Im Reiche des silbernen Löwen III

Im Reiche des silbernen Löwen III ist eine Reiseerzählung von Karl May. Das Buch erschien im Herbst 1902 als Band 28 von Karl May’s gesammelten Reiseerzählungen und ist Teil der Tetralogie, die mit Im Reiche des silbernen Löwen I–II[1] begann.

Das erste Kapitel (In Basra) entstand 1898 und steht völlig in der Tradition der abenteuerlichen Reiseromane. Der Rest des dritten Bandes wurde im ersten Halbjahr 1902 geschrieben und gehört zu Mays Spätwerk.

1912 erschien eine illustrierte Ausgabe mit Bildern von Claus Bergen.

Inhalt

In Basra begegnen Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar überraschenderweise Sir David Lindsay. Sie beschließen, gemeinsam nach Schiras zu reisen, werden aber versehentlich getrennt.

Halef erhält – durch einen Irrtum des Boten – einen Brief, der für den Sill Ghulam el Multasim bestimmt ist. Er nimmt den Brief an sich, und die beiden verlassen Basra.

Auf ihrem Weg werden sie nachts überfallen und all ihrer Waffen und Pferde beraubt. Während der Verfolgung der Schurken treffen sie auf eine Reitertruppe, die ihnen wieder zu ihrem Eigentum verhilft. Zum Dank sollen Kara und Halef, der langsam krank wird, sich an einem Feldzug gegen den Stamm der Dschamikun beteiligen. Beide stimmen zu.

Bei der Verfolgung eines rätselhaften Fakirs stellt sich heraus, dass dieser der Scheik der Dschamikun ist und sich selbst Pedehr nennt. Er informiert Kara und Halef, dass sowohl der Raub als auch die Wiederbeschaffung ihrer Waffen und Pferde inszeniert waren, um sich ihrer Dankbarkeit und Mithilfe zu versichern. Kara und Halef beschließen daraufhin, ihre „Gefährten“ in einen Hinterhalt der Dschamikun zu locken. Das gelingt, aber Halef bricht schwerkrank zusammen. Auch Kara ist schwer typhuskrank.

Beide werden in das Tal der Dschamikun gebracht und dort von Schakara gepflegt. Schakara ist eine Urenkelin von Marah Durimeh und wurde einst (siehe Durchs wilde Kurdistan) von Kara Ben Nemsi gerettet. Während Kara sich allmählich erholt, kämpft Halef noch immer um sein Leben. Um seine Lebensgeister zu wecken, werden Hanneh und Kara Ben Halef geholt.

Kara Ben Nemsi lernt Pekala und Tifl kennen. Kara Ben Halef unternimmt mit letzterem einen Ritt in die Umgebung. Dort treffen sie auf Scheik Hafis Aram und dessen Frau, die wegen Mordes von persischen Soldaten verfolgt werden. Sie bringen die beiden ins Tal der Dschamikun. Als auch die Verfolger dort eintreffen, wird deren Anführer – ein Sill – gefangen genommen. Er droht mit Blutrache.

Der Sohn des Ermordeten, der Bluträcher, ist Ghulam el Multasim. Auch Ahriman Mirza kommt zu den Dschamikun und kündigt deren Ende an.

Geplant ist ein großes Wettrennen, bei dem die besten Pferde gegeneinander antreten sollen. Der Wettstreit soll alles entscheiden.

Entstehung und Deutung

Der Roman Im Reiche des silbernen Löwen III (1902) ist zusammen mit dem zweiten Band Im Reiche des silbernen Löwen IV (1903) einer der eigenartigsten Schlüsselromane der deutschen Literatur.[2][3]

Karl Mays Ehekrise, die Trennung von Emma und die Verbindung mit Klara, aber auch die Auseinandersetzung des Schriftstellers mit sich selbst und seinen literarischen Widersachern und überhaupt alle wichtigen Ereignisse seines Lebens, speziell in den Jahren 1899 bis 1903, spiegeln sich – mehrfach kodiert, poetisch verdichtet und theologisch reflektiert – in den Schlussbänden des Silberlöwen.

