit dem Apostel Johannes identifiziert; es gibt jedoch eine Reihe anderer Identifikationsversuche, die zum Teil Personen außerhalb des Kreises der Zwölf Apostel betreffen.

In der Kunst wird der Lieblingsjünger oft jung und in besonderer Nähe zu Jesu dargestellt, hier im Beispiel beim Abendmahl auf Jesu Schoß sitzend (Hans Schäufelin, 1515).

Vorkommen im Evangelium

Obwohl im Johannesevangelium mehrfach erzählt wird, dass alle Jünger von Jesus geliebt werden (Joh 13,1 ; Joh 13,34 ), erhält der Lieblingsjünger eine hervorgehobene Position. Insgesamt fünfmal kommt der Begriff „der Jünger, den Jesus liebte“ vor. Im altgriechischen Text werden dabei zwei verschiedene Verben für „lieben“ verwendet, die sich in der deutschen Übersetzung nur bedingt differenzieren lassen: Viermal ἀγαπᾶν agapan „liebevoll aufnehmen, lieben, schätzen“ sowie einmal φιλεῖν philein „lieben, lieb haben, liebreich aufnehmen“.[1]

Joh 13,23–26 „μαθητὴν, ὃν ἠγάπα ὁ Ἰησοῦς“(während des Abschiedsmahls)
Joh 19,26–27 „μαθητὴν, ὃν ἠγάπα [ὁ Ἰησοῦς]“(während der Kreuzigung)
Joh 20,2–10 „μαθητὴν, ὃν ἐφίλει ὁ Ἰησοῦς“(bei der Entdeckung des leeren Grabes)
Joh 21,7 „μαθητὴς, ὃν ἠγάπα ὁ Ἰησοῦς“(Erscheinung des auferstandenen Jesus am See von Tiberias)
Joh 21,20 „μαθητὴν, ὃν ἠγάπα ὁ Ἰησοῦς“(Frage der Nachfolge Jesu)

Die beiden letzten Stellen befinden sich im Kapitel 21, das als redaktioneller Nachtrag zum bereits vorliegenden Evangeliumstext gilt. Im Anschluss an Joh 21,20 wird in Joh 21,24  das Zeugnis des Lieblingsjüngers hervorgehoben und mit Blick auf das ganze Evangelium festgestellt, dass er dieses geschrieben habe. Daraus ergibt sich die Tradition, der Lieblingsjünger sei auch der Verfasser des Evangeliums.

Theorien über den Lieblingsjünger

Seit langem wird in der biblischen Exegese über die Identität des Lieblingsjüngers diskutiert. Die Tradition sieht in ihm den Apostel Johannes, der gemäß den synoptischen Evangelien zusammen mit den Aposteln Petrus und Jakobus dem Älteren eine besondere Beziehung zu Jesus hatte (Mk 5,37 ; Mk 9,2 ; Mk 13,3 ; Mk 14,33 ; Mt 26,37 ; Lk 8,51 ; Lk 9,28 ). Da das Johannesevangelium in Joh 21,24  den Lieblingsjünger als seinen Verfasser identifiziert, wäre dann der Apostel auch identisch mit dem Evangelisten Johannes. Diese Identifizierung wird folgendermaßen begründet: Mehrere der Zwölf werden im Johannes-Evangelium häufiger erwähnt als bei den Synoptikern; ausgerechnet die Brüder Jakobus und Johannes werden nie namentlich erwähnt, obwohl sie mit Petrus zum Kreis der drei Vertrauten Jesu gehörten. Petrus wird mehrmals gemeinsam mit diesem “Jünger, den Jesus liebte”, erwähnt (d. h. Petrus kann es nicht sein). Es liegt nahe, dass sich diese Umschreibung auf Jakobus oder auf Johannes bezieht. Da Jakobus bereits um 42 getötet wurde, und kaum jemand vermutet, dass das Johannes-Evangelium bereits bis dahin geschrieben wurde, bleibt nur Johannes übrig.[2]

Andere Deutungen sehen im Lieblingsjünger einen der anderen Apostel oder eine symbolische, vom Evangelisten geschaffene Figur, die historisch nicht zu identifizieren sei. Der Ausdruck Lieblingsjünger kann auch als Prototyp eines Jüngers Jesu gesehen werden: Es ist die Person, die in persönlicher Freundschaft mit ihm lebt und sich bedingungslos von Jesus geliebt weiß. In diesem Sinne kann jeder zum Lieblingsjünger werden.[3]

Richard Bauckham bezieht sich auf Berichte von Papias von Hierapolis, Irenäus von Lyon und Polykrates von Ephesus und identifiziert den Lieblingsjünger mit dem Presbyter Johannes von Ephesus, der nach Polykrates ein jüdischer Hohepriester war, womit historisch ein Sohn oder Enkel des jüdischen Hohepriesters Hannas gemeint sein könnte.[4]

Rudolf Steiner erkannte im Lieblingsjünger den von Jesus auferweckten Lazarus.[5] Auch Reinhard Nordsieck vertritt eine solche Theorie.[6] Walter Simonis vermutet im Lieblingsjünger den Evangelisten Markus.[7]

Klaus Berger identifiziert den Lieblingsjünger mit dem Apostel Andreas.[8]

Literatur

  • Reinhard Nordsieck: Das Geheimnis des Lazarus. Zur Frage nach Verfasser und Entstehung des Johannes-Evangeliums. Lit, Berlin 2010, ISBN 978-3-643-10538-7, S. 1–20 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche)
  • Martin Hengel: Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch. Mit einem Beitrag zur Apokalypse von Jörg Frey. WUNT 67. Mohr, Tübingen 1993, ISBN 3-16-145836-2
  • Walter Simonis: Markus, der Evangelist und Jünger, den Jesus liebte. Frankfurt a. M. 2004, ISBN 3-631-52463-3
  • Peter Hofrichter: Jünger, den Jesus liebte (JohEv). In: Josef Hainz, Martin Schmidl, Josef Sunckel: Personen-Lexikon zum Neuen Testament, Patmos, Düsseldorf 2004, ISBN 3-491-70378-6, S. 169–171

Weblinks

Wiktionary: Lieblingsjünger – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Wilhelm Gemoll: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch. G. Freytag Verlag/Hölder-Pichler-Tempsky, München/Wien 1965.
  2. So erklärt z. B. von Armin D. Baum: Einleitung in das Neue Testament. Evangelien und Apostelgeschichte, Gießen 2017, S. 764–766, oder Wilhelm Michaelis: Einleitung in das Neue Testament, 1954, S. 97–101.
  3. Zenit-Ausgabe, 5. Juli 2006: Generalaudienz Papst Benedikt XVI. am 5. Juli 2006 (Memento desOriginals vom 22. Januar 2021 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/de.zenit.org. Abgerufen am 4. Feb. 2016.
  4. Richard Bauckham: Jesus and the Eyewitnesses, 2006.
  5. Rudolf Steiner: Das Johannes-Evangelium. Dornach 1995 = GA 103, S. 62–82.
  6. Reinhard Nordsieck: Johannes. Zur Frage nach Verfasser und Entstehung des vierten Evangeliums. Neukirchen 1998.
  7. Walter Simonis: Markus, der Evangelist und Jünger, den Jesus liebte. Frankfurt a. M. 2004.
  8. Klaus Berger: Im Anfang war Johannes. Quell Verlag, Stuttgart 1997, S. 96–106.

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