Kleptomanie

Klassifikation nach ICD-10
F63.2Pathologisches Stehlen (Kleptomanie)
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Kleptomanie (altgriechisch κλέπτεινkléptein „stehlen“ und μανίαmanía „Raserei, Wut, Wahnsinn“) ist ein Symptom aus der Gruppe der Impulskontrollstörungen. Kennzeichnend sind wiederkehrende Diebstähle ohne erkennbaren Nutzen oder Motiv. Weitgehend synonym sind Begriffe der Umgangssprache wie „zwanghaftes Stehlen“, „neurotisches Stehlen“ etc. Der Begriff stammt aus dem 19. Jahrhundert und wird heute von einigen Autoren und Autorinnen als veraltet und irreführend abgelehnt.[1]

Begriff

Der Begriff wird André Matthey zugeschrieben (Nouvelles recherches sur les maladies d’esprit, 1816);[2] er wurde von den französischen Psychiatern Charles Chrétien Henry Marc und Jean-Étienne Esquirol um 1830 aufgegriffen und zu der (heute verlassenen) Monomanielehre ausgebaut.[3]

Diagnose

Kennzeichnend ist, dass der Akt des Stehlens selbst den Antrieb bildet, nicht das Diebesgut, welches typischerweise nur geringwertig ist oder sogar nach der Tat weggeworfen wird.[4] Die psychische Spannung ist vor der Tat hoch und sinkt danach ab. Es gibt eine hohe Komorbidität mit Zwangsstörungen und affektiven Störungen.[5] Wie bei allen Impulsstörungen bestehen Impulse, gegen die kein Widerstand geleistet werden kann. Kleptomanische Diebstähle werden nicht begangen, um Ärger oder Wut abzureagieren. Die Diebstähle werden in der Regel als ich-dyston erlebt und ähneln diesbezüglich Zwangshandlungen. Häufig erleben die Patienten nachfolgende Schuldgefühle oder Depressionen.[6]

„Die Störung charakterisiert wiederholtes Versagen Impulsen zu widerstehen, Dinge zu stehlen, die nicht dem persönlichen Gebrauch oder der Bereicherung dienen. Stattdessen werden die Gegenstände weggeworfen, weggegeben oder gehortet. Dieses Verhalten ist meist mit wachsender innerer Spannung vor der Handlung und einem Gefühl von Befriedigung während und sofort nach der Tat verbunden.“

ICD-10-WHO Version 2016[7]

Häufigkeit

Kleptomanie ist eine seltene Störung. Die Prävalenz soll bei 6/1000 Einwohner liegen.[5] Nur etwa 5 % aller Ladendiebstähle werden durch Kleptomanie verursacht. 3/4 der Täter sind weiblichen Geschlechts. Bei etwa der Hälfte der Betroffenen liegt der Beginn vor dem 20. Lebensjahr.[6]

Behandlung

Die Behandlung der Kleptomanie erfolgt psychoanalytisch oder verhaltenstherapeutisch. Die kognitive Verhaltenstherapie setzt Methoden der Verdeckten Konditionierung, Aversionstherapie und Systematische Desensibilisierung ein.[8] Es gibt auch einen pharmakologischen Ansatz mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern oder Naltrexon, der jedoch bisher nicht evidenzbasiert ist.[9] Weitere Substanzen werden erprobt. Ein neurobiologisches Korrelat, welches sich therapieren ließe, ist bisher nicht gesichert, auch wenn Einzelfallberichte Schädigungen der Leitungsbahnen im Frontalhirn gezeigt haben.[10]

Bedeutung

Pathologisches Stehlen wird gelegentlich zur Begründung einer verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB oder auch herabgesetzter Verantwortlichkeit (§ 3 JGG) herangezogen. Da die im Gesetzestext genannte krankhafte seelische Störung in aller Regel eine der im DSM-IV gelisteten Achse-I-Störungen voraussetzt, kann Kleptomanie ohne Begleiterkrankung höchstens die Merkmale einer schweren anderen seelischen Störung erfüllen. Dazu ist allerdings die Diagnose „Kleptomanie“ keinesfalls ausreichend, vielmehr fordert die Rechtsprechung eine erhebliche antisoziale Persönlichkeitsstörung, die nur im Einzelfall unter Beurteilung der Tatmerkmale, des inneren Erlebens, der Komorbiditäten, Substanzgebrauch, Delinquenzanamnese etc. gutachterlich beurteilt werden kann.[11]

