Konkretes Ordnungsdenken

Titelblatt der Erstauflage von Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (1934)

Konkretes Ordnungsdenken (bzw. Konkretes Ordnungs- und Gestaltungsdenken) ist ein von Carl Schmitt geprägter Terminus aus der Rechtslehre und wird von diesem als Ausprägung einer institutionalistischen Rechtstheorie im Sinne Maurice Haurious verstanden. Demnach sei „Recht nicht auf ein abstraktes Sollen normativer Setzungen bzw. Postulate oder auf arbiträre Entscheidungen gegründet, sondern in den dem dualistischen Auseinanderreißen von Sein und Sollen vorausliegenden konkreten Lebensordnungen und überpersönlichen Institutionen der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit.“[1]

Entstehung und Inhalt

Zum ersten Mal benutzt Carl Schmitt den Ausdruck in der von Reichsrechtsführer Hans Frank als Teil der Reihe „Schriften der Akademie für Deutsches Recht“ herausgegebenen Schrift Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens aus dem Mai 1934. Bei der Erstellung des Typoskriptes wurde Schmitt von seinem Schüler Günther Krauss unterstützt, der zeitweilig als Referent in der Reichsgeschäftsstelle des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund als Mitarbeiter Schmitts tätig war.

In der schmalen Schrift (67 Seiten) unterscheidet Schmitt drei grundlegende Typen des Rechtsdenkens:

  • Normativismus
  • Dezisionismus
  • Konkretes Ordnungs(- und Gestaltungs)denken.

Als Anliegen des Normativismus sieht Schmitt dabei die „Herrschaft des Gesetzes im Gegensatz zur Herrschaft von Menschen“.[2] In einer Fehldeutung des Wortes vom „Nomos basileus“ werde der „Nomos als König“ zum „Gesetz als König“. Verkürzt werde Recht als Norm bzw. Gesetz verstanden. Jedoch wiesen für das Recht essentielle Ausdrücke wie „König, Herrscher […] aber auch Richter und Gericht“ auf Ordnungen hin, „die nicht mehr bloße Regeln sind.“[3] Daher stoße der Normativismus bei der Erfassung des Phänomens „Recht“ an Grenzen und kann dieses nicht vollständig erklären. Für Schmitt führt der Normativismus zu einer Verstärkung des Gegensatzes von Sein und Sollen, da der Normativist immer nur an der Ordnung der geltenden Rechtsnormen, nicht aber an der dazu relativen Unordnung der Sachlage interessiert. Dies verknüpft Schmitt zudem mit antisemitischen Wendungen, indem er das normativistische Rechtsdenken mit der „Eigenart“ des jüdischen Volkes verknüpft, das auf formale Rechtssicherheit angewiesen sei.[4]

Kern des Dezisionismus ist für Schmitt „die Autorität oder Souveränitat einer letzten Entscheidung“.[5] Erst die Entscheidung des Souveräns stelle die Rechtsordnung her. Damit könne der Dezisionismus die Fragen nach der Rechtsanwendung und -geltung einer Antwort zuführen. Die Entscheidung selbst sei nicht ableitbar und entspringe „aus einem normativen Nichts und einer konkreten Unordnung.“[6] Schmitt sieht dabei die Gefahr, durch „die Punktualisierung des Augenblicks das in jeder großen politischen Bewegung enthaltene ruhende Sein zu verfehlen“.[7] Da das Entscheidungsdenken den Ursprung des Recht im Sollen verortet, sei auch dieses nicht dazu geeignet, den Spalt zwischen Sein und Sollen zu überwinden. Da sich die Entscheidung zudem negativ auf die Ordnung bezieht, indem sie eine Überwindung der Unordnung anstrebt, ist sie auf die Dimension der Ordnung angewiesen.

Mit dem konkreten Ordnungsdenken unternahm Schmitt eine Wendung gegen seine eigene dezisionistische Theoriebildung, ohne dabei seine antinormativistische Position aufzugeben. Zugleich wandte Schmitt sich gegen den Rechtspositivismus, den er als Mischtyp von Normativismus und Dezisionismus verstand. Diesem stellt Schmitt sein konkretes Ordnungsdenken gegenüber, in welchem Regel und Entscheidung keine eigenständige Bedeutung mehr zukommt, da sie in einem höheren Dritten „aufgehoben“ sind.

