Lex de imperio Vespasiani

© José Luiz Bernardes Ribeiro, CC BY-SA 4.0
Bronzeinschrift des Vespasiangesetzes

Die Lex de imperio Vespasiani[1] ist das Antrittsgesetz des römischen Kaisers Vespasian, dessen Verabschiedung im Senat Tacitus auf den 22. Dezember 69 n. Chr. datiert.[2] Es stellt die wohl letzte lex im Sinne der republikanischen Gesetzgebungstradition dar[3] und ist in seiner zweiten Hälfte erhalten. Neben den Res Gestae Divi Augusti gilt das Dokument als eine der wichtigsten Inschriften der Römischen Kaiserzeit.

Der Text hat zwar bereits die äußerliche Form eines Senatsbeschlusses, wurde aber zugleich noch von der Volksversammlung als Gesetz beschlossen, bevor diese ihre Gesetzgebungskompetenz an den Senat und insbesondere den Kaiser verlor. In ihm wird dem Bürgerkriegssieger Vespasian eine Reihe von Vollmachten verliehen, die zusätzlich zu der von Augustus geschaffenen legalen Basis des Prinzipats die Kaiserwürde formal auf den neuen Herrscher übertragen sollte. Die überragende Machtstellung des Kaisers sollte dabei dem Anschein nach mit der republikanischen Ordnung vereinbar bleiben und basierte daher einerseits auf dem imperium proconsulare maius, d. h. der erweiterten Kommandogewalt über die Grenzprovinzen (die den Oberbefehl über die Mehrheit der Legionen einschloss), und andererseits auf der tribunicia potestas, also den erweiterten Rechten des Volkstribunen, die unter anderem das Vetorecht bei Senatsbeschlüssen beinhaltete. Die lex de imperio überträgt Vespasian überdies en bloc auch alle weiteren Sondervollmachten, die Augustus, Tiberius und Claudius verliehen worden waren.

Überlieferungsgeschichte

Die zweite Hälfte des Gesetzes ist auf einer Bronzetafel erhalten. Sie wurde 1347 in der Lateranbasilika entdeckt und von dem damaligen Machthaber der Stadt Rom, Cola di Rienzo, an die Öffentlichkeit gebracht, um dem Papst die verfassungsrechtliche Einschränkung seiner Macht zu demonstrieren. Heute ist sie in den Kapitolinischen Museen in Rom ausgestellt.

Lateinischer Text und Übersetzung (Auszug)

… foedusue cum quibus uolet facere liceat, ita uti licuit diuo Aug(usto), Ti. Iulio Caesari Aug(usto), Tiberioque Claudio Caesari Aug(usto) Germanico;
utique ei senatum habere, relationem facere, remittere, | senatus consulta per relationem discessionemque facere liceat, | ita uti licuit diuo Aug(usto), Ti. Iulio Caesari Aug(usto), Ti. Claudio Caesari | Augusto Germanico;
… es ihm erlaubt sein soll, ein Bündnis zu schließen mit wem er will, so wie es erlaubt gewesen ist dem vergöttlichen Augustus, dem Tiberius Julius Caesar Augustus und dem Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus;
und dass es ihm erlaubt sein soll, eine Senatssitzung abzuhalten, einen Antrag zu stellen und zurückzuweisen sowie Senatsbeschlüsse durch Antrag und Abstimmung durch Auseinandertreten zu verabschieden, so wie es erlaubt gewesen ist dem vergöttlichen Augustus, dem Tiberius Julius Caesar Augustus und dem Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus;

Einzelbestimmungen und Deutung

Vespasian (Ny Carlsberg Glyptotek, Kopenhagen)

Dass ein gleiches oder ähnliches Gesetzesbündel seit Amtsantritt des Tiberius oder des Caligula an alle Vorgänger verliehen worden war, wird aufgrund weitgehend eindeutiger Belege in der Historiographie in neueren Spezialuntersuchungen kaum noch bezweifelt. Das Gesetz als solches kann also kaum mit der fehlenden Legitimation des Begründers der noch unbekannten flavischen Dynastie gedeutet werden, wie in der Forschung häufig geschehen, allenfalls die öffentliche Ausstellung des Dokuments, die wohl zu dessen Erhaltung beitrug.

