Kartographie (Syntax)

Kartographie ist in der Sprachwissenschaft eine Forschungsrichtung im Bereich der Syntax (also dem Teil der Sprachwissenschaft, der sich mit dem Aufbau von Wörtern zu größeren Einheiten befasst).

Grundgedanke der Kartographie ist, dass syntaktische Strukturen nach gewissen festgegebenen Mustern aufgebaut sind, die möglicherweise in allen Sprachen gleich sind. In anderen Worten: Der hierarchische Aufbau von Sprache ist nach Ansicht von syntaktischen Kartographen fest. Dieser, oft sehr feinkörnige, Aufbau wird als Karte bezeichnet. Die kartographische Syntax gilt als Teilbereich der Generativen Tradition der Sprachwissenschaft und gehört in den Bereich des Minimalistischen Programms. Als Begründer der Kartographie zählen unter anderem die beiden italienischen Sprachwissenschaftler Luigi Rizzi und Guglielmo Cinque.

Methodik

Der methodische Kern der kartographischen Syntax ist die sogenannte 'transitive Methode', die zunächst abstrakt, dann anhand eines Beispiels erläutert wird. Dabei werden zunächst zwei Elemente A und B miteinander in einer Struktur kombiniert. In der Regel neigen Sprachen dazu, eine Präferenz für eine Abfolge aufzuweisen, also z. B. AB, aber nicht *BA (wobei der Stern markiert, dass es sich um keine wohlgeformte Abfolge handelt). Danach wird eine weitere Kombination getestet, z. B. die Kombination der Elemente B und C. Nehmen wir an, es gilt BC, aber nicht *CB, so können wir darauf ableiten, dass auch AC gilt und nicht *CA (wenn A vor B kommt und B vor C kommt, so muss auch A vor C kommen). Dies kann anschließend getestet werden.

Dies lässt sich Deutschen z. B. anhand von Adjektiven zeigen. Kombinieren wir ein evaluatives Adjektiv, das eine subjektive Einschätzung eines Sprechers ausdrückt (z. B. schön) mit einem Adjektiv, das die Größe des Objekts abgibt (z. B. klein), so ergibt erhalten wir folgendes Resultat:

(1) a.  Ein schöner großer Ball.
    b. #Ein großer schöner Ball. '''Evaluativ > Größe'''

Aus den Daten in (1) geht hervor, dass die normale Abfolge von evaluativen Adjektiven und Adjektiven, die die Größe eines Referenten angeben Evaluativ > Größe ist. Zu beachten gilt, dass die Abfolge in (1b) nicht vollkommen ausgeschlossen ist. Sie ist nur markiert (etwas ungewöhnlich), weswegen sie mit einer Raute markiert wurde. Tatsächlich lässt sich diese Abfolge in gewissen Diskurssituationen sogar problemlos äußern, nämlich wenn das Adjektiv großer betont wird. Da sich durch eine solche Fokussierung fast jede Reihenfolge umkehren lässt, lassen wir sie jedoch hier außen vor. Unter normalen Umständen gehen evaluative Adjektive Größenadjektiven im Deutschen voran (obwohl dies hier nur am Beispiel zweier einzelner Adjektive getestet wurde, gilt dies für die ganze Klasse). Es handelt sich im Moment noch um eine schlichte empirische Beobachtung.

Nun testen wir eine weitere Klasse, z. B. Farbadjektive, und testen, ob wir Reihenfolgeeffekte hinsichtlich der Größenadjektive feststellen. Dies ist tatsächlich der Fall. Wie in (2) gezeigt, finden wir die Abfolge Größe > Farbe.

(2) a.  Ein großer blauer Ball.
    b. #Ein blauer großer Ball. '''Größe > Farbe'''

Kombiniert man nun die Erkenntnisse, so ergibt sich die Vorhersage Evaluativ > Farbe. Dies kann nun getestet werden:

(3) a.  Ein schöner blauer Ball.
    b. #Ein blauer schöner Ball. '''Evaluativ > Farbe'''

Es ergibt sich das folgende Bild:

Evaluative Adjektive > Größenadjektive > Farbadjektive

Tatsächlich gibt es zahllose andere Adjektivklassen, die sich ebenfalls relativ restriktiv in ihren Abfolgen gegenüber anderen Klassen verhalten. Ähnliche Beschränkungen gelten nicht nur für das Deutsche, sondern, soweit bekannt, für alle Sprachen der Welt. Es stellt sich nun die Frage, wie eine syntaktische Theorie solche Strukturen modellieren oder gar vorhersagen kann. In älteren Versionen der Generativen Syntax wurden Adjektive als sogenannte Adjunkte modelliert. Das Problem mit diesem Ansatz ist jedoch, dass Adjunkte per definitionem frei in eine Struktur einsetzbar sind. Eine Adjunktanalyse sagt entsprechend vorher, dass wir eben keine Abfolgeeinschränkungen finden sollten. Dies widerspricht allerdings den empirischen Gegebenheiten.