Hans Barion bemerkte in einem Schreiben an Ernst Forsthoff, er könne Schmitts „Abhandlung über die 3 Arten […] nicht so recht schätzen“ und bescheinigt Schmitt, dass er „ausnahmsweise flüchtig gearbeitet“ habe. So habe dieser „sein Wissen, seinen Stil und seine Assoziationsfähigkeit dazu benutzt, um die schwachen Stellen dieser Attacke zu verschleiern.“[8]

Das konkrete Ordnungsdenken als Mittel nationalsozialistischer Rechtsgestaltung

Carl Schmitt verweist insbesondere auf die Bedeutung der Generalklauseln als Einbruchstellen des Ordnungsdenkens in das positive Recht, um dieses umzugestalten. Dabei ist davon auszugehen, dass die „konkreten Ordnungen“ von nationalsozialistischer Prägung sein sollen. So fordert Schmitt ausdrücklich ein konkretes Ordnungs- und Gestaltungsdenken, „das den zahlreichen neuen Aufgaben der staatlichen, völkischen, wirtschaftlichen und weltanschaulichen Lage und den neuen Gemeinschaftsformen gewachsen ist.“[9] Zudem nimmt er in seine Überlegungen das Element der „Gestaltung“ auf, das als Ausfluss des Führerprinzips gedeutet werden kann. Das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken kann somit auch als Instrument der Legitimierung nationalsozialistischer Politik verstanden werden, wenngleich die Grundgedanken auch ohne nationalsozialistische Rahmung tragfähig scheinen, denn nach 1945 setzt Schmitt seine in „Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens“ begonnenen Überlegungen in seinem „Nomos der Erde“ fort, wo neben der auf Ordnung basierenden Definition des Rechts das Element der Gestaltung deutlicher herausgearbeitet wird.

Konkretes Ordnungsdenken und Naturrecht

Das konkrete Ordnungsdenken wird beschrieben als „neo-naturrechtliche Elemente“[10] enthaltend sowie als eine „Spielart des Naturrechtsdenkens[11]. Dabei ist unklar, inwiefern dies tatsächlich zutrifft, da Schmitt das Verhältnis zwischen Ordnungsdenken und dem dezisionistischen Element der Gestaltung nicht vollständig ausführt. Nicht zuletzt deswegen muss konstatiert werden, dass die „Lehre vom »konkreten Ordnungsdenken« immer ein bloßes Schlagwort geblieben war“.[12]

Konkretes Ordnungsdenken und Institutionenlehre

Ernst Forsthoff war davon überzeugt, dass dieser mit dem konkreten Ordnungsdenken „wesentliches von der Sache des institutionellen Denkens aufgegeben“ habe und rechnet es demnach nicht dem Institutionalismus zu,[13] denn es fehle „dem konkreten Ordnungsdenken […] die Beziehung auf das Moment der Dauer und die Orientierung an der Gebildehaftigkeit der Rechtserscheinungen, welche das besondere Merkmal des institutionellen Denkens bildet.“[14] Carl Schmitt selbst sah sein konkretes Ordnungsdenken zwar in der Tradition des institutionellen Denkens Maurice Haurious, lehnte den Institutionenbegriff jedoch ab, da dieser nicht zuletzt aufgrund seiner Herkunft aus dem Lateinischen „den Stempel einer bloß konservativen Reaktion gegen Normativismus, Dezisionismus und den aus beiden zusammengesetzten Positivismus des letzten Jahrhunderts“ trage; es habe „alle Nachteile und wenig von den Vorteilen eines Fremdwortes.“[15]