Emphatisch hat sich der Autor in verschiedenen Dokumenten über den Silberlöwen III/IV geäußert. Adele Einsle z. B. (der Mutter eines Münchner Gymnasiasten, mit dem Karl May seit Anfang 1903 sehr herzliche Briefe wechselte) teilte er am 21. Dezember 1902 mit: Dieser Roman „ist hochinteressant, weil er meine einzige Antwort an meine Feinde enthält!“[4] Und drei Tage später schrieb er an Friedrich Ernst Fehsenfeld:

„Bemerken Sie, daß mit Band IV eine neue Aera angebrochen ist? Der bisher so schweigsame 'Silberlöwe' tritt endlich, endlich aus seiner Felsenverborgenheit hervor. Das drohende 'Rrrrad!' erklingt […] Merken nun auch endlich Sie, wie Karl May gelesen werden muß? […] Sie werden dann finden, daß Sie etwas ganz Anderes drucken ließen, als Sie glaubten! Unsere Bücher sind für Jahrhunderte bestimmt […] [Sie] müssen selbst der Blindheit beide Augen öffnen. Also: MEINE ZEIT IST ENDLICH DA!“[5]

Am 21. Januar 1903 schrieb er an Willy Einsle:

„Was May beschreibt, bezieht sich auf die greifbare Körperwelt. Der Sinn aber und die Bedeutung offenbaren ganz andere Gebiete. Nur die Blindheit, die das nicht sieht, kann seine Feindin werden. Daher sein Mitleid und sein Schweigen!

Bitte, mein lieber, junger Freund, nehmen Sie den dritten Band des „Silberlöwen“ her, damit ich Ihnen einige Winke gebe!

Ein Aufwärtsritt von Basra nach den kurdischen Bergen. Basra Sumpf, Ansteckung. Auf den Bergen Reinheit, Genesung. Lesen Sie aufmerksam, so finden Sie, daß dieser Ritt nicht nur aus dem geographischen, sondern auch aus dem geistigen Sumpfe zur Genesung aufwärts führt. Wir werden bessere, edlere, höherdenkende Menschen. Und Alles, was leiblich vorhanden ist, ist auch geistig zu betrachten. Und was die Körper thun, vollzieht sich ganz genau auch ebenso auf unsichtbaren Gebieten. Wer sind die metaphysischen Dschamikun, die Massaban...? Wer ist der Ustad, der Pedehr, der Mirza, der Bluträcher, der Tifl, die Pekala...? Wer sind unsere Pferde alle, welche wettzurennen haben, und welches muß in Folge dessen siegen? Was hat das Beit-y-Chodeh, das Riesenmauerwerk, das Alabasterzelt zu bedeuten? Verlegen Sie das Alles einmal nach Deutschland her, in unsere geistige Welt! Mehr will ich Ihnen heut nicht sagen.

Vielleicht ahnen Sie nun, wie meine Bücher gelesen werden müssen, die keinesweges für „Jungens geschrieben sind“, wie meine Feinde behaupten!“[6]

Die zweifellos schwierige, immer nur annäherungsweise mögliche Interpretation dieses rätselhaften, in seinen Hauptpartien heterogenen und dennoch „ästhetisch bedeutsamsten“[7] Werks Karl Mays setzt die Kenntnis seiner biographischen Hintergründe und seiner Entstehungsgeschichte voraus.

Ende Juli 1901 kündigte May dem Verleger Fehsenfeld die Schlussbände des Silberlöwen an. Das erste Kapitel des 1902 zu Ende gebrachten Silberlöwen III ist mit den 1898 verfassten Manuskriptseiten identisch, die – nach der ursprünglichen Planung – die Hausschatz-Erzählung Am Turm zu Babel fortsetzen sollten und die sich May im Juni 1901 von Pustet zurückschicken ließ. Nur den Schluss (S. 58–66 der Fehsenfeld-Fassung) hat der Schriftsteller im Frühjahr 1902 korrigiert und erweitert: Die zu Beginn dieses ersten Buch-Kapitels eingeführte Romanfigur David Lindsay, die May – angesichts seines neuen Gesamtkonzepts – wohl nicht mehr brauchen konnte, musste verabschiedet werden. Auch den früheren Manuskript-Titel Der Löwe von Farsistan änderte May: In Basra heißt nun die Überschrift des einleitenden Buchkapitels.