Kartographie des Satzes

In der kartographische Syntax geht man daher davon aus, dass diese Abfolgebeschränkungen fest in die Syntax einer Sprache eingebaut sind. Dies führt zu einer extrem reichhaltigen syntaktischen Struktur von der es wiederum zu erklären gilt, woher sie stammt.

Kartographische Strukturen werden nicht nur im Bereich der Adjektive angenommen, sondern auch auf Satzebene. Dies lässt sich wiederum an einem Beispiel illustrieren (das Beispiel stammt aus Bross & Hole 2017). Der, zugegebenermaßen etwas komplizierte Nebensatz in (4) zeigt die Abfolge von vier Kategorien an, die in vielen Sprachen der Welt zu finden sind.[1] Der Ausdruck ihr Fahrrad reparieren beschreibt den Vorgang, das Event, um den es im Satz geht. Danach folgt eine ability-Kategorie, die durch das Modalverb können zum Ausdruck gebracht wird. Paula, so vermutet die Sprecherin, war dazu in der Lage, ihr Fahrrad zu reparieren. Danach folgt das Hilfsverb haben, das (etwas vereinfacht dargestellt) der Tempusmarkierung dient und schließlich ein weiteres Modalverb, das ausdrückt, dass die Sprecherin dies vermutet (es handelt sich um ein sogenanntes epistemisches Modalverb).

(4) ... weil Paula ihr Fahrrad reparieren(event) gekonnt(ability) haben(tense) muss(epistemic).

Wiederum lässt sich feststellen, dass die Abfolge dieser Kategorien sehr strikt ist. Es ist nicht möglich, die Abfolge der einzelnen Elemente zu vertauschen, ohne einen ungrammatischen Satz zu erhalten. Das interessante an diesem Beispiel ist, dass sich das Deutsche wie ein Spiegelbild zu anderen Sprachen zu verhalten scheint. Dies lässt sich anhand des Englischen illustrieren. Der Satz in (5) ist eine Übersetzung des Satzes in (4).

(5) ... because Paula must(epistemic) have(tense) been able(ability) to repair her bike(event).

Wie am Beispiel zu sehen, ist die Anordnung der Kategorien exakt dieselbe wie im Deutschen, nur in umgekehrter Reihenfolge. Innerhalb der kartographischen Syntax werden solche Daten als Beleg herangezogen, dass Satzstrukturen sprachübergreifend fest gegliedert und nicht chaotisch oder zufällig sind. In der Kartographie wird also angenommen, dass alle Sprachen der gleichen Karte folgen. Wie diese ausgedrückt wird, kann allerdings variieren (z. B. von links nach rechts oder von rechts nach links).

Literatur

  • P. Benincà, N. Munaro: Mapping the Left Periphery: The Cartography of Syntactic Structures. Oxford University Press, 2011.
  • F. Bross, D. Hole: Scope-taking strategies and the order of clausal categories in German Sign Language. In: Glossa. A Journal of General Linguistics. Band 2, Nr. 1, 2017, S. 76.
  • G. Cinque, L. Rizzi: The Cartography of Syntactic Structures. In: STiL – Studies in Linguistics. 2, 2008, S. 43–59.
  • L. Rizzi, G. Bocci: Left Periphery of the Clause: Primarily Illustrated for Italian. In: M. Evenaert, H. van Riemsdijk (Hrsg.): The Wiley Blackwell Companion to Syntax. 2. Auflage. 2017, S. 2171–2200.
  • U. Shlonsky: The Cartographic Enterprise in Syntax. In: Language and Linguistics Compass. 4/6, 2010, S. 417–429

Einzelnachweise

  1. In der Generativen Grammatik werden für das Deutsche traditionall Nebensätze verwendet, um Daten für das Deutsche zu testen, da im Hauptsatz zahlreiche Verschiebungen möglich sind.