Kritische Männlichkeit

Kritische Männlichkeit ist ein Oberbegriff für soziokulturelle Einstellungsmuster, Haltungen, Bewusstseinsgehalte bzw. Habitus von Männern, mit deren Hilfe Männlichkeit, männlich dominierte Ordnungen und die darin wurzelnde eigene männliche Identität kritisch reflektiert werden. Eine unkritische Haltung gegenüber Männlichkeit, Geschlechterverhältnissen und Geschlechterwissen wird ausdrücklich abgelehnt. Diese männlichkeitskritische Haltung fühlt sich feministischen Ansprüchen und Projekten verbunden, da anerkannt wird, dass diese Haltung ohne die Frauenbewegung und das feministische Projekt von Frauen- und Geschlechterforschung sowie geschlechterpolitische Aktivitäten von Frauen undenkbar wäre und in vielen Aspekten darauf zurückgreift.

Begriffsentstehung

Historische Entwicklung

Die systematische Kritik und Reflexion von Männlichkeit durch Männer selbst begann Ende der 1960er. Die zweite Frauenbewegung setzte die kritische Reflexion von Männlichkeit und Geschlechterverhältnissen auf allen Ebenen in Gang – wissenschaftlich, gesellschaftlich und persönlich. Erschüttert und beschämt von der Konfrontation mit den Folgen der eigenen Identitätsentwicklung bildeten sich Ende der 1960er bereits erste Consciousness Raising-Gruppen von linksalternativen Männern. Erstmals beschäftigten sich Männer in Männergruppen kritisch mit Männlichkeit. Daraus entwickelte sich eine kritische Männerbewegung, kritische Männerorganisationen und eine kritische Männer- bzw. Männlichkeitsforschung. Spätestens seit den Nullerjahren plädieren insbesondere Stimmen aus dem intersektionalen Feminismus dafür, Männlichkeit aus einer feministischen Perspektive kritisch zu hinterfragen.[1]

Begriff

Der Begriff Kritische Männlichkeit hat sich seit Ende der 2010er Jahre in Deutschland innerhalb der antisexistischen Männer- und Queerbewegung im akademischen und linksalternativen Milieu entwickelt. Er ist angelehnt an den Begriff der Kritischen Weißseinsforschung ("critical whiteness"). Die kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit erfolgt in Männergruppen, geschlechtergemischten Gruppen, bei Vorträgen und Seminaren, auf Online-Plattformen oder Websites. Dabei hat sich im Deutschen der Oberbegriff Kritische Männlichkeit entwickelt.[2][3][4][5][6][7][8]

Der Begriff ist aus der kritischen Reflexion von Männlichkeit seit den 1970ern entstanden. Wichtige Einflussfaktoren waren Frauenbewegung, Lesben- und Schwulenbewegung, Männerbewegung, Queerbewegung, Kritische Männer- bzw. Männlichkeitsforschung.

Theoretische Grundlagen

Zur kritischen Reflexion von Männlichkeit werden heute vor allem folgende theoretische Ansätze genutzt:[8]

Inhalte

Kritische Männlichkeit wird seit Ende der 2010er in geschlechtergemischten Gruppen, Männergruppen, bei Vorträgen und Seminaren, auf Online-Plattformen oder Websites diskutiert und beschrieben. Im Zentrum steht häufig die grundlegende Frage "Was ist kritische Männlichkeit?", doch eine konkrete Beschreibung oder Definition steht bislang noch aus.

In einer ersten wissenschaftlichen Arbeit wird kritische Männlichkeit in sieben Thesen beschrieben:[8]

  1. Eigene Antworten geben – Kritische Männlichkeit entsteht beim Mann erst durch die eigene Antwort auf einen fremden Gerechtigkeitsanspruch – etwa von Frauen, Kindern oder Queers.
  2. Verbundenheit mit Feminismus – Kritische Männlichkeit fühlt sich feministischen Gerechtigkeitsansprüchen und Projekten verbunden, da anerkannt wird, dass die selbstkritische Haltung ohne die Frauenbewegung und das feministische Projekt von Frauen- und Geschlechterforschung sowie geschlechterpolitische Aktivitäten von Frauen undenkbar wäre und in vielen Aspekten darauf zurückgreift.
  3. Profeminismus – Kritische Männlichkeit kann nur profeministisch praktiziert werden, jedoch ohne erneut zu bevormunden oder Frauen bzw. feministische Projekte unsichtbar zu machen.
  4. Ethischer und politischer Anspruch – Kritische Männlichkeit setzt sich mit fremden Gerechtigkeitsansprüchen auseinander. Dadurch wird es möglich, sich von der westlichen männlich-universalen Norm (Androzentrismus) und den damit zusammenhängenden Abwertungsmechanismen (Sexismus, Rassismus, Kolonialismus, Paternalismus etc.) zu distanzieren. Wir Männer stehen vor der gleichermaßen konkreten wie abstrakten ethisch-politischen Aufgabe, einen Beitrag gegen das intellektuelle und diskursive Erbe der europa-zentrierten männlich-universalen Norm zu leisten, die die Menschheit bis heute prägt.
  5. Gerechtigkeitsansprüche nicht gegeneinander ausspielen – Kritische Männlichkeit stellt sich dem Erbe männlich-univeraler Normsetzung und Politiken in der Geschichte Europas einschließlich des Herrschaftsprinzips des Unterteilens und Herrschens (divide et impera). So sollen beispielsweise Gerechtigkeitsansprüche nicht gegeneinander ausgespielt werden – etwa Verteidigung 'unserer' Frauen vor 'fremdländischen' Männern.
  6. Kritik ist kein Selbstzweck – Kritische Männlichkeit übt Kritik nicht als Selbstzweck, sondern um bestehende Ordnungen umzugestalten – von der Politik bis zur Pädagogik, von Theorien bis zu konkreten Handlungsweisen.
  7. Verantwortung für Umgestaltung – Kritische Männlichkeit ist in allen Bereichen der Gesellschaft verankert und tritt überall aktiv für eine gerechte Umgestaltung der Gesellschaft ein – von sozialen Bewegungen über Familie, Berufe, Kunst, Medien, Politik, Wirtschaft, Unternehmen und Verbände bis in die Wissenschaft.