Der Grund, warum May diesen älteren Text überhaupt noch verwendete, kann nur vermutet werden: Einerseits wollte der Autor die Lesererwartung und das Drängen des Verlegers auf spannende Handlung nicht gänzlich unberücksichtigt lassen; und andrerseits wollte er die Kontinuität seines literarischen Schaffens vor und nach der Orientreise unter Beweis stellen. So und kaum anders wird es auch zu erklären sein, dass May sein neues Werk überhaupt als Fortsetzung des Silberlöwen präsentiert und nicht – wie in Pax/Friede – eine völlig neue, auf sämtliche Elemente des Abenteuers verzichtende Fabel geschaffen hatte.

Die noch vorwiegend abenteuerliche Handlung des Silberlöwen I/II hat May vordergründig und nicht immer konsequent in den Fortsetzungsbänden weitergeführt. Das eher leichte und heitere Einführungskapitel des Silberlöwen III sollte die bisherige Lesergemeinde nicht von vorneherein abschrecken.

Fürs Gesamtkonzept der Schlussbände förderlich war die Ortsbeschreibung des ersten Kapitels: „Jedem Leser von 'Tausend und eine Nacht' ist der Name Basra bekannt“ (III, 1); zum Zeitpunkt der Erzählung freilich bietet der Märchenort „dem Auge des Besuchers nur die Zeichen des Verfalles; er steht auf versumpftem Grunde, welcher gefährliche Miasmen erzeugt“ (III, 3). In Basra wurden, wie sich später herausstellt, der Ich-Erzähler Kara Ben Nemsi und das Alter Ego Hadschi Halef mit Giftstoffen infiziert. Sie erkranken im Verlauf des weiteren Geschehens an Typhus. Das schon in Die Todes-Karavane (1882) und dann wieder in Jenseits und Pax zentrale Motiv der schweren Erkrankung, des Zustandes „am Tode“, wird im Basra-Kapitel vorbereitet. Insofern kann die Übernahme dieser Partie in den Silberlöwen III als plausibel und stimmig betrachtet werden.

Das „eigentliche Werk“ allerdings, das mit dem Duktus des Silberlöwen I/II fast nichts mehr zu tun hat, beginnt erst jetzt: mit dem zweiten, schon im Titel Ueber die Grenze beziehungsreichen Kapitel des Silberlöwen III (S. 67 ff.).

Im April 1902 erhielt Fehsenfelds Drucker Felix Krais den ersten Teil des neuen Manuskripts, dessen Niederschrift Karl May in der Nacht zum 9. Februar begonnen hatte. Unter dem Titel Am Tode. Reiseerzählung von Karl May wurde dieser Abschnitt von Mitte Februar bis Ende April 1902 im Koblenzer Rhein- und Moselboten – einer katholischen Zeitung – vorabgedruckt: durch Johann Dederle, den mit May befreundeten ehemaligen Redakteur der Dortmunder Tremonia. Der Journal-Text entsprach dem zweiten Kapitel Ueber die Grenze und einem Teil des dritten Kapitels Am Tode in der künftigen Buchfassung des Silberlöwen III (S. 67–266).

Die neue Partie wird eröffnet mit einem überraschenden, existentiell bedeutsamen und theologisch sehr hintersinnigen Dialog über das Sterben (III, 67 ff.). Im Übrigen wirkt dieser Romanteil vordergründig wie eine Reiseerzählung im früheren Stil. Nur – die Helden sind nicht mehr die alten! Kara Ben Nemsi und Halef, deren geistige Spannkraft durch die heraufziehende Krankheit bereits geschwächt ist, unterlaufen gröbere Fehler und erhebliche Unvorsichtigkeiten. Sie lassen sich durch die List einer Nomadengruppe ihrer Pferde, ihrer Waffen und eines Teils ihrer Kleider berauben. Zu Fuß und nur unzureichend bekleidet verfolgen sie die Täter. Unterwegs begegnen sie Nafar Ben Schuri, der sich als Scheik der Dinarun-Kurden ausgibt, in Wirklichkeit aber der Anführer der Räuber ist. Nafar hilft in vorgetäuschter Freundlichkeit Kara und Halef bei der Rückgewinnung ihres Eigentums. Sein Hintergedanke: er will die Helden scheinbar zu seinen Verbündeten machen, um die „Geheimnisse“ ihrer Pferde und Waffen kennenzulernen. Der Weg mit den „Dinarun“ führt die beiden, durch den mysteriösen als Fakir verkleideten „Pedehr“ vor Nafar inzwischen gewarnten Helden ins „Tal des Sackes“. Nur der wagemutige Sprung über den Abgrund kann sie aus der „Sackgasse“ befreien und ins „gelobte Land“, ins Tal der Dschamikun, bringen.

