Kienle-Klangabstrahlung

Die Kienle-Klangabstrahlung (auch als Kienle-Klangsystem oder Kienle-Resonatorenorgel bezeichnet) wurde seit 1970 von Ewald Kienle entwickelt, um die für digitale Sakralorgeln verwendete Lautsprecherbeschallung zu ersetzen, die von vielen Kirchenbesuchern als unbefriedigend empfunden wird.

Abstrahlproblem digitaler Sakralorgeln

Oft stören Lautsprecher in Kirchen das ästhetische Gesamtbild, zumal sie aus klanglichen Gründen nur unzureichend verborgen oder kaschiert werden können. Insbesondere aber kann eine Lautsprecherbeschallung die klanglichen Eigenschaften einer Pfeifenorgel nicht wiedergeben, wie das lebendige, räumlich gestaffelte Klangbild, welches durch das Hin-und-her-Springen der Töne zwischen den entsprechend der Melodie gerade angeblasenen Orgelpfeifen entsteht, den hohen energetischen Wirkungsgrad oder die Tragfähigkeit der Töne im Raum, die auf der Resonanzwirkung im Pfeifenrohr beruht.

Auch der Rundstrahlcharakter der Orgelpfeifen kann durch eine Lautsprecherbeschallung nur sehr eingeschränkt erreicht werden, da Lautsprecher insbesondere zu höheren Frequenzen hin immer gerichteter abstrahlen. So werden in manchen Fällen mehrere Lautsprecher (halb-)kreisförmig nebeneinander angeordnet, um eine gleichmäßigere Abstrahlung zu erzielen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, einen Lautsprecher mit der Membran nach oben bzw. unten gerichtet anzubringen und durch einen darüber bzw. darunter angebrachten Kegel den Lautsprecherschall umzulenken (sog. Rundstrahler). Dies verbreitert zwar den Bereich gleichmäßiger Abstrahlung, kann das Problem gleichmäßiger Rundumbeschallung aber insbesondere dann nicht zufriedenstellend lösen, wenn sich Zuhörer auf unterschiedlicher Höhe zum abstrahlenden Gerät befinden.

Funktionsprinzip der Kienle-Klangabstrahlung

Schematische Darstellung der Anregung einer schwingenden Luftsäule in einer Orgelpfeife und im Resonator der Kienle-Klangabstrahlung (schwarze Pfeile: Anregende Luftbewegung; rot: Schwingungsverteilung im Rohr und Schallaustritt durch die Öffnungen)

Die von Ewald Kienle gefundene Lösung des Abstrahlproblems besteht darin, für die Klangabstrahlung zwar die Resonanzkörper der Orgelpfeifen zu verwenden, aber auf die aufwändige Luftstrom-Anregung der Orgelpfeifen zu verzichten. Stattdessen werden die Luftsäulen in den Resonanzkörpern mit Lautsprechern angeregt, was in ähnlicher Weise im Lautsprecherbau schon seit der Mitte des 20. Jahrhunderts bei den Transmissionline-Gehäusen angewendet wird.

In der nebenstehenden Abbildung werden die Schallerzeugungsvorgänge in einer Orgelpfeife und im Resonator der Kienle-Klangabstrahlung schematisch dargestellt. Bei der Orgelpfeife muss die für den Betrieb benötigte Luftströmung (schwarze Pfeile) erst in ausreichendem Maße erzeugt und von unten durch den Pfeifenfuß zugeführt werden. Die Luftströmung wird durch die Kernspalte gegen das Oberlabium gelenkt, wo sich Luftwirbel abwechselnd nach außen und nach innen ablösen.[1] Durch diesen Vorgang wird die Luftsäule im Rohr zum Schwingen angeregt. In der Abbildung ist exemplarisch die im Rohr entstehende Schwingungsverteilung des Grundtones mit roten Kurven dargestellt. Der Schwingungsknoten liegt auf der Höhe des Kurvenschnittpunktes, die Schwingungsbäuche befinden sich im Bereich der Öffnungen, durch welche auch der Hauptanteil des Schalls abgestrahlt wird. Beim Pfeifenresonator bzw. Resonatorrohr der Kienle-Klangabstrahlung erfolgen die Schwingung der Luftsäule und die Schallabstrahlung wie bei der Orgelpfeife. Die Anregung der Luftsäule im Rohr erfolgt jedoch durch einen kleinen Lautsprecher, der am unteren Ende des Resonatorrohres angebracht wird und durch das Hin-und-her-Bewegen seiner Membran für die anregende Luftbewegung sorgt.

