Kollusion (Psychologie)

Kollusion (von lat. colludere ‚gemeinsam spielen, zusammenspielen‘) ist ein psychologischer Begriff für Verhaltensmuster in Beziehungen in der Paartherapie nach Henry Dicks mit Erweiterung auf die Familientherapie, aber auch auf Arbeits- und Therapiebeziehungen nach Jürg Willi. Generell geht es dabei um ein oft unbewusstes Zusammenspiel verschiedener Interessen in der Gestaltung der Beziehung. Pathologisch wird die Kollusion dann, wenn sie die Beteiligten nachhaltig zu Verhaltensweisen nötigt, die eine abweichende persönliche Entwicklung verhindern.

Angelehnt an den Begriff der Kollusion im Recht geht es um ein Zusammenspiel mehrerer Parteien zum Nachteil einer weiteren. Dies kann bewusst oder unbewusst erfolgen, Parteien können Gruppen oder Personen, aber auch einzelne Motive oder Muster innerhalb von Personen sein. Dabei erfolgt zwischen zwei Parteien ein abgestimmt wirkendes doppeltes Spiel mit der dritten Partei. In der Sozialpsychiatrie und Sozialpsychologie versteht man darunter allgemein ein wenig reflektiertes, oft unbewusstes, meist von den dabei zusammenwirkenden Akteuren selbst weitgehend uneingestandenes „Arrangement (Rollenverteilung, Interaktionsmuster, „Einvernehmen“) zweier oder mehrerer aktiv Beteiligter zum meist passiv erlittenen Nachteil einer dritten Partei.

Auch die bei diesem Spiel aktiv Beteiligten erleiden Nachteile infolge notwendiger Unaufrichtigkeiten. Die Kollusion erscheint Außenstehenden oft als fragwürdiges, nur oberflächlich abgestimmtes Zusammenspiel. Wird das geheime Zusammenwirken der aktiv Beteiligten offenbar, so wirkt es sich auch auf diese meist nachteilig aus. Das kollusive Verhalten kann auf lange Sicht, indem es sich mehr und mehr als ein falsches Spiel herausstellt und verfestigt, allen Beteiligten empfindlich schaden. Kollusion beruht vielfach auf fragwürdigen Machtpositionen oder Persönlichkeitskonstellationen zwischen den Partnern und verletzt zuweilen gesellschaftliche Regeln und Normen. Kollusive Aktivitäten sind zum Teil veranlasst und angetrieben durch unbewusste psychische Motive (siehe auch: Beziehungsmotiv) oder Konflikte, zum Teil auch bewusst und heimlich etabliert, um eigene Vorteile anzustreben; dann wird sie umgangssprachlich auch als „Durchstecherei“, in der Fachsprache als Abwehr bzw. als Arrangement bezeichnet. Die äußerlich übereinstimmenden Interessen können sich im weiteren Verlauf als widersinnig, kontraproduktiv oder selbstlimitierend erweisen.[1][2][3][4]

Gestörtes Beziehungsmuster

Bei Zweierbeziehungen hat Jürg Willi den Begriff Kollusion für Fälle geprägt, in denen die neurotischen Dispositionen beider Partner wie Schlüssel und Schloss zusammenpassen.[2] In diesen Fällen sind bestimmte zentrale Konflikte aus früheren seelischen Entwicklungsphasen beider Partner in ihrer Persönlichkeit nicht verarbeitet. Beide Seiten leben nun entgegengesetzte, sich zunächst aber ergänzende „Lösungsvarianten“ dieser inneren Konflikte aus. Die Partner spielen unbewusst füreinander oft klischeehafte und stereotype, wechselseitig komplementäre Ergänzungsrollen, um die Beziehung aufrechtzuerhalten. Ist einer der Partner z. B. sehr narzisstisch, will also bewundert werden, so stellt sich der andere oft darauf ein, indem er ihn bewundert und idealisiert; damit delegiert er durch eine Art von interpersonalem Abwehrmechanismus seinen eigenen ungelebten Narzissmus an den anderen, ein Teil von dessen grandiosem Abglanz fällt dann auch auf ihn.[5][6] Beim Zusammenleben in einem solchen kollusiven Arrangement nimmt häufig die Polarisierung der Rollen im Laufe der Zeit immer mehr zu, so dass die Konstellation für den einen oder anderen oder beide belastend werden kann, beispielsweise indem der eine Partner immer unselbständiger, der andere immer selbständiger und dominanter wird (siehe auch: Beziehungsmotiv).[2][7]