Gegenüber der Pax-Handlung (1901) wirkt Am Tode insofern zunächst wie ein Rückschritt, als manche Abenteuermotive aus dem Repertoire der früheren Werke Mays wieder auftauchen. Doch als Kunstwerk gesehen ist Am Tode dem Pax-Roman mindestens ebenbürtig. Denn die oberschichtige Fabel verschlüsselt in oft mehrdeutigen Formulierungen die aktuelle Situation Karl Mays, zum Beispiel dessen zum Teil blamable Fehde mit dem Kölner Bachem-Verlag und mit Hermann Cardauns.

Symbolisch ist die ganze Romanpartie zu verstehen. Den zentralen Punkt bildet das „Reiten“ – nach Ulrich Schmid eine Metapher für die schriftstellerische Tätigkeit Mays: „Aus diesem grundlegenden Bauelement entwickelt sich eine Fülle von Gleichsetzungen, bis in die Details hinein, durch die die scheinbare 'Räubergeschichte' überlagert und letztlich strukturiert wird.“[8]

Die Erzählung enthält sehr zahlreiche, geschickt chiffrierte Anspielungen auf den Lebensweg des Autors: unter anderem auf seine Glaubenskämpfe, seinen literarischen Werdegang, seine Kolportageromane, seine Schaffenskrisen, seine Lesergemeinde, seine Kontrahenten, seine diversen Verleger und deren Umgang mit seinen Werken. Doch die genaue Entschlüsselung der Handlungsdetails und des Romanpersonals ist keineswegs einfach. Allzu simple Identifizierungen (etwa „der Pedehr ist Fehsenfeld“) wären verfehlt. Denn die Charaktere der Protagonisten sind „auf mehrere Bedeutungsebenen bezogen“ und „aus unterschiedlichen Wirklichkeitssegmenten realer Personen“ aus dem Umfeld des Autors zusammengesetzt. „Dieser Wechsel der Bezugsebene macht eine Deutung schwierig, zumal sich bei einzelnen Figuren die Funktion und damit auch ihre Kennzeichnung mit der fortschreitenden Handlung wandeln.“[8]

Nach Ulrich Schmid ist Am Tode die erste Erzählung Karl Mays, die eine symbolische Darstellungsweise eindeutig erkennen lässt. Gegen diese Auffassung wäre allerdings einzuwenden: Interessante Verschlüsselungen, auch wechselnde autobiographische Funktionen des Romanpersonals, finden wir schon im Jenseits-Band, aber auch schon im Silberlöwen I/II und überhaupt in sämtlichen früheren Reiseerzählungen Mays. Nur: so bewusst, so dicht und so konsequent allegorisch wie im Silberlöwen III dürfte May im früheren Erzählwerk noch nicht geschrieben haben.

Gleichzeitig mit dem Vorabdruck des Romanteils Am Tode im Rhein- und Moselboten bereitete May die Buchfassung des Silberlöwen III für Fehsenfeld vor. Bis Anfang Juli 1902 waren der den Journal-Text weiterführende Rest des dritten Buchkapitels Am Tode sowie das vierte Kapitel Ein Bluträcher abgeschlossen. Wenig später wurde das Schlusskapitel Ahriman Mirza fertiggestellt. Im August 1902 konnte der Silberlöwe III als Band XXVIII der Freiburger Reihe erscheinen.