Technische Vorteile der Lautsprecheranregung

Durch den Wegfall der Strömungsanregung wird der technische Aufbau einer Klangabstrahlung mit Orgeleigenschaften wesentlich vereinfacht. Insbesondere entfallen alle Anlagen und Vorrichtungen, die bei einer Pfeifenorgel die Luftströmung erzeugen und steuern müssen, und dadurch auch die damit verbundenen Installations- und Wartungsarbeiten. Klangliche Probleme, die durch schlecht steuerbare Strömungsphänomene[2] auftreten, können grundsätzlich nicht entstehen. Auch können Lautsprecher auf elektrischem Wege einfach und genau gesteuert werden. Dies ermöglicht es, in einem Resonator nicht nur ganz gezielt den Grundton, sondern auch einzelne Oberschwingungen im jeweils gewünschten Maße anzuregen. Dadurch können mit einer verhältnismäßig geringen Anzahl von Resonatoren die Klänge einer sehr großen Anzahl von Orgelpfeifen wiedergegeben werden, was zu einer deutlichen Reduzierung der benötigten Gesamtzahl von Abstrahlelementen führt, ohne dass ein erkennbarer Klangverlust auftritt. Während bei größeren Pfeifenorgeln mehrere Tausend, teils sogar mehr als 10.000 Orgelpfeifen benötigt werden, kommt die Kienle-Klangabstrahlung folglich mit deutlich weniger Resonatoren aus. Die derzeit größte Kienle-Klangabstrahlung in Tiflis besteht nach Angaben der Herstellerfirma aus nur etwa 600 Resonatoren, hätte aber auch mit halb so vielen Resonatoren ausgeführt werden können, wenn dies aus optischen und/oder Kostengründen gewünscht worden wäre. Die Kienle-Klangabstrahlung ermöglicht bei entsprechender Ausführung auch eine verhältnismäßig einfache Transportfähigkeit, welche beispielsweise dann vorteilhaft ist, wenn in einem unter Denkmalschutz stehenden Gebäude die feste Installation von Anlagen erschwert bzw. verboten ist.

Technische Ausführung der Kienle-Klangabstrahlung

Die Resonatoren der Kienle-Klangabstrahlung können sowohl als einfache Rohre mit Kreisquerschnitt (ohne Labium) ausgeführt werden als auch in Form von herkömmlichen Orgelpfeifen als „Pfeifenresonatoren“ (mit Labium, aber ohne Kern). Meist werden die Resonatoren für die Grundtöne der tieferen Frequenzen (unter 64 Hz) und die Resonatoren für die höheren Frequenzen (über 500 Hz) ohne Labium ausgeführt. Dabei muss nicht jeder Resonator von einem eigenen Lautsprecher angeregt werden. Die bei sehr tiefen Frequenzen arbeitenden Resonatoren mit einem Rohrdurchmesser von etwa 120 mm werden oftmals mit einer sogenannten Sammelanregung betrieben, die mit ein oder zwei Basslautsprechern fünf bis zehn Resonatoren gleichzeitig anregt. Bei hohen Frequenzen, bei denen die Rohrdurchmesser nur noch etwa 5–25 mm betragen, können mehrere Resonatoren über einem einzigen Lautsprecher positioniert werden.

Teilweise werden bei der Kienle-Klangabstrahlung anstelle der orgeltypischen Zinnpfeifen auch Resonatorrohre aus Zink oder Aluminium verwendet, aber auch nichtmetallische Materialien wie Acrylglas oder beschichtetes bzw. lackiertes PVC werden eingesetzt. Neben optischen Gründen und Kostengründen wird dabei auch ein Einfluss des jeweiligen Materials auf die Klangbildung berücksichtigt, da, wenn auch meist nur zu einem geringen Anteil, die Schallerzeugung durch Schwingungen der Pfeifen- bzw. Rohrwandungen mitbestimmt wird.

Die Kienle-Klangabstrahlung ist von der Herstellerfirma mit Patenten geschützt. Das erste Patent (DE000002924473C2) wurde 1979 angemeldet, das zur Zeit letzte Patent (DE102012109002B4) wurde im Jahre 2017 erteilt.

Einzelnachweise

  1. Vgl. zur Visualisierung der Luftwirbel in einer Orgelpfeife Reiner Janke: Der Einfluss von Kernstichen auf Klang und Luftblattströmung. URL: http://www.orgel-info.de/emden.htm, abgerufen am 13. März 2021.
  2. Steffen Bergweiler: Körperoszillation und Schallabstrahlung akustischer Wellenleiter unter Berücksichtigung von Wandungseinflüssen und Kopplungseffekten. Kapitel 8: Akustische Kopplung zweier benachbarter Orgelpfeifen. Dissertation, Universität Potsdam 2005 -> http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2006/656/pdf/bergweiler.pdf.

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Schematische Darstellung der Anregung einer schwingenden Luftsäule in einer Orgelpfeife und im Resonator der Kienle-Klangabstrahlung (schwarze Pfeile: Anregende Luftbewegung; rot: Schwingungsverteilung im Rohr und Schallaustritt durch die Öffnungen)