Industrieschule

Industrieschulen wurden 1779 in Böhmen von Bischof Ferdinand Kindermann von Schulstein gegründet, weitere entstanden in den folgenden Jahren in Deutschland (Friedrich Adolf Sauer), Österreich und vereinzelt in der Schweiz. Dort sollten v. a. Kinder aus der Unterschicht zur Arbeit erzogen und ausgebildet werden, damit sie später für das Erwerbsleben in der sich entfaltenden Industriegesellschaft gerüstet waren: Buben lernten im Industrieunterricht Spinnen, im so genannten Industriegarten (Schulgarten wie er etwa 1791/1792 in Unterleinach geschaffen wurde)[1] Gartenbau oder Baumpflege, Mädchen Stricken, Nähen, Häkeln oder Flicken und Kochen. Anfang des 19. Jahrhunderts waren in Österreich auf dem Lande jeder Fabrik Waisen- oder Findelhäuser angeschlossen.[2]

In der Schweiz verstand man unter dem Begriff Industrieschule hingegen gewöhnlich eine mathematisch-naturwissenschaftlich ausgerichtete Kantonsschule (Realgymnasium, z. B. ab 1832 Rämibühl in Zürich).

Schulsystem

Ähnlich den Philanthropen Ludwig Gerhard Wagemann (1746–1804)[3] und Heinrich Philipp Sextro legte auch Johann Heinrich Pestalozzi Wert auf die Verbindung von manueller Arbeit mit schulischer Erziehung und Wissensvermittlung. „Industriepädagogen“, zu denen auch Philipp Emanuel von Fellenberg gehörte, setzten auf unablässige Tätigkeit, damit Müßiggang und Laster verhindert und die Armen „veredelt“ würden. Zur Ausbildung von Lehrern für die Industrieschulen wurde 1811 in Würzburg[4] eine Zentralindustrieschule[5] eingerichtet.

Mit dem Unterrichtskatalog in Württemberg, basierend auf einer Verflechtung von praktischen handwerklichen Tätigkeiten und theoretischen Lerneinheiten, sollten die Kinder zu fleißigen und gottgefälligen Bürgern herangezogen werden. 1830: „Neben diesen Hand-Arbeiten wird übrigens in mehreren Industrie-Schulen während der Arbeit mit den Kindern gesungen und gebetet, es werden ihnen lehrreiche Geschichten erzählt, oder es wird ihnen aus der Bibel, oder aus moralischen, historischen, und anderen Jugend-Schriften vorgelesen. Man erklärt ihnen das Vorgelesene, macht sie mit den Regeln der deutschen Sprache und mit Gegenständen der Naturgeschichte bekannt, läßt sie etwas auswendig lernen, oder im Kopfe rechnen, und nimmt sonstige Denk- oder Verstands-Uebungen mit ihnen vor.“[6]

Kritik an Industrieschulen

Die Industrieschulen setzten sich nicht durch, weil die Anstalten als Einrichtungen zur Förderung der Kinderarbeit und sozialer Ausbeutung in Verruf gerieten. In Wahrheit wurden die Kinder pausenlos beschäftigt und die Vermittlung von Wissen sowie Fertigkeiten war in der Regel auf die unmittelbar bezogene Tätigkeit beschränkt. Sie arbeiteten oft von 05:00 Uhr morgens bis 19:00 oder 21:00 Uhr am Abend. Die Aufseherinnen und Aufseher ahndeten durch harte Prügelstrafen jedes „Fehlverhalten“. Die „Vaterpflicht“ und die „Vatermacht“ für die Waisen übernahm oft der Fabrikant. Bis zur Volljährigkeit waren die Kinder oft der Ausbeutung wehrlos ausgeliefert. Wenige aufgeklärte Pädagogen, Pfarrer oder Beamte der Zeit kritisierten die starke Ausrichtung auf industrielle Fertigung und wirtschaftlichen Gewinn. Später ging dieses Schulsystem in anderen Schulsystemen auf.

Siehe auch

Literatur

  • Wolfram Hauer: Lokale Schulentwicklung und städtische Lebenswelt: Das Schulwesen in Tübingen von seinen Anfängen im Spätmittelalter bis 1806. Steiner, Stuttgart 2003, ISBN 3-515-07777-4.
  • Wolfgang Marquardt: Geschichte und Strukturanalyse der Industrieschule. Arbeitserziehung, Industrieunterricht, Kinderarbeit in niederen Schulen (ca. 1770–1850/1870). Diss. phil. TU Hannover 1975 (nicht im Handel; bei Dt. Nationalbibliothek Standort Ffm. vorhanden; Standardwerk).
  • Markus Meumann: Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord in der Frühen Neuzeit. Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft (= Ancien Regime, Aufklärung und Revolution. Band 29). Oldenbourg Wissenschaft, München 1994, ISBN 3-486-56099-9.
  • Dorit Prater: Industriepädagogik. Industrie-, Fabrik- und Arbeitsschulen im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert und ihre Rezeption in BRD und DDR. AV Akademikerverlag, Saarbrücken 2012, ISBN 978-3-8364-5238-0.
  • Jürgen Schallmann: Arme und Armut in Göttingen 1860–1914 (= Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen. Band 25). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, ISBN 3-525-85427-7.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Christine Demel u. a.: Leinach. Geschichte – Sagen – Gegenwart. Gemeinde Leinach, Leinach 1999, S. 174 (1817 „Industriearbeiten“ der Schulkinder in den Weinbergen von Unterleinach) und 379–383 (Industrieschule und Industriegarten (1792)).
  2. Meike S. Baader, Florian Eßer, Wolfgang Schröer: Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge, Campus Verlag, Frankfurt a.M./ New York 2014
  3. in: Göttingisches Magazin für Indüstrie und Armenpflege. Hg. L. G. Wagemann. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen Nr. 1.1788/89 bis 6.1803,1 = 21 Nummern. Mikrofiche Olms, Hildesheim 1997–1997; Reprint: Topos, Vaduz 1982
  4. Im „Würzburgischen“ hatte Franz Ludwig von Erthal bereits am 26. Mai 1789 eine Industrieschule eingerichtet. Max Döllner: Entwicklungsgeschichte der Stadt Neustadt an der Aisch bis 1933. 1950; 2. Auflage. Ph. C. W. Schmidt, Neustadt an der Aisch 1978, ISBN 3-87707-013-2, S. 498.
  5. Thomas Tippach: Würzburg – Aspekte der Zentralität. In: Ulrich Wagner (Hrsg.): Geschichte der Stadt Würzburg. 4 Bände, Band I–III/2 (I: Von den Anfängen bis zum Ausbruch des Bauernkriegs. 2001, ISBN 3-8062-1465-4; II: Vom Bauernkrieg 1525 bis zum Übergang an das Königreich Bayern 1814. 2004, ISBN 3-8062-1477-8; III/1–2: Vom Übergang an Bayern bis zum 21. Jahrhundert. 2007, ISBN 978-3-8062-1478-9), Theiss, Stuttgart 2001–2007, Band III (2007), S. 369–393 und 1296–1298, hier: S. 372.
  6. Industrieschulen