„Mays körperliche und seelische Verfassung entsprach um diese Zeit ganz dem Zustand, den das Titelwort Am Tode umschreibt!“[9] Der öffentliche Streit um seine Person und die zerbrechende Ehe verdichteten sich zu einem privaten Dilemma, das den Schriftsteller krank machen und mit dem Tode unmittelbar konfrontieren musste. Doch der Dichter resigniert keineswegs: Er schaut auf zu den Bergen, von denen die „Hilfe kommt“ (III, 262; vgl. Psalm 121,1). Die Texte des Silberlöwen III geben Aufschluss, wie sich May im Wachtraum die Rettung vorgestellt hatte!

Im „Sprung über die Vergangenheit“ – eine schöne, äußerst dramatische, in rhythmischer Sprache abgefasste Szene (III, 257 f.) – erreichen Kara Ben Nemsi und Halef das Hochland der Dschamikun, eines Kurdenstammes, der wie im Paradiese lebt und dessen Angehörige nichts als nur Liebe zu Gott und den Menschen kennen. Nach dem Sprung über die gähnende Felsenspalte brechen die todkranken Helden zusammen. Sie können sich selbst nicht mehr helfen. Doch die Hilfe kommt in der Gestalt des Ustad, des „Meisters“, des geistlichen Oberhauptes der Dschamikun. Der Ustad, ein ehrwürdiger, über alles Niedrige erhabener Greis, hält Rosen in seiner Hand. Auch der Pedehr, der „Vater“, das weltliche Haupt der Dschamikun, trägt anstelle der Waffen nur purpurblühende Schirasrosen im Gürtel. Sogar die Kühe und Ziegen der Dschamikun sind mit Blumensträußen geschmückt.

Die Heilung scheint durch die Blumen zu kommen. „Könnte doch der Mensch so wie die Blume sein!“ (III, 529) Der Ustad, der Pedehr, besonders aber die junge und hübsche Schakara sind „wie die Blume“: so gut, so schön und so rein. Die Hilfe für Kara Ben Nemsi kommt, vor allem, in der Gestalt Schakaras, eines fröhlich-natürlichen, sehr musikalischen und tief religiösen Kurdenmädchens, das ganz und gar „Seele“ ist. Die Genesung Karas und Halefs erfolgt wie die Heilung Wallers in Pax bzw. in Friede im Tiefschlaf, der die Kräfte des Unterbewussten zur Wirkung bringt. Schakara bewacht und behütet den Schlaf des Effendi. Rosen und Veilchen, der Duft dieser Blumen und zarte Musik begünstigen als Symbole der Harmonie, der weiblichen Liebe, der verlorenen und wiedergefundenen Poesie die Heilung des Helden.

Eindrucksvoll ist auch die literarische Bearbeitung des Sujets Nahtoderfahrung in diesem Kapitel. Karl May schildert, wie Hadschi Halef Omar durch seine schwere Erkrankung dem Tode sehr nahekommt und durch die Liebe zu seiner Frau und zu seinem Sohn sowie durch seine Vorliebe für Pferde und ihre Wettrennen wieder ins Leben zurückfindet.[10]

Das wirklich Helfende, das endgültig Rettende freilich ist im Silberlöwen und auch sonst in den Spätwerken Mays vor allem die Religion. Das fromme Gebet Schakaras (in den Schlussbänden des Silberlöwen wird viel gebetet, gelobt und gedankt) erhebt die Herzen Kara Ben Nemsis und aller Bewohner des Dschamikun-Lagers zu Gott, ihrem Ursprung und ihrem Ziel.

Der Silberlöwe III beschwört die Milde, die unendliche Güte, den Frieden mit Gott und der Schöpfung. Doch vergleichbar mit dem Finale des Friede-Romans (1904) endet der dritte Band des Silberlöwen nicht mit der Ankunft des ewigen Friedens, sondern mit dem Auftritt des Bösen, des Ahriman Mirza, dessen „von seltsamen dämonischen Lichtern durchfunkelte Rede […] an Dostojewskis Großinquisitor erinnert.“[11] Ahriman, „der sich zwischen Geist und Seele drängt, um wo möglich beide zu vernichten“ (III, 635), kündigt den Dschamikun ihren Untergang an.