Literatur

  • Jean-Étienne Esquirol: Allgemeine und specielle Pathologie und Therapie der Seelenstörungen. Hartmann, Leipzig 1827.
  • Jean-Étienne Esquirol: Die Geisteskrankheiten in Beziehung zur Medizin und Staatsarzneikunde. Voß, Berlin 1838 (2 Bände).
  • Susanne Osburg: Psychisch kranke Ladendiebe. Eine Analyse einschlägig erstatteter Gutachten zur Schuldfähigkeit. Kriminalistik-Verlag, Heidelberg 1992, ISBN 978-3-7832-0292-2.
  • André Matthey: Nouvelles recherches sur les maladies de l’esprit précédées considérations sur les difficulté de l’art de guérir. Paschoud, Paris 1816.
  • Christoph Mundt: Kleptomanie. In: Christian Müller: Lexikon der Psychiatrie. Springer, Berlin 1986, ISBN 3-437-22900-1.
  • Tobias Müller: Störungen der Impulskontrolle – Alter Wein in neuen Schläuchen? In: Rolf Baer u. a. (Hrsg.): Wege psychiatrischer Forschung. Perimed, Erlangen 1991, ISBN 3-88429-390-7.
  • Hans-Ludwig Kröber: Kleptomanie oder die ganz normale Lust zu stehlen. Med.-Wiss. Verlag-Ges., 2013, ISBN 978-3-95466-066-7.

Einzelnachweise

  1. Hans-Jürgen Möller, Gerd Laux, Hans-Peter Kapfhammer: Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie: Band 1: Allgemeine Psychiatrie, Band 2: Spezielle Psychiatrie. Springer-Verlag, 2009, ISBN 978-3-642-03637-8, S. 1612 (google.com).
  2. Uwe Lindemann: Das Warenhaus: Schauplatz der Moderne. Böhlau Verlag Köln Weimar, 2015, ISBN 978-3-412-22534-6, S. 121 (google.com).
  3. Thomas Knecht: Pathologische Formen des Stehlens. Schweiz Med Forum 2006; 6, S. 694–698.
  4. Brigitte Vetter: Psychiatrie: ein systematisches Lehrbuch; mit 34 Tabellen. Schattauer Verlag, 2007, ISBN 978-3-7945-2566-9, S. 147 (google.com).
  5. a b Marc Allroggen: Praxishandbuch forensische Psychiatrie des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters: Grundlagen, Begutachtung und Behandlung. Med.-Wiss. Verlag-Ges., 2011, ISBN 978-3-941468-25-2, S. 304 (google.com).
  6. a b Dieter Ebert: Impulskontrollstörungen. In: Psychiatrie Psychotherapie Up2date. Band 2, Nr. 5. Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart / New York 2008, S. 321–336, doi:10.1055/s-2008-1067449.
  7. ICD-10-WHO Version 2016: F63.2 Pathologisches Stehlen [Kleptomanie] (Memento desOriginals vom 15. Mai 2017 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.dimdi.de
  8. Mayo Clinic (Nov. 2014): Kleptomania – Treatments and drugs. (abgerufen 1. Februar 2017)
  9. Michael Zaudig, Rolf Dieter Trautmann-Sponsel, Peter Joraschky: Therapielexikon Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie. Springer-Verlag, 2006, ISBN 978-3-540-30986-4, S. 391 (google.com).
  10. John E. Grant: Understanding and treating kleptomania: New models and new treatments. Isr J Psychiatry Relat Sci, Vol 43 No. 2 (2006), S. 81–87.
  11. Frank Häßler, Norbert Nedopil, Wolfram Kinze: Praxishandbuch Forensische Psychiatrie: Grundlagen, Begutachtung, Interventionen im Erwachsenen-, Jugendlichen- und Kindesalter. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Company KG, 2015, ISBN 978-3-95466-145-9, S. 109–112 (google.com).