Illiteralität

Fliegende Blätter, 1849. Zwei illiterate Bauern bitten einen Herrn, einen Wahlzettel für sie auszufüllen

Der Ausdruck Illiteralität (von lateinisch littera – „Buchstabe“) bezeichnet im Wortsinn eine mangelnde Schreib- und Lesekompetenz (Analphabetismus) und ist die Negation von Literalität.

Der englische Begriff illiteracy bzw. illiterate wird zudem häufig mit „Bildungslosigkeit“, „ungebildet“ übersetzt.[1] In dieser Bedeutung ist Illiteralität (von lateinisch illiteratus[2]) auch im Deutschen verbreitet, sie umfasst den Mangel an Textverständnis und Sinnverstehen, geringe sprachliche Abstraktionsfähigkeit, mangelnde Vertrautheit mit Büchern, Texten und Geschichten, allgemeiner die fehlende Medienkompetenz.

Schriftlose Kulturen verfüg(t)en in der Regel dennoch über (komplexe) mündliche Überlieferungen, mündliche Literatur und Erzählungen. Ebenso verfügen in heutigen alphabetisierten Kulturen auftretende Analphabeten trotz ihrer nicht oder kaum vorhandenen Schriftkompetenz über Wissen und Bildung in Form von Geschichten (z. B. Moderne Sagen) und Literatur, die sie durch Film und Fernsehen, durch soziale Kontakte u. ä. vermittelt erhielten und selbst vermitteln.

Abzugrenzen ist Illiteralität von Illetrismus, der unter anderem in der Pädagogik als funktionaler Analphabetismus enger gefasst wird. Das Fehlen einer, in einer Kultur verankerten, Lese- bzw. Schreibfähigkeit[3] wird als Illiteralität bezeichnet.

Hintergründe

Sprache kann sich in zwei wesentlichen Weisen verwirklichen. Aus der Perspektive ihrer Expressionsweisen kann Sprache in einer gesprochenen (Rede) und in einer geschriebenen (Text) Weise geäußert werden. Ein sprachliches Zeichen kann als akustisches (Sprechen) oder aber grafisches Zeichen (Schreiben, Lesen) realisiert und vom Rezipienten in einem medialen Kommunikations­prozess aufgenommen werden.[4][5]

Verbengesprochene Sprachegeschriebene Sprache
Gestalt oder FormPhonieGrafie
BedeutungSemantik (Bedeutung, z. B. Hören)Semantik (Bedeutung, z. B. Lesen)

[6]

Beide Expressionsweisen ermöglichen in der menschlichen Interaktion spezielle kommunikative Aufgaben, die sich im Kontext ihrer geschichtlich-kulturellen Entwicklung zeigen. Allgemein betrachtet können versprachlichte Bewusstseinsinhalte, Äußerungen potentiell über einen längeren Zeitraum aufbewahrt und unabhängig vom Ort ihrer Produktion und ihrer Zeit wiederholt werden (Piktogramm, Schrift, Schreibgerät, Hieroglyphenschrift, Tontafel, Quipu, Wachstafel, Buch, Publikation usw.) wenn sie verschriftlicht wurden. Die geschriebene Sprache ist das Mittel der indirekten Kommunikation.

Die gesprochene Sprache setzt den Kontakt zum Interaktionspartner voraus. Daraus ergibt sich im Allgemeinen ein gemeinsamer Situationsbezug (Kontext) der eine sofortige Rückkopplung ermöglicht. Sie ist das Mittel der direkten Kommunikation. Während die gesprochene Sprache kommunikative Mittel zum Ausdruck von Emotionen, Gemütsbewegungen im Sinne von Affekten[7] besitzt, so etwa in der Art der Intonation, der Wort- und Satzmelodie, dem Akzent die sich im Gegenüber über eine Emotionserkennung dechiffrieren lassen, sind in der geschriebenen Sprache solche Eigenschaften nur durch sekundäre Mittel auszudrücken, etwa durch Satzzeichen, Erzählweise u. ä. m.

In der geschriebenen Sprache besteht kein unmittelbarer Kontakt zwischen den Kommunizierenden, auch besteht im Allgemeinen kein direkter gemeinsamer Kontext oder Situationsbezug, so dass in der geschriebenen Sprache das Mitzuteilende der speziellen Form gemäß anders formuliert oder versprachlicht werden muss; die Texte sind zumeist komplizierter gestaltet, sie sind von einer höheren Intentionalität und Antizipation geprägt. