Inkretinmimetika

Inkretinmimetika oder GLP-1-Rezeptoragonisten zählen zu den Antidiabetika, die zur Behandlung des Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) vom Typ 2 eingesetzt werden. Sie ahmen die Wirkung der körpereigenen Hormone Glucagon-like Peptid 1 (GLP-1) und glukoseabhängiges insulinotropes Peptid (GIP) nach. Diese werden bei Typ-2-Diabetikern vermindert ausgeschüttet, wodurch der Inkretin-Effekt, d. h. die blutzuckersenkende Wirkung, verringert ist. Inkretinmimetika sind Peptide oder Peptidkonjugate, die in der Regel als subkutane Injektion verabreicht werden.

Inkretin-Effekt

Eine weitere Stoffklasse, deren Vertreter ebenfalls über den Inkretin-Effekt wirken, sind die Gliptine, die durch Hemmung des Enzyms Dipeptidylpeptidase 4 (DPP-4) den Abbau von GLP-1 und GIP blockieren.

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen

Die wesentlichen Nebenwirkungen sind Übelkeit, Durchfall und Erbrechen.[1] Es liegen keine Daten dazu vor, ob Inkretinmimetika Folgen des Diabetes wie Amputationen, Erblindung und Nierenversagen verhindern können. Die GLP-1-basierten Therapien könnten jedoch, wie in einer Autopsiestudie an Diabetes-Patienten festgestellt wurde, das Pankreas negativ beeinflussen.[2] Sowohl die amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde FDA als auch die Europäische Arzneimittel-Agentur kündigten 2013 deswegen entsprechende Untersuchungen an.[3][4]

Anwendungsbeschränkungen

Bei schweren Nierenfunktionsstörungen wird die Anwendung von Inkretinmimetika nicht,[5] bei schweren Leberfunktionsstörungen nur mit Vorsicht empfohlen. Für die Anwendung in der Schwangerschaft liegen unzureichende Daten vor.[5]

