Kanonische Exegese

Die Kanonische Exegese (Kanonische Bibelexegese oder Kanonische Schriftauslegung) ist ein hermeneutischer Zugang zur Bibel, der die einzelnen Bibeltexte primär im Kontext des gesamten Bibelkanons interpretiert. Sie ist eine christlich-theologische Bibelexegese, die in Jesus Christus den Schlüssel der ganzen Bibel sieht und von ihm her den Bibelkanon in seiner geschichtlich-kirchlich gewordenen Gestalt als Einheit betrachtet. Dementsprechend interessiert sie sich weniger für die Entstehungsgeschichte der einzelnen Bibeltexte und das historische Umfeld, in dem sie geschrieben wurden, somit ist sie ein synchroner Bibelzugang. Die kanonische Exegese kann dennoch die Ergebnisse der diachronen historisch-kritischen Bibelexegese einbeziehen, deren eigentliche Methode gegenüber theologischen Bibelauslegungen nicht streng abgegrenzt ist. Durch die organische Verbindung beider Exegesen gründete Papst Benedikt XVI. eine neue Auslegungsrichtung (siehe „Ratzinger-Exegese“), die als eine diachrone Variante der kanonischen Exegese betrachtet werden kann.

Vertreter der Kanonischen Exegese

Die Kanonische Exegese wurde in den 1980er Jahren in den USA entwickelt, dort dezidiert als Gegenpol zur historisch-kritischen Methode. Daran beteiligten sich hauptsächlich zwei Theologen, die unterschiedliche Richtungen innerhalb dieses Bibelzugangs vertreten:

  • Brevard Childs, seine Richtung wird als „canonical approach“ bezeichnet, sie interessiert sich vor allem für die kanonische Endform der Bibeltexte.
  • James Sanders, Vertreter von „canonical criticism“ („Kanonkritik“), die sich mehr mit dem sog. „kanonischen Vorgang“ beschäftigt.

Im deutschen Sprachraum verwurzelte sich diese Exegese etwas später, ihre Hauptvertreter sind:

Merkmale

Dadurch, dass die synchrone kanonische Exegese die Bibeltexte im Ganzen der einen Schrift liest, werden alle einzelnen Texte in ein neues Licht gerückt, welche wiederum die Interpretation der gesamten Bibelkanon verfeinern. Mit den immer neueren Lesungen („Relectures“) der Heiligen Schrift wiederholt sich dieser Zyklus, so bildet sich eine hermeneutische Spirale, welche die postscriptuelle Schriftwerdung zuträgt.

Die Kanonische Exegese fragt nicht nach dem ursprünglichen Sinn der Bibeltexte, sondern nach deren Rezeption (Empfang) in der Glaubensgemeinschaft (dies hat gewisse Verbindung zur Rezeptionsästhetik der Literaturwissenschaft). Sie analysiert in dieser Interaktion die Elemente der Kanontexte, welche bei der Wahrnehmung und Gewichtung der vielfach miteinander verbundenen und verwobenen Texte auf die Lesenden lenkende Wirkung haben. Unter Einheit des Kanons wird demgemäß keineswegs irgendeine Vereinheitlichung der Bibel verstanden, sondern vielmehr eine „Kanonisierung“ ihrer Vielstimmigkeit.[1]

Bereits das Konzilsdokument Dei verbum des Zweiten Vaticanums (1965) bezeichnete die Achtung auf die Einheit der ganzen Schrift als ein Grundprinzip theologischer Exegese. Die Päpstliche Bibelkommission charakterisiert den kanonischen Zugang so: „Die Methode sucht jeden Text innerhalb des einzigen Planes Gottes zu situieren, um eine Aktualisierung der Heiligen Schrift für unsere Zeit anzustreben“.[2]