Nach Beendigung seines Schaffens am Silberlöwen III trat May am 21. Juli 1902 jene denkwürdige Reise an, die schließlich zur unwiderruflichen Trennung von Emma und zur endgültigen Bindung des Schriftstellers an Klara führte. Diese Reise und die anschließenden Turbulenzen erzwangen eine vier Monate lange Unterbrechung der Arbeit am Silberlöwen.

Anonyme Denunziation und kurzer Prozess in Rom

Ende März 1910 erreichte ein am 20. März verfasstes fünfseitiges, anonymes Anklageschreiben die Indexkongregation in Rom. Die sechs von dem unbekannten deutschen Denunzianten für anstößig gehaltenen Werke waren die – in falscher Chronologie genannten – Bände Im Reich des silbernen Löwen III (1902) und IV (1903), Am Jenseits (1899), Und Friede auf Erden! (1904) sowie Ardistan und Dschinnistan I und II (1909). Die Vorwürfe lauteten auf dogmenloses Christentum, Kritik an allen Konfessionen, also einschließlich der katholischen, allgemeine Religion, religiöse Gleichgültigkeit, Spiritismus, Monismus und Pantheismus. Der Sekretär der zuständigen Kongregation, der deutsche Dominikaner Thomas Esser, gab am 20. Mai 1910 kurz und knapp zu Protokoll:

„Ein gewisser anonymer Deutscher meldet dieser Hl. Kongregation die Werke des verdächtigen Autors Karl May. Weil es sich um einen nicht-katholischen Autor handelt, über dessen Leben und Werken verschiedene Zeitungen unterschiedliche Gerüchte und Ansichten verbreiten, wurde in der Sache entschieden: Wegen des Sachverhalts ist bei der gegenwärtigen Lage nichts zu unternehmen.“[12]

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Allgemeines zu Text und Textgeschichte unter http://karl-may-wiki.de/index.php/Im_Reiche_des_silbernen_Löwen
  2. Die folgenden Ausführungen folgen im Wesentlichen der großen Karl-May-Biographie von Hermann Wohlgschaft: Große Karl May Biographie. Leben und Werk, Paderborn: Igel Verlag 1994, S. 435 ff.
  3. Euchar Albrecht Schmid: Gestalt und Idee. In: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 34: Ich. Bamberg 36. Aufl. 1976, S. 353–408 (S. 399).
  4. Zit. nach Karl und Klara May: Briefwechsel mit Adele und Willy Einsle. In: Jb-KMG 1991, S. 11–96 (S. 15) Online-Version
  5. Aus Mays Brief vom 24. Dezember 1902 an Fehsenfeld; zit. nach Konrad Guenther: Karl May und sein Verleger. In: Karl May: Satan und Ischariot I. Freiburger Erstausgaben, Bd. XX. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1983, A 2-35 (20 f.).
  6. An Willy Einsle, München, 21. Januar 1903. In: Christoph F. Lorenz (Hrsg.): Zwischen Himmel und Hölle. Karl May und die Religion, Karl-May-Verlag Bamberg/Radebeul, zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage 2013, S. 477.
  7. Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987, S. 116.
  8. a b Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895-1905. Erzählstrukturen und editorischer Befund. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 12. Ubstadt 1989, S. 211. Online-Version
  9. Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den „Silbernen Löwen“. Zur Symbolik und Entstehung. In: Jb-KMG 1979, S. 99–136 (S. 125)
  10. Im Reiche des silbernen Löwen, Band 3, Freiburg i.Br. 1908, S. 270 ff. (online auf zeno.org)
  11. Joachim Kalka: (Werkartikel zu) Im Reiche des silbernen Löwen Ill/IV. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 288–301 (S. 291)
  12. Zitiert bei Hubert Wolf: Karl May und die Inquisition, in: Christoph F. Lorenz (Hrsg.): Zwischen Himmel und Hölle. Karl May und die Religion, Karl-May-Verlag Bamberg/Radebeul, zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage 2013, S. 71–143, hier S. 115 f.

Literatur

  • Hermann Wohlgschaft: Große Karl May Biographie. Leben und Werk, Paderborn: Igel Verlag 1994, S. 435 ff. ISBN 3-927104-61-2 Online-Version
  • Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den „Silbernen Löwen“. Zur Symbolik und Entstehung. In: Jb-KMG 1979, S. 99–136. Online-Version
  • Volker Krischel: Karl Mays „Schattenroman“. Gesichtspunkte zu einer „Weltdeutungs-Dichtung“. So-KMG 37 (1982) Online-Version
  • Christoph F. Lorenz: „Das ist der Baum El Dscharanil“. Gleichnisse, Märchen und Träume in Karl Mays „Im Reiche des silbernen Löwen III und IV“. In: Jb-KMG 1984, S. 139–166. Online-Version
  • Peter Hofmann: Karl May und sein Evangelium. Theologischer Versuch über Camouflage und Hermeneutik, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, bes. S. 120, 123, 166.
  • Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer (Hrsg.): Karl Mays „Im Reich des silbernen Löwen“ (Karl-May-Studien, Bd. 2), Paderborn: Igel Verlag 1997, 2. Auflage Hamburg 2010 (mit ausführlicher Bibliographie). ISBN 3868155058
    • Adolf Droop: Karl May. Eine Analyse seiner Reise-Erzählungen
    • Arno Schmidt: Vom neuen Großmystiker
    • Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den 'Silbernen Löwen'. Zur Symbolik und Entstehung
    • Walther Ilmer: Mißglückte Reise nach Persien. Gedanken zum 'großen Umbruch' im Werk Karl Mays
    • Ulrich Melk: Vom klassischen Reiseroman zum mythisch-allegorischen Spätwerk. Kontinuität und Wandel narrativer Strukturen in Karl Mays 'Silberlöwen'-Tetralogie
    • Wolfram Ellwanger: Begegnung mit dem Symbol. Gedanken zu Karl Mays 'Im Reiche des silbernen Löwen IV'
    • Ulrich Schmid: Die verborgene Schrift. Karl Mays Varianten zum 'Silberlöwen III/IV'
    • Jürgen Hahn: Sprache als Inhalt. Zur Phänomenologie des 'alabasternen Stiles' in Karl Mays Roman 'Im Reiche des silbernen Löwen'. Ein Entwurf
    • Volker Krischel: „Wir wollen nicht Herren über euren Glauben sein, sondern Helfer zu eurer Freude“. Anmerkungen zu Karl Mays Religionskritik im 'Silberlöwen III/IV'
    • Christoph F. Lorenz: „Das ist der Baum El Dscharanil“. Gleichnisse, Märchen und Träume in Karl Mays 'Im Reiche des silbernen Löwen III und IV'
    • Dieter Sudhoff: Karl Mays Großer Traum. Erneute Annäherung an den 'Silbernen Löwen'
    • Hansotto Hatzig: Die Frauen im Reiche des silbernen Löwen. Lesenotizen und Impressionen
    • Franz Hofmann: Höllensturz und Verklärung. Der Handlungsabschluß im 'Silberlöwen' als Paradigma für die Alterswerke Karl Mays
  • Hans Wollschläger: Das „Hohe Haus“. Karl May und das Reich des Silbernen Löwen. In: Jb-KMG 1970, S. 118–133. Online-Version
  • Otto Eicke: Der Bruch im Bau, in: Karl-May-Jahrbuch 1930 (Onlinefassung), S. 77–126.
  • Hans Wollschläger: Annäherung an den Silbernen Löwen. Lesensarten zu Karl Mays Spätwerk, Wallstein Verlag, Göttingen 2016, ISBN 978-3-8353-1970-7.
  • Joachim Kalka: (Werkartikel zu) Im Reiche des silbernen Löwen III/IV. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 288–301; 2. erweiterte und bearbeitete Auflage Würzburg 2001, S. 236–240.
  • Arno Schmidt: Abu Kital. Vom neuen Großmystiker. In: Dya Na Sore. Gespräche in einer Bibliothek. Karlsruhe 1958, S. 150–193; heute in: Arno Schmidt: Dialoge 2 (Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe II/2). Zürich 1990, S. 31–59.
  • Hermann Wohlgschaft: „Was ich da sah, das ward noch nie gesehen“. Zur Theologie des „Silberlöwen III/IV“. In: Jb-KMG 1990, S. 213–264. Online-Version

Weblinks

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