Vertreter

  • Exenatid: Das synthetisch hergestellte Polypeptid Exenatid, das der natürlicherweise im Speichel der Gila-Krustenechse vorkommenden Substanz Exendin-4 entspricht und in Struktur und Wirkung dem GLP-1 ähnelt, ist das erste auf dem Arzneimittelmarkt eingeführte Inkretinmimetikum. Seine Peptidsequenz stimmt circa zur Hälfte[5] mit der des humanen GLP-17-37 überein. Es stellte damit eine Leitsubstanz dieser neuen Wirkstoffklasse dar. Exenatid (Handelsname Byetta) erhielt im April 2005 die Zulassung der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) für die Anwendung in Kombination mit Metformin oder Glitazonen. Unter dem Handelsnamen Bydureon ist eine Retardformulierung zur wöchentlichen Anwendung verfügbar.
  • Liraglutid: Im Juli 2009 wurde von der Europäischen Kommission das von Novo Nordisk entwickelte Liraglutid (Handelsname Victoza) zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2 bei Erwachsenen[6] zugelassen, bei dem es sich um ein Analogon des menschlichen GLP-1 handelt, dessen Wirkdauer auf 24 Stunden verlängert wurde. Die Homolologie zur GLP-1-Sequenz liegt bei 97 %. Unter dem Namen Saxenda ist es (in den USA seit 2014, in der EU seit 2015) ferner zur Gewichtsregulierung bei Übergewicht zugelassen. Unter dem Namen Xultophy gibt es eine Kombination aus Liraglutid und Insulin degludec.[7]
  • Taspoglutid: Die Entwicklung wurde eingestellt. Das von Roche entwickelte GLP-1-Analogon befand sich Ende 2009 in den Phase-III-Studien, die Markteinführung wurde für 2011 oder 2012 erwartet. Im September 2010 gab Roche bekannt, alle Studien mit Taspoglutid abgebrochen zu haben. Grund hierfür waren teils schwere allergische Reaktion sowie häufige Nebenwirkungen im Magen-Darm-Trakt, hauptsächlich Übelkeit und Erbrechen.[8]
  • Lixisenatid (Handelsname Lyxumia) ist ein vom Exenatid abgeleiteter Wirkstoff und wurde 2013 in der EU zugelassen. Es wurde in Deutschland im April 2014 wieder aus dem Handel genommen.[9] Seit 2017 besteht zusätzlich eine Zulassung für die fixe Kombination von Lixisenatid mit Insulin glargin (Suliqua).[10]
  • Albiglutid (Handelsname Eperzan) von GlaxoSmithKline war in Deutschland ab Oktober 2014 im Handel. Die EU-Zulassung, die die Monotherapie bei Erwachsenen mit Typ-2-Diabetes, wenn Diät und Bewegung allein zur Blutzuckereinstellung nicht ausreichen und Metformin nicht in Frage kommt, umfasste, zog der Hersteller 2019 zurück.[11] Albiglutid ist ein Fusionsprotein mit einer zu GLP-1 hoch homologen Peptidsequenz. Es wurde als wöchentliche Injektion verabreicht.
  • Dulaglutid (Handelsname Trulicity) von Lilly ist ein Fusionsprotein (90 % homologe GLP-1-Komponente) und in Deutschland seit Februar 2015 im Handel. Empfohlen ist die wöchentliche Injektion.
  • Semaglutid (Handelsnamen Ozempic (subkutan) und Rybelsus (oral) für die Behandlung des Typ-2-Diabetes; als Antiadipositum: Wegovy): Der strukturell eng verwandte Nachfolger von Liraglutid wurde – als erster GLP-1-Rezeptor-Agonist – zur Darreichung in Tablettenform (oral) entwickelt. Er wurde 2018 und 2020 zunächst für die subkutane Anwendung zugelassen, 2022 folgte eine orale Verabreichungsform. Meistverkaufter Wirkstoff.[12]
  • Tirzepatid (Handelsname Mounjaro) ist ein duales Inkretinmimetikum (ein GIP/GLP-1-Rezeptoragonist) zur Behandlung eines Diabetes (Typ 2). Duale Inkretinmimetika, die sowohl an GLP1- als auch an GIP-Rezeptoren binden, werden Twinkretine genannt. Im Mai 2022 erteilte die Food and Drug Administration (FDA) die Zulassung für die USA,[13] im September wurde das Arzneimittel auch in der EU zugelassen.[14] Tirzepatid wird ferner für die Verwendung zur Gewichtsreduktion untersucht. Angaben des Herstellers Lilly vom April 2022 zufolge zeigten erste Ergebnisse der randomisierten, doppelblinden Phase-III-Studie SURMOUNT-1,[15] dass eine Behandlung mit Tirzepatid für 72 Wochen im Vergleich zu Placebo bei übergewichtigen Personen eine deutliche Gewichtsabnahme bewirke (je nach Dosis durchschnittlich 16–24 kg im Vergleich zu 2 kg bei einem Ausgangsgewicht von durchschnittlich 105 kg).[16]
  • Efpeglenatid ist ein Exenatid-Derivat, das über eine Polyethylenglycolverbindung mit einem Fragment eines humanen-IgG4-Fc-Dimers verknüpft ist. Der experimentelle Wirkstoff von Sanofi wird in der Behandlung des Typ-2-Diabetes untersucht.[17]
  • Pseudin-2: Für das aus dem Hautsekret des Großen Harlekinfrosches (Pseudis paradoxa) isolierte Pseudin-2 wurde 2008 eine die Insulinfreisetzung stimulierende Wirkung beschrieben.[18]
Schematische Darstellung der Struktur einiger Inkretinmimetika. Oben: GLP-1 (human) und Analoga. Die Peptidsequenzen werden rekombinant hergestellt. Unten: Exendin-4 (Heloderma suspectum) und synthetische Analoga. Liraglutid ist wie GLP-1 gegen Inaktivierung durch proteolytische Spaltung zwischen A(8) und E(9) empfindlich. Tirzepatid ist in seiner Sequenz außer zu GLP-1 durch entsprechende Aminosäuren (umrandet dargestellt) zudem deutlich zu GIP homolog, woraus ein dualer Wirkmechanismus resultiert. Aminosäuren sind im Einbuchstabencode angegeben.

