Kleinbürger
Kleinbürger hießen ursprünglich jene Angehörigen des Bürgertums, die dessen unterster Schicht angehörten, wie Handwerker, kleine Kaufleute, Volksschullehrer u. Ä. als Gegenbegriff zum Großbürgertum. Heute wird mit dem Begriff laut dem Duden ein „Angehöriger des unteren Mittelstandes“ oder abwertend ein „Spießbürger“ beschrieben.[1]
Entstehung des Begriffs
Der Begriff „Kleinbürger“ scheint im 18. und 19. Jahrhundert entstanden zu sein. Adelungs Wörterbuch von 1811 kennt den Begriff nicht,[2] erst das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm und Nachfolger nennt ihn 1873.[3] Der dortige erste Nachweis von 1783 lautet: „in Königsberg heiszen die arbeiter so, im gegensatz der groszbürger“. Der Duden nennt als Herkunft: „ursprünglich (landschaftlich) = Arbeiter“. Das DWDS sieht die Herkunft 1830 bei Ludwig Börne, zuvor im 18. Jahrhundert gelegentlich als „Arbeiter“.[4]
Diese nüchterne soziale Scheidung erhielt in der Folge eine negative, moralische Komponente: Während sich der oft international tätige Großkaufmann und Großbürger schon aufgrund seiner Geschäftsbeziehungen eine weltläufige Denk- und Lebensweise beimaß, benutzte er den Begriff „kleinbürgerlich“ für eine beschränkte, nur auf die eigene kleine Welt bezogene Weltsicht des Tiefergestellten. Offenbar war diese Begriffsverschlechterung eine Folge der Abwertung des älteren Begriffs Spießbürger.
Marxistische Begriffsverwendung
In der marxistisch-leninistischen Terminologie werden mit „Kleinbürger“ Nichtproletarier benannt, die sich ohne festen Klassenstandpunkt der gerade herrschenden Klasse anpassen. Adjektivisch wird ideologisches Abweichen (auch von Proletariern) als „kleinbürgerlich“ bezeichnet.
Kleinbürger stehen – ökonomisch sowie vom Marxismus her gesehen – zwischen dem Lohnarbeiter und dem Kapitalisten (vgl. auch Marx’ Lohnarbeit und Kapital). Mit dem Lohnarbeiter haben sie gemein, dass sie von der eigenen Arbeit leben müssen, mit dem Kapitalisten, dass sie dabei ihre eigenen Produktionsmittel benutzen und ihr Arbeitsprodukt als ihnen selbst gehörende Ware verkaufen. In der Mehrheit handelt es sich dabei um Einzelarbeiter – wodurch allerdings Abgrenzungsprobleme zum Bauern, namentlich (in leninistischer Terminologie) zum „Mittelbauern“ entstehen.
Die Selbstabgrenzung der Kleinbürger gegenüber dem Proletariat sowie ihre fehlende Solidarisierung mit dessen kommunistischen Bestrebungen brachte den Kleinbürgern dann zusätzlich zur Verachtung der Höhergestellten auch noch die Ablehnung kommunistischer Publizisten wie Marx und Horkheimer ein – erschien ihnen dieses Sichabgrenzen doch als Hindernis einer Revolution in ihrem Sinne.
In seinem Kommunistischen Manifest schrieb Karl Marx 1848:
„In Deutschland bildet das […] Kleinbürgertum die eigentliche Grundlage der bestehenden Zustände.“[5]
Max Horkheimer notierte um 1960:
„Wir erleben es, daß die Klassen zerfallen […] Die Arbeiter in den Industriestaaten werden größtenteils miese Kleinbürger. Aber die Klassengegensätze bestehen weiter. Wie steht es mit der Ausbeutung? Die Tatsachen sprechen dafür, daß sie geringer geworden ist.“[6]
Ein paar Jahrzehnte später schreiben Metz/Seesslen, der Kapitalismus vernichte mit der Abschaffung der Privilegien für das untere und mittlere Segment des Kleinbürgertums die sozialen Grundlagen der Demokratie. Das Kleinbürgertum als Subjekt der Geschichte könne auch „zur Gefahr für alles und jedes“ werden.[7]
„Die Frage des Kleinbürgertums nimmt, wenn nicht eine zentrale Position, so doch einen wichtigen Platz in der Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft und in der des Klassenkampfes ein.“[8]
Literatur
- Annette Leppert-Fögen: Die deklassierte Klasse. Studien zur Geschichte und Ideologie des Kleinbürgertums. Fischer, Frankfurt am Main 1974, ISBN 3-436-01945-3.
- Dirk Jung: Vom Kleinbürgertum zur deutschen Mittelschicht. Analyse einer Sozialmentalität. Die Mitte, Saarbrücken 1982, ISBN 3-921236-40-1.
- Berthold Franke: Die Kleinbürger. Begriff, Ideologie, Politik. Campus, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-593-33908-0.
- Heinz-Gerhard Haupt, Geoffrey Crossick: Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts. Beck, München 1998, ISBN 3-406-43258-1.
- Thomas Althaus (Hrsg.): Kleinbürger. Zur Kulturgeschichte des begrenzten Bewußtseins. Attempto, Tübingen 2001, ISBN 3-89308-323-5.
- Heinz Schilling: Kleinbürger. Mentalität und Lebensstil. Campus, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-593-37250-9.
- Joska Pintschovius: Die Diktatur der Kleinbürger. Der lange Weg in die Mitte.[9] Osburg, Berlin 2008, ISBN 3-940731-04-8.
- Hans Magnus Enzensberger: Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums. Eine soziologische Grille. In: Kursbuch, 45, 1976, Rotbuch, Berlin, S. 1–8
- Georg Seesslen und Markus Metz: Wir Kleinbürger 4.0 - Die neue Koalition und ihre Gesellschaft. Klaus Bittermann Edition Tiamat Berlin 2021, ISBN 978-3-89320-282-9 (= Critica Diabolis 299)
Siehe auch
Weblinks
- Heinz Abels: Einführung in die Soziologie 2: Die Individuen in ihrer Gesellschaft (2009, Seite 310)
- Abstieg des Kleinbürgertums
- Kolumne von G. Seesslen in der taz zum Thema (2021)
Einzelnachweise
- ↑ Kleinbürger. duden.de, abgerufen am 22. Dezember 2014
- ↑ Angebot
- ↑ Kleinbürger. In: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch. Band 11: K – (V). S. Hirzel, Leipzig 1873 (woerterbuchnetz.de).
- ↑ Kleinbürger. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Abgerufen am 22. Dezember 2014
- ↑ Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. MEW, S. 64. Volltext
- ↑ Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Band 14. In: Nachgelassene Schriften 1949–1972. 5. Notizen. Gunzelin Schmid Noerr (Hrsg.): Die Aktualität von Marx und die Rettung von Marx. Frankfurt am Main 1988, S. 327–328.
- ↑ Georg Seesslen und Markus Metz: Wir Kleinbürger 4.0. Berlin 2021, S. 184; 260.
- ↑ Corrado Malandrino, Art. "Kleinbürgertum", in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Meiner Verlag, Hbg. 1990.
- ↑ Die Welt der Spießer Buchrezension von Sylke Tempel, Deutschlandfunk Kultur 6. Juli 2008
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