Literatur

  • Wolfgang Schild: „Das konkrete Ordnungsdenken als Methode der Rechtshistorie.“ In: Marcel Senn/Claudio Soliva (Hrsg.): Rechtsgeschichte & Interdisziplinarität. Festschrift für Clausdieter Schott zum 65. Geburtstag. Peter Lang, Bern u. a. 2001, ISBN 3-906767-55-8, S. 143–154.
  • Joseph H. Kaiser: Konkretes Ordnungsdenken, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.): Complexio Oppositorum, Duncker & Humblot, Berlin 1988, S. 319–331.
  • Ernst-Wolfgang Böckenförde: Art. Ordnungsdenken, konkretes in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 6, Schwabe Verlag, Basel/Stuttgart 1984, Sp. 1312–1315.
  • Vilmos Holczhauser: „Souveränität und konkrete Ordnung. Carl Schmitts Verhältnis zum Pluralismus.“ In: Dritte Etappe (1989), S. 31–42.
  • Bernd Rüthers: Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich. Zweite, verbesserte Auflage. C. H. Beck, München 1989, ISBN 3-406-32999-3, S. 54–74.
  • Agostino Carrino: „From Norm to Decision to the Concrete Order. The Legal-Philosophy of Carl Schmitt.“ In: Enrico Pattaro/Corrado Roversi (Hrsg.): Legal Philosophy in the Twentieth Century. The Civil Law World. (= A Treatise of Legal Philosophy and General Jurisprudence, Vol. 12). Springer Netherlands, Dordrecht 2016, ISBN 94-007-1478-5.
  • Klaus Anderbrügge: Völkisches Rechtsdenken. Zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, Duncker & Humblot Berlin 1978, ISBN 3-428-04084-8, S. 106–119.
  • Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hanseatische Verlagsanstalt, Hamburg 1934.
  • Frieder Günther: „Ordnen, gestalten, bewahren. Radikales Ordnungsdenken von deutschen Rechtsintellektuellen der Rechtswissenschaft 1920 bis 1960.“ In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59/3 (2011), S. 353–384.
  • Volker Neumann: „Vom Entscheidungs- zum Ordnungsdenken. Carl Schmitts Rechts- und Staatstheorie in der nationalsozialistischen Herausforderung.“ In: Hubert Rottleuthner (Hrsg.): Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus. (= Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 18). Steiner, Wiesbaden 1983, ISBN 3-515-04025-0, S. 152–162.
  • Jens Meierhenrich: „Fearing the Disorder of Things. The Development of Carl Schmitt’s Institutional Theory, 1919–1942.“ in Jens Meierhenrich/Oliver Simons (Hrsg.): The Oxford Handbook of Carl Schmitt. Oxford University Press, New York 2016, ISBN 978-0-19-991693-1, S. 171–216.

Einzelnachweise

  1. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Art. Ordnungsdenken, konkretes in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 6, Schwabe Verlag, Basel/Stuttgart 1984, Sp. 1312 f.
  2. Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 14.
  3. Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 15.
  4. Carl Schmitt: Nationalsozialistisches Rechtsdenken In: Deutsches Recht Vol. 4, S. 226.
  5. Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 25.
  6. Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 28.
  7. Carl Schmitt: Politische Theologie, Zweite Auflage 1934, S. 8.
  8. Hans Barion an Ernst Forsthoff, 5. Februar 1946, NL Forsthoff, zitiert nach Florian Meinel: Der Jurist in der industriellen Gesellschaft, Akademie Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-05-005101-7, S. 287, Fn. 295.
  9. Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 65 ff.
  10. Bernd Rüthers: Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1988, S. 65.
  11. Andreas Anter: Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen. 2. Auflage, Mohr Siebeck, Tübingen 2007, S. 195.
  12. Florian Meinel: Der Jurist in der industriellen Gesellschaft, Akademie Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-05-005101-7, S. 242.
  13. Ernst Forsthoff: Die Institutionen als Rechtsbegriff, 1947, NL Forsthoff, S. 19.
  14. Ernst Forsthoff: Die Institution als Rechtsbegriff. Zugleich ein Beitrag zur Soziologie des institutionellen Denkens, o. D. (1944/45), NL Forsthoff, S. 24 f., zitiert nach Florian Meinel: Der Jurist in der industriellen Gesellschaft, Akademie Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-05-005101-7, S. 287 f.
  15. Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 57.

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