Da die einzelnen Klauseln jeweils mit der Wendung utique („dass [es ihm erlaubt sein solle...]“) eingeleitet werden, handelt es sich bei der Inschrift um einen Senatsbeschluss, an dessen Ende eine Sanctio (Strafausspruch bei Übertretung des Gesetzes) hinzugefügt wurde, die zeigt, dass der Senatsbeschluss (senatus consultum) in der Volksversammlung formal als Gesetz (lex) genehmigt wurde, ohne dass der ursprüngliche Wortlaut geändert wurde. In der Forschung sieht man darin einhellig ein Sinnbild der nur noch formal und ohne Gestaltungskraft tagenden Volksversammlung.

Die Mehrzahl der Klauseln enthält Amtsbefugnisse, die bereits seit Augustus in den beiden vom Kaiser permanent bekleideten Ämtern weitgehend eingeschlossen waren: Die Vertragsschließung mit äußeren Königreichen (Klausel 1) war Bestandteil des imperium proconsulare maius, des formalen Oberbefehls über die legionsstarken Grenzprovinzen. Das Recht der Einberufung, Durchführung und Beschlusskraft des Senates (Klauseln 2 und 3) war bereits in der tribunicia potestas enthalten, der erweiterten Amtsgewalt des Volkstribunen, durch die der Kaiser im zivilen und stadtrömischen Bereich herrschte. Warum diese Kompetenzen zusätzlich verliehen wurden, ist unklar. Es ist möglich, dass die republikanischen Amtsbefugnisse präzisiert und erweitert werden sollten.

Außerdem wird die von Augustus wohl noch durch allgemeinen Konsens ausgeübte Bevorzugung eigener Kandidaten bei der Vergabe der höchsten Staatsämter formal sanktioniert (Klausel 4). Die Möglichkeit zur Vergrößerung des Pomeriums, der sakralen Stadtgrenze von Rom, hatte wohl nur kultische, kaum praktische Funktion (Klausel 5). Der Kaiser sollte möglicherweise mit dem Stadtgründer Romulus in Verbindung gebracht werden, dem die ursprüngliche Festlegung des Pomeriums zugeschrieben wird.

Folgenreich und umstritten ist die Interpretation der Klauseln 6 und 7. Klausel 6, auch „diskretionäre Klausel“ genannt, übertrüge in ihrer wörtlichen Auslegung dem Kaiser die absolute Ermessensfreiheit, die mit der von Augustus geschaffenen Konstruktion des Prinzipats unvereinbar zu sein scheint (wörtliche Übersetzung etwa: „dass alles ihm zu tun und zu verordnen, was zum Nutzen des Staates und unter Achtung der göttlichen und menschlichen, öffentlichen und privaten Institutionen ihm gut scheinen mag, er das Recht und die Vollmacht hat, ebenso wie der vergöttlichte Augustus, Tiberius und Claudius“).

Es wird in der neueren Forschung daher eine einschränkende Funktion der formelhaften Wendungen der Klausel angenommen. Ein möglicher Ansatz ist, den Verweis auf die (zu dieser Zeit nicht der Auslöschung des Andenkens verfallenen) Amtsvorgänger in dem Sinne zu verstehen, dass Vespasian in Hinsicht der Ermessensfreiheit an diejenigen Gesetze gebunden war, die unter den Vorgängern beschlossen worden und noch gültig waren. Dann macht dieser Zusatz aber kaum Sinn bei den Klauseln 1,2 und 5, bei denen er sich ebenfalls angehängt findet (ebenso bei Klausel 7). Besonders das Recht auf Erweiterung des Pomeriums, das allein auf Claudius verweist, für den sich die Erweiterung des Pomeriums inschriftlich bestätigt, erscheint unter dieser Interpretation widersprüchlich. Eine andere Auslegung führt die Wendung „zum Nutzen des Staates“ auf Vorbilder in republikanischen Gesetzesinschriften zurück, die in diesem Kontext dem Amtsträger gewisse, jedoch eher unverbindliche Limitierungen vorschrieb.