Psychologie und Soziologie

Kollusion oder doch wenigstens kollusionsähnliche Strategien findet man nicht nur bei Paaren und in Familien, sondern auch in größeren sozialen Verbänden und Gruppen. Das Konzept ist deshalb nicht auf die Paar- und Familientherapie beschränkt. Beispielsweise analysiert die Ideologiekritik ebenfalls kollusive Strategien. Auch die Kollusion im rechtlichen Sinne steht in engem Zusammenhang mit der im psychologischen Kontext. Stavros Mentzos hat den interpersonalen Begriff der Kollusion daher auf Abwehrmechanismen von Institutionen ausgedehnt und hierfür den Begriff des psychosozialen Arrangements geprägt.[3][8]

Die schillernde Bedeutung der Kollusion ergibt sich, weil die Normen im privaten und im öffentlichen Bereich auseinandergehen. Ein bestimmtes Milieu erfordert eine zugehörige Einstellung („Bereitstellung“). Von der unteren sozialen Einheit aus betrachtet, kann man die schwerpunktmäßig im Einzelpsychologischen auftretende Kollusion als einen gewissermaßen privaten Geheimbund auffassen, der zu einer gespaltenen Persönlichkeit führt, oder umgekehrt aus Sicht der höheren sozialen Einheit als die Quelle einer Intrige, welche die Öffentlichkeit betrifft.[9]

Abgrenzung

Die Kollusion ist im konkreten Fall begrifflich und diagnostisch schwer von Täuschung und bewusster Manipulation zu trennen. Da sie ein unbewusster Mechanismus ist, bleibt ihr Ziel den beteiligten Personen oft weithin oder ganz verborgen; ein Außenstehender erkennt in der Regel ihren Zweck besser.

In der Biologie gibt es verbreitete Mechanismen verwandter Art, siehe dazu Mimikry und Anpassungsfähigkeit.

Siehe auch

Literatur

  • Jean-Paul Sartre: Die Kindheit eines Chefs. Sammelband als Lizenzausgabe des Rowohlt Verlags, Reinbek 1983, Mohndruck Gütersloh, Buch Nr. 01826 7; Neuübersetzung folgend der 1981 erschienenen Neuausgabe der Erzählungen innerhalb der in der Bibliothèque de la Pléiade veröffentlichten Œuvres romanesques. Die eigentliche Erzählung mit dem Titel ›Die Kindheit eines Chefs‹ beginnt auf S. 149.[Anmerkung 3]
  • Jean-Paul Sartre: Huis clos. Gallimard, 1947, Collection folio 807, ISBN 9782070368075 und ISBN 2-07-036807-6; dt. Geschlossene Gesellschaft.[Anmerkung 2]
  • Jean Genet: Le balcon. Gallimard, Collection folio 1149, ISBN 9782070371495 und ISBN 2-07-037149-2, 153 Seiten.[Anmerkung 1]