Kritik

Kritik an Kritischer Männlichkeit, kommt zunächst aus feministischer Perspektive. Insbesondere die Effektivität solcher Praktiken wird in Frage gestellt: "Wenn Männer in Workshops und offenen Runden über Männlichkeit reden, bleibt die Auseinandersetzung oft selbstzentriert und konsequenzlos".[15] Insbesondere heißt es, dass Praktiken, die unter Männern stattfinden, "in der Regel im schlechten Sinne um sich selbst [kreisen]. Sie vermischen die notwendigen emotionalen Prozesse von Männlichkeitskritik mit ihrer Sehnsucht nach männlicher Identität und Gemeinschaft".[16] Neuere Ansätze fokussieren sich daher zunehmend auch auf zwischenmenschliche Praktiken als Form der Kritik.[17][18]

Literatur

  • Maximilian Waldmann: Queer/Feminismus und kritische Männlichkeit: Ethico-politische und pädagogische Positionen. Opladen 2019.
  • Martin Barner: Tools for Men-with-Feminist-Ambitions. sabotage L.A. publishing 2021.
  • Sebastian Tippe: Toxische Männlichkeit. Erkennen, reflektieren, verändern. Geschlechterrollen, Sexismus, Patriarchat, und Feminismus: Ein Buch über die Sozialisierung von Männern. Edigo 2021.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. hooks, bell.: The will to change: men, masculinity, and love. Washington Square Press, 2005.
  2. Markus Textor: Kritische Männlichkeit. Eine theoretische Hinführung zu einer praktischen Perspektive. 2017, abgerufen am 4. Januar 2021.
  3. Tasnim Rödder: Kritische Männlichkeit - Was ist das? „Ich denke, dass mich Männlichkeit persönlich einschränkt“. Hrsg.: Jetzt. 13. November 2019 (jetzt.de).
  4. DIE ZEIT (Hrsg.): Männlichkeit „Ich will in einer Gesellschaft leben, wo kuschelnde Männer okay sind“. Podcast mit Fikri Anil Altintaş. 7. Dezember 2020 (zeit.de).
  5. Jungle World (Hrsg.): Vorschläge für eine dauerhafte Männlichkeitskritik: Organisiert Männlichkeitskritik. 9. Juli 2020 (jungle.world).
  6. neues deutschland (Hrsg.): Männlichkeit »Ich habe gelernt, dass ich meine emotionale Sprachlosigkeit überwinden musste«. 23. Mai 2020 (neues-deutschland.de).
  7. Viktoria Mokrezowa: Interview „Die meisten Männer haben ein sado-masochistisches Verhältnis zur Männlichkeit“. In: Dossier: Im Fokus Maskulinität. Goethe-Institut Russland, 2019, abgerufen am 4. Januar 2021.
  8. a b c d Maximilian Waldmann: Queer/Feminismus und kritische Männlichkeit: Ethico-politische und pädagogische Positionen. Opladen 2019.
  9. Raewyn Connell: Masculinities. Cambridge 1995.
  10. Raewyn Connell: Der gemachte Mann: Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen 1999.
  11. Pierre Bourdieu: La domination masculine. Paris 1998.
  12. Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Frankfurt a. M. 2005.
  13. Luca di Blasi: Der weiße Mann. Ein Anti-Manifest. Bielefeld 2013.
  14. Edgar J. Forster: Unmännliche Männlichkeit. Melancholie, ‚Verausgabung‘, Geschlecht. Wien 1998.
  15. Organisiert Männlichkeitskritik. Abgerufen am 8. Juni 2021.
  16. »Auf den eigenständigen Männerstandpunkt ist kein Verlass«. Abgerufen am 8. Juni 2021.
  17. Martin Barner: Tools for Men-with-Feminist-Ambitions. 2. Auflage. sabotage L.A. publishing, Berlin 2021, ISBN 978-3-9823344-0-0.
  18. Sebastian Tippe: Toxische Männlichkeit. Erkennen, reflektieren, verändern. Geschlechterrollen, Sexismus, Patriarchat, und Feminismus: Ein Buch über die Sozialisierung von Männern. 1. Auflage. Edigo, 2021, ISBN 978-3-949104-01-5.