Inkommensurabilität (Mathematik)

In der Mathematik heißen zwei reelle Zahlen und kommensurabel (von lateinisch commensurabilis ‚gleich zu bemessen, gleichmäßig‘),[1] wenn sie ganzzahlige Vielfache einer geeigneten dritten reellen Zahl sind, also einen gemeinsamen Teiler besitzen. Die Bezeichnung kommt daher, dass man sie dann mit dem gemeinsamen Maß messen kann. In mathematischer Notation:

, sodass mit .

Daraus folgt, sofern ist, dass das Verhältnis von und eine rationale Zahl ist:

.

Gibt es kein auch noch so kleines gemeinsames Maß , dann heißen die Zahlenwerte und inkommensurabel (von lateinisch incommensurabilis ‚unmessbar‘),[2] d. h. ihr Verhältnis ist eine irrationale Zahl.

Der Ausdruck Inkommensurabilität, der auf Euklids Elemente zurückgeht, bezieht sich direkt auf das geometrische Messen von Strecken mit tatsächlichen Messlatten. Er stellt eine gute Erinnerung daran dar, dass die griechische Mathematik unmittelbar auf der anschaulichen Geometrie beruhte, deren „Anschaulichkeit“ eben durch die Inkommensurabilität überschritten wurde.

Beispiele

Fünfstern
  • Alle natürlichen Zahlen sind kommensurabel, denn sie haben das Vergleichsmaß c = 1.
  • Endlich viele beliebige Brüche sind kommensurabel, denn man kann sie auf einen Hauptnenner bringen, und ein Vergleichsmaß ist dann .
  • Inkommensurabel zu den Bruchzahlen sind dagegen alle Zahlen, die sich nicht als Brüche schreiben lassen.
  • Die Seite a eines Quadrats und die Länge d seiner Diagonalen sind inkommensurabel, denn nach dem Satz des Pythagoras ist , und die Annahme, dass dies eine Bruchzahl ist, lässt sich widerlegen.
  • Inkommensurable Strecken gibt es auch beim Fünfstern oder Pentagramm, nämlich die innere Strecke (BC) und die äußere Strecke (AD).

Geschichte

Der erste Beweis für die Existenz von inkommensurablen Strecken wird seit der Antike dem Pythagoreer Hippasos von Metapont zugeschrieben, der im späten 6. und frühen 5. Jahrhundert v. Chr. lebte. Diese Überlieferung entspricht möglicherweise den Tatsachen. Eine Erfindung ist jedoch die daran anknüpfende Legende, der zufolge die Pythagoreer die Inkommensurabilität als Geheimnis behandelten; Hippasos soll dieses Geheimnis verraten haben, was angeblich seinen Tod zur Folge hatte. Diese Erzählung ist aus einem Missverständnis entstanden. In Zusammenhang mit der Legende vom Geheimnisverrat wurde in älterer Forschungsliteratur die Hypothese vertreten, die Entdeckung der Inkommensurabilität habe die Pythagoreer schockiert und habe eine Grundlagenkrise der Mathematik bzw. der Philosophie der Mathematik ausgelöst. Die Annahme einer Grundlagenkrise wird jedoch ebenso wie der angebliche Geheimnisverrat von der neueren Forschung einhellig abgelehnt.[3] Die Entdeckung der Inkommensurabilität wurde als Errungenschaft und nicht als Problem oder Krise betrachtet.

Siehe auch

Literatur

  • H. Vogt: Die Entdeckungsgeschichte des Irrationalen nach Plato und anderen Quellen des 4. Jahrhunderts. In: Bibliotheca Math., 1910, (3) 10, S. 97–155.
  • K. v. Fritz: The discovery of incommensurability by Hippasus of Metapontum. In: Ann. of Math., 1945, (2) 46, S. 242–264. JSTOR:1969021.
  • M. Caveing: The debate between H. G. Zeuthen and H. Vogt (1909–1915) on the historical source of the knowledge of irrational quantities. In: Centaurus, 1996, 38, no. 2–3, S. 277–292; doi:10.1111/j.1600-0498.1996.tb00611.x.
  • E. Frank: Platon und die sogenannten Pythagoreer. Niemeyer, Halle 1923.
  • B. L. van der Waerden: Zenon und die Grundlagenkrise der griechischen Mathematik. In: Math. Ann., 1940, 117, S. 141–161, doi:10.1007/BF01450015.

Einzelnachweise

  1. Karl Ernst Georges: commensurabilis. In: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. 8., verbesserte und vermehrte Auflage. Band 1. Hahnsche Buchhandlung, Hannover 1913, Sp. 1302 (Digitalisat. zeno.org).
  2. Karl Ernst Georges: incommensurabilis. In: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. 8., verbesserte und vermehrte Auflage. Band 2. Hahnsche Buchhandlung, Hannover 1918, Sp. 160 (Digitalisat. zeno.org).
  3. David H. Fowler: The Mathematics of Plato’s Academy. A new reconstruction. Clarendon Press, Oxford 1987, ISBN 0-19-853912-6, S. 302–308. Hans-Joachim Waschkies: Anfänge der Arithmetik im Alten Orient und bei den Griechen. Verlag Grüner, Amsterdam 1989, ISBN 90-6032-036-0, S. 311 und Anm. 23. Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon. Verlag Carl, Nürnberg 1962, S. 431–440. Leonid Zhmud: Wissenschaft, Philosophie und Religion im frühen Pythagoreismus. Akademie-Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-05-003090-9, S. 170–175. Detlef Thiel: Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der Alten Akademie. Saur, München 2006, ISBN 3-598-77843-0, S. 94 Anm. 65 (zugleich Habilitation, Universität Heidelberg 2005).

Auf dieser Seite verwendete Medien

Golden ratio - Pentagram.svg
Autor/Urheber:
Vektor:
, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Pentagramm. Farbig eingezeichnet sind 3 Streckenpaare, die im Verhältnis des Goldenen Schnittes stehen. Die markierten Punkte und die Hilfslinie CC' werden für den Beweis benötigt, dass der Goldene Schnitt vorliegt.