Verbindung mit der historisch-kritischen Methode

Die Studie Die Interpretation der Bibel in der Kirche (1993) der Päpstlichen Bibelkommission von Johannes Paul II., das auf Initiative und nach dem Entwurf des damaligen Kommissionspräsidenten Kardinal Joseph Ratzinger entstand, empfahl erstmals, den synchronen kanonischen Zugang zusammen mit der zum echten Bibelverständnis unverzichtbar bezeichneten diachronen historisch-kritischen Methode anzuwenden: „Dadurch soll die historisch-kritische Methode nicht ersetzt, sondern ergänzt werden.“[2]

Papst Benedikt XVI. entwickelte durch die Verbindung dieser beiden, lange als gegensätzlich geltenden, Bibelauslegungen seine ganzheitliche theologische Exegese („Ratzinger-Exegese“), die in seinem Werk Jesus von Nazareth (2007–2012) entfaltet und vor allem in dessen ersten Band beschrieben wird: „»Kanonische Exegese« – Lesen der einzelnen Texte der Bibel in deren Ganzheit – ist eine wesentliche Dimension der Auslegung, die zur historisch-kritischen Methode nicht in Widerspruch steht, sondern sie organisch weiterführt und zu eigentlicher Theologie werden lässt.“

Ratzinger betont, dass die Verbindung der zwei unterschiedlichen Hermeneutiken darum möglich sei, weil die eigentliche (Apriori freien) historisch-kritischen Methode „aus ihrem eigenen Wesen heraus über sich hinausweist und eine innere Offenheit auf ergänzende Methoden in sich trägt“. Zwar untersuche sie die Entstehungsgeschichte und den Anfangssinn der Bibeltexte als Menschenwort in seinem historischen Kontext, sie lasse jedoch die Frage nach der Inspiriertheit sowie Gegenwarts- und Zukunftsbezogenheit dieses vergangenen Menschenwortes zu: „Sie kann bei sorgfältigem Bedenken wohl den „Mehrwert“ erahnen, der in dem Wort steckt, eine höhere Dimension sozusagen durch das Menschenwort irgendwie hindurchhören […] Im vergangenen Wort wird die Frage nach seinem Heute vernehmbar …“ – somit eröffne die historische Methode ihre eigene Transzendierung. Ein weiteres Argument für die Zusammenfügung des kanonischen Zugangs und der historisch-kritischen Methode sei, so Benedikt XVI., dass die wissenschaftliche Methode über die Analyse der Einzelbücher hinaus auch die Entwicklungsgänge wahrnehme, in denen diese Texte auf die eine „Schrift“ zugehen. Gerade die moderne Exegese mache sichtbar, wie sich die Schriftwerdung der in der Bibel überlieferten Worte in immer neuen „Relectures“ zugetragen hätte: „Die alten Texte werden in neuer Situation neu aufgenommen, neu verstanden, neu gelesen. Im Neulesen, Fortlesen, in stillen Korrekturen, Vertiefungen und Ausweitungen trägt sich die Schriftwerdung als ein Prozess des Wortes zu, das allmählich seine innere Potentialitäten entfaltet, die irgendwie wie Samen bereitlagen, aber erst in der Herausforderung neuer Situationen, in neuen Erfahrnissen und Erleidnissen sich öffnet.“

Literatur

  • Hubert Frankemölle: Methodik und Hermeneutik. Anfragen an die „kanonische Exegese“. In: Thomas Schmeller (Hrsg.): Neutestamentliche Exegese im 21. Jahrhundert. Freiburg i. Br. 2008. S. 11–32.
  • Ruth Scoralick: Kanonische Schriftauslegung. In: Bibel und Kirche. Jahrgang 38 (2009), Heft 6, Seite 645–647.
  • Joseph Ratzinger – Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth – Band 1: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2007, ISBN 3-451-29861-9.

Einzelnachweise

  1. Ruth Scoralick, siehe Literatur
  2. a b Die Interpretation der Bibel in der Kirche, Studie der Päpstlichen Bibelkommission, Libreria Editrice Vaticana, 1993, deutsche Übersetzung von Lothar Ruppert und Adrian Schenker