Anmerkungen

  1. In dem Schauspiel Le balcon von Jean Genet kommt die Kollusion und ihre schillernde Widersprüchlichkeit spielerisch zum Ausdruck und damit die Gegensätzlichkeit der Darsteller in einer imaginären Handlung. Das deutlich erkennbare „falsche Spiel“ auf der Bühne, in dem herausragende gesellschaftliche Positionen wie die des Bischofs, des Richters und des Generals als Szenen in einem Luxusbordell dargestellt werden, kontrastiert mit der Erschütterung der äußeren Ordnung durch die in der Stadt tobende Revolution, die korrupte Machenschaften natürlich offen anprangert. Die Frage nach der inneren Widersprüchlichkeit der äußeren Ordnung verbindet sich mit den in unserer Phantasie vorhandenen unausgesprochenen Vorstellungen. Indem Phantasien und Realität verschmelzen zu einer Verstörtheit als Ausdruck einer beginnenden Reflexion über gesellschaftliche Widersprüche oder Tabus, wird der persönliche Standpunkt als Ort der Zuflucht deutlich.
  2. Die Dreiecksbeziehung wird in drei Personen veranschaulicht, die in einem unterirdischen Zimmer eingeschlossen sind und deren Wünsche, Befürchtungen und Ängste sich gegenseitig ausschließen, weil die entsprechenden Persönlichkeiten sich selbst keine Defizite eingestehen. Diese Selbsttäuschung und die phantasierte Kompensation durch einen idealisierten Partner eines jeden Einzelnen der drei Eingeschlossenen - zwei Frauen und ein Mann - wird jedoch von der jeweils dritten Person intuitiv als Feigheit erkannt und so ad absurdum geführt. Die erstrebte Kollusion ist nicht möglich. Die als moderne Mythologisierung beschriebene Handlung findet in einer als Unterwelt empfundenen Umgebung statt. Sie ist so als unbegrenztes Weiterleben nach dem bereits erlittenen Tod der Protagonisten aufzufassen. Die Moral des Stückes gipfelt in dem Satz: Die Hölle, das sind die anderen. (L'enfer, c'est les autres.)
  3. Die Erzählung hat Beziehungen zu Sartres Autobiographie Les Mots. Es wird eine mögliche entwicklungspsychologische Ableitung von emotional motivierten schädigenden Verhaltensweisen gegenüber humanistischen Wertvorstellungen als Grundlage von individuellen und gruppendynamisch vertretenen Herrschaftsansprüchen entworfen. Der Anhang enthält ausführliche weiterführende Literaturhinweise. Im Klappentext des Bandes wird ausgeführt, dass es sich in diesem Sammelband um Schilderungen von Grenzsituationen handelt.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ronald D. Laing: Das Selbst und die Anderen. 3. Auflage, Rowohlt Taschenbuchverlag Reinbek bei Hamburg, Dez. 1977, ISBN 3-499-17105-8; S. 63, 66, 84–98, 130 zu Stw. „Kollusion“; Originalausgabe Self and Others 1961 Tavistock, London.
  2. a b c Jürg Willi: Die Zweierbeziehung. Spannungsursachen / Störungsmuster / Klärungsprozesse / Lösungsmodelle – Analyse des unbewußten Zusammenspiels in Partnerwahl und Paarkonflikt: Das Kollusionskonzept. 1975, 1999 Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 31988, S. 115–119, 190, 174, 216 u. a. m.
  3. a b Stavros Mentzos: Interpersonale und institutionalisierte Abwehr. 1976, 1989 Suhrkamp, Frankfurt/Main.
  4. Uwe Henrik Peters: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. Urban & Schwarzenberg, München 31984; S. 304 zu Wb.-Lemma: „Kollusion“.
  5. Artikel zur Kollusionstheorie von J. Willi. IPSIS Institut für psychotherapeutische Information.
  6. Beziehungsmodelle: Kollusionskonzept. auf: beratung-therapie.de.
  7. Tamara Elmer Manneh: Beziehungsmuster in Paarbeziehungen auf der Grundlage Schematherapeutischer Konzepte. Klinische Psychologie, Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Masterarbeit, Mai 2011, S. 17–20.
  8. Stavros Mentzos: Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuerer Perspektiven. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt 1992, ISBN 3-596-42239-6; S. 256ff. zu Stw. „Delegation, psychosoziales Arrangement“.
  9. Carl Gustav Jung: Definitionen. In: Gesammelte Werke. Walter-Verlag, Düsseldorf 1995, Paperback, Sonderausgabe, Band 6, Psychologische Typen, ISBN 3-530-40081-5, S. 496f., § 800 zu Stw. „Hausengel – Gassenteufel“.