Johannes Siegrist

Johannes Siegrist (* 6. August 1943 in Zofingen) ist ein Schweizer Medizinsoziologe und Hochschullehrer. Er war bis 2012 Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie an der Medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie Leiter des dortigen postgradualen Studiengangs Public Health. Von 2012 bis zu seiner Emeritierung 2021 hatte er eine Seniorprofessur für psychosoziale Arbeitsbelastungsforschung an der Medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf inne. Zusätzlich war er von 2012 bis 2017 Mitglied des Hochschulrats der Universität Düsseldorf.

Leben

Johannes Siegrist wuchs in der Schweiz auf und besuchte das Gymnasium in Aarau, das er 1963 mit dem Abitur verließ. Er studierte Soziologie, Geschichte und Philosophie an der Universität Basel. Da sein Lehrer, Professor Heinrich Popitz, 1964 einen Ruf an die Albert-Ludwig Universität Freiburg annahm, setzte er das Studium dort fort. Nach dem Magisterexamen 1967 schloss er 1969 das Studium mit einer Dissertation aus dem Gebiet der soziologischen Theorie als Dr. phil. ab[1]. Von 1969 bis 1971 war er wissenschaftlicher Assistent an der Abteilung für Medizinische Soziologie und Sozialpsychologie der Universität Ulm, danach in gleicher Funktion an der Albert-Ludwig Universität Freiburg, wo er 1973 für das Fach Soziologie habilitierte. Von 1973 bis 1992 war er Professor für Medizinsoziologie im Fachbereich Humanmedizin der Philipps-Universität Marburg. 1992 wurde er an die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Medizinische Soziologie, berufen. Zugleich wurde er mit der Geschäftsführung des Postgraduierten-Studiengangs Public Health betraut. Johannes Siegrist hatte weiterhin Gastprofessuren an der Johns Hopkins University in Baltimore, USA, am Institut für Höhere Studien in Wien und an der Universität Utrecht inne. Nach Beendigung der Seniorprofessur 2021 wurde er emeritiert.

Wissenschaftliche Leistungen

Soziale Determinanten der Gesundheit: das Modell beruflicher Gratifikationskrisen

International bekannt wurde Siegrist durch das von ihm und seiner Arbeitsgruppe entwickelte theoretische Modell der beruflichen Gratifikationskrise[2][3]. Dieses Konzept zur Erklärung stress-assoziierter physischer und psychischer Erkrankungen postuliert nachhaltige negative emotionale und psychobiologische Auswirkungen von Erfahrungen enttäuschter Belohnung nach erbrachter beruflicher Leistung (Bezahlung, Arbeitsplatzsicherheit, Aufstieg, Anerkennung). Verstöße gegen das grundlegende Prinzip sozialer Reziprozität sind im Erwerbsleben häufig, insbesondere bei Beschäftigten ohne Arbeitsplatzalternative und geringer Qualifikation, aber auch in hoch kompetitiven Berufen. Umfangreiche Studien haben diese Hypothese zur Vorhersage erhöhter Risiken depressiver Störungen, koronarer Herzkrankheiten, metabolischer Erkrankungen und weiterer Indikatoren eingeschränkter Gesundheit gestützt (siehe unten Publikationen, siehe auch: Krankheitsmodell).

Entwicklung der Subdisziplin Medizinsoziologie in Deutschland

Mit einer Neuordnung des Medizinstudiums im Jahr 1970 wurden erstmals die beiden Subdisziplinen der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie als Prüfungsfächer in das Medizinstudium in Deutschland eingeführt. Die Etablierung der Medizinischen Soziologie an medizinischen Fakultäten war ein schwieriger Prozess. Siegrist leistete hierzu wichtige Beiträge, u. a. als Autor eines während vieler Jahre maßgeblichen Lehrbuchs[4], als Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie[5] und als Mitglied der für bundeseinheitliche Prüfungen zuständigen Sachverständigenkommission. Unter seiner Leitung wurden mehrere Nachwuchskräfte habilitiert. Als Mitbegründer und zeitweiliger Präsident der Europäischen Gesellschaft für Gesundheits- und Medizinsoziologie wirkte er an der Integration der nationalen Entwicklung in den europäischen Kontext mit.

Wissenstransfer zu gesundheitsfördernder Arbeit

Durch seine Mitarbeit an internationalen Kommissionen und Berichten zur Stärkung gesundheitsfördernder Arbeit (WHO[6][7], OECD[8], Großbritannien[9]) hat Siegrist die Umsetzung wissenschaftlicher Evidenz in gesundheits- und gesellschaftspolitische Empfehlungen unterstützt. Zuletzt richtete sich sein Fokus auf die Implementierung des nachhaltigen UNO-Entwicklungsziels gesundheitsfördernder Arbeit in universitäre Aus- und Weiterbildungsprogramme entsprechender Professionsgruppen[10][11]. Diesem Ziel dient auch seine Funktion als Mitherausgeber der Handbuchreihe „Occupational Health Sciences“ seit 2020[12]. Auf nationaler Ebenso trug Siegrist zur öffentlichkeitswirksamen Verbreitung des Themas durch vielfältige Publikationen und durch Initiativen bei, die im Rahmen seiner Mitgliedschaft in der Kommission „Demographischer Wandel“ der Leopoldina realisiert wurden[13].

Wissenschaftliche Auszeichnungen

Mehrere nationale und internationale Auszeichnungen wurden Johannes Siegrist zuteil, u. a. als Mitglied der Academia Europaea (London, 2000), Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (2004), Präsident der International Society of Behavioral Medicine (1996–1998), Direktor des Scientific Program on Social Variations in Health Expectancy in Europe, European Science Foundation, (1999–2003). 2004 erhielt Siegrist den Forschungspreis der European Society for Health and Medical Sociology.

Forschungsförderung seitens der Tabakindustrie

In den 1980er Jahren hat Siegrist einen Teil seiner Forschungsarbeiten über Drittmittel von der Tabakindustrie finanzieren lassen. Dies wurde in einem Artikel des Magazines der Spiegel kritisch thematisiert. (Siehe dazu den Artikel Geheime Gesandte von Udo Ludwig im Spiegel Ausgabe 23/2005:[14]). Eine Stellungnahme zu dieser Kritik findet sich auf der Homepage des Instituts für Medizinische Soziologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.[15]

Weblinks

Quellen

  1. Siegrist J (1970): Das Consensus-Modell. Studien zur Interaktionstherapie und zur kognitiven Sozialisation. Enke.
  2. Siegrist J (1996): Adverse health effects of high effort - low reward conditions at work. Journal of Occupational Health Psychology 1: 27-43.
  3. Siegrist J (2015) Arbeitswelt und stressbedingte Erkrankungen. München: Elsevier 2015
  4. Siegrist J. (1974) Medizinische Soziologie. München: Urban & Fischer (6. Aufl. 2005; ital. Ausg. 1975)
  5. Siegrist J., Stößel U, Trojan A (Hrsg.) (2022) Medizinische Soziologie in Deutschland. Wiesbaden: Springer
  6. World Health Organization (2014) Review of social determinants and the health divide in the WHO European Region: final report. Copenhagen; WHO Regional Office for Europe.
  7. Li J, Pega F, Ujita Y, Brisson C, …, Siegrist J (2020) The effect of exposure to long working hours on ischaemic heart disease: a systematic review and meta-analysis from the WHO/ILO Joint Estimates of the Work-related Burden of Disease and Injury. Environment International, 142, 105739.
  8. OECD (2017) OECD guidelines on measuring the quality of the working environment. Paris: OECD
  9. Marmot M (2010) Fair society, healthy lives. The Marmot Review. London: Institute of Health Equity.
  10. Siegrist J, Bollmann U (2023) Promoting good and sustainable work in occupational health education. Occupational Medicine 73(2), 61-65.
  11. Siegrist J, Li J (2024) Psychosocial occupational health. An interdisciplinary textbook. Oxford: Oxford University Press.
  12. Bültmann U, Siegrist J (Hrsg.) (2020) Handbook of disability, work and health. Cham: Springer Nature Switzerland. Weitere Bände siehe: https://www.springer.com/series/15678
  13. Siegrist J, Staudinger U (Hrsg.) (2019) Gesundheitliche Ungleichheit im Lebensverlauf. Leopoldina Forum Nr. 2. Halle (Saale): Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
  14. Udo Ludwig: Geheime Gesandte. In: Der Spiegel. Nr. 23, 2005, S. 156–158 (online).
  15. Johannes Siegrist: Stellungnahme zum Spiegel-Bericht. In: uni-duesseldorf.de. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 16. August 2011; abgerufen am 16. April 2014.