Der erstgenannte Ansatz argumentiert hauptsächlich mit dem Wortlaut von Klausel 7, die Vespasian prinzipiell von der legislativen Gewalt von Senat und Volksversammlung unabhängig macht, jedoch nur im Bereich dessen, was unter den Vorgängern üblich war und ihm andersherum alle unter den Vorgängern beschlossenen Vorrechte in ihrer Gesamtheit überträgt. Sollten tatsächlich alle Sondervollmachten damit en bloc verliehen worden sein, so wäre die Auflistung selektiver Gesetze in der Inschrift überflüssig. Die Klausel ist daher auch eher als Aufforderung an den Kaiser, sich bei Ausübung der Gesetze an seine „guten“ Vorgänger zu halten, verstanden worden. Allerdings kann man die zusätzliche Nennung von Einzelkompetenzen auch mit der antiken Rechtstradition begründen, die anders als im modernen normativen Recht die wiederholte Aktualisierung bestehender Gesetze bei Relevanz vorsah.

Die abschließende („retroaktive“) Klausel bestätigt die Gültigkeit der Beschlüsse Vespasians vor Inkrafttreten des Antrittsgesetzes. Ihre Rückwirkung wird in der Regel auf den dies imperii Vespasians bezogen, dem Herrschaftsantritt des Kaisers, den Tacitus auf den Tag der Akklamation durch das Heer (1. Juli 69 n. Chr.), nicht, wie üblich, der Beschlussfassung des Senats datiert. Somit könnte diese Klausel nicht bereits in entsprechenden Antrittsgesetzen der Vorgänger enthalten gewesen sein. Es ist allerdings auch möglich, darin eine technische Vorschrift zur Überbrückung des Zeitraums zwischen Beschlussfassung im Senat und Gesetzgebung durch die Volksversammlung zu sehen, also überliefertes Recht.

Die genaue Interpretation des formelhaften, teilweise archaisierenden Textes ist auch deshalb schwierig, weil systematische Rechtssammlungen, die zum Vergleich dienen könnten, erst seit dem dritten Jahrhundert erstellt werden, und sich die formale Amtsgewalt des Kaisers entscheidend geändert haben dürfte. Von der Diskussion dieser Frage hängen nicht nur Einzelfragen der Regierungszeit Vespasians ab, sondern die verfassungsrechtlichen Vollmachten des Kaisers im frühen Prinzipat.

Literatur

  • Angela Pabst: „… ageret faceret quaecumque e re publica censeret esse“. Annäherungen an die lex de imperio Vespasiani. In: Werner Dahlheim (Hrsg.): Festschrift Robert Werner zu seinem 65. Geburtstag (= Xenia 22). Universitäts-Verlag Konstanz, Konstanz 1989, ISBN 3-87940-356-2, S. 125–148.
  • Luigi Capogrossi Colognesi, Elena Tassi Scandone (Hrsg.): La „Lex de imperio Vespasiani“ e la Roma dei Flavi. Atti del convegno, 20–22 novembre 2008 (= Acta Flaviana. Band 1). L’Erma di Bretschneider, Rom 2009
  • Peter Brunt: Lex de imperio Vespasiani. In: Journal of Roman Studies. Band 67, 1977, S. 95–116 (Grundlegender Artikel, wenngleich er nicht den letzten Stand der Forschung widerspiegelt).

Anmerkungen

  1. CIL 6, 930 = 31207 = Hermann Dessau, Inscriptiones Latinae selectae (ILS) 244.
  2. Tacitus, Historiae 4,3,3 (online).
  3. Christoph F. Wetzler: Rechtsstaat und Absolutismus: Überlegungen zur Verfassung des spätantiken Kaiserreichs anhand von CJ 1.14.8, (= Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen). Zugleich: Universität, Dissertation, Freiburg (Breisgau), 1995/96. Duncker und Humblot, Berlin 1997, ISBN 3-428-08968-5, S. 79 (FN 22).

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