Literatur

  • Richard Daikeler, Götz Use, Sylke Waibel: Diabetes. Evidenzbasierte Diagnosik und Therapie. 10. Auflage. Kitteltaschenbuch, Sinsheim 2015, ISBN 978-3-00-050903-2, S. 162–165.
  • F. Svec: Incretin physiology and its role in type 2 diabetes mellitus. In: The Journal of the American Osteopathic Association. 110. Jahrgang, 7 Suppl 7, Juli 2010, S. eS20–24, PMID 20644202.
  • E. Brown, D.J. Cuthbertson, J.P. Wilding: Newer GLP-1 receptor agonists and obesity-diabetes. In: Peptides. Nr. 100, 2018, S. 61–67, doi:10.1016/j.peptides.2017.12.009.
  • J.Y. Cheang, P.M Moyle: Glucagon-Like Peptide-1 (GLP-1)-Based Therapeutics: Current Status and Future Opportunities beyond Type 2 Diabetes. In: ChemMedChem. Band 13, Nr. 7, 2018, S. 662–671, doi:10.1002/cmdc.201700781.

Einzelnachweise

  1. Metaanalysen zu GLP-1-Mimetika, B. Wilms, Congress-Report Dezember 2011, S. 21f.
  2. A. E. Butler, M. Campbell-Thompson, T. Gurlo, D. W. Dawson, M. Atkinson, P. C. Butler: Marked Expansion of Exocrine and Endocrine Pancreas with Incretin Therapy in Humans with increased Exocrine Pancreas Dysplasia and the potential for Glucagon-producing Neuroendocrine Tumors. In: Diabetes. Band 62, S. 2595–2604, doi:10.2337/db12-1686.
  3. EMA: European Medicines Agency investigates findings on pancreatic risks with GLP-1-based therapies for type-2 diabetes (PDF; 92 kB).
  4. FDA investigating reports of possible increased risk of pancreatitis and pre-cancerous findings of the pancreas from incretin mimetic drugs for type 2 diabetes.
  5. a b c Gerd Geisslinger, Sabine Menzel, Thomas Gudermann, Burkhard Hinz, Peter Ruth: Mutschler Arzneimittelwirkungen. Pharmakologie – Klinische Pharmakologie – Toxikologie. Begründet von Ernst Mutschler, 11. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-8047-3663-4. S. 671 f.
  6. Daikeler et al., 2015, S. 162.
  7. Daikeler et al., 2015, S. 165.
  8. medpageTODAY, Medical News, Roche Halts Trials of Taspoglutide, 13. September 2010.
  9. Lyxumia® bleibt außer Vertrieb, DAZ, 19. Juni 2014.
  10. Eintrag EU/1/16/1157 im Unionsregister, abgerufen am 8. Dezember 2022.
  11. Eintrag EU/1/13/908 im Unionsregister, abgerufen am 8. Dezember 2022.
  12. https://investor.novonordisk.com/q2-2023-presentation/?page=13
  13. FDA Approves Novel, Dual-Targeted Treatment for Type 2 Diabetes, Pressemitteilung der FDA, 13. Mai 2022.
  14. Eintrag EU/1/22/1685 im Unionsregister, abgerufen am 24. November 2022.
  15. NCT04184622 A Study of Tirzepatide (LY3298176) in Participants With Obesity or Overweight (SURMOUNT-1) ClinicalTrials.gov
  16. Eli Lilly and Company: Lilly's tirzepatide delivered up to 22.5% weight loss in adults with obesity or overweight in SURMOUNT-1. 28. April 2022, abgerufen am 10. Mai 2022.
  17. B. Gensthaler: GLP-1-Analogon mit Herzschutz, Pharmazeutische Zeitung, 19. Juli 2021.
  18. Abdel-Wahab et al.: Insulin-releasing properties of the frog skin peptide pseudin-2 and its [Lys18]-substituted analogue. Biological Chemistry, Bd. 389, Nr. 2, 2008. doi:10.1515/BC.2008.018

Auf dieser Seite verwendete Medien

Incretins and DPP 4 inhibitor DE.svg
Autor/Urheber: Clinical Cases, Ilmari Karonen translated by Benff, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Action of incretins and DPP-4 inhibitors.
Incretin mimetics.svg
Autor/Urheber: Benff, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Top: GLP-1 (human) and analogs (peptide sequences produced recombinantly). Bottom: Exendin-4 (Heloderma suspectum) and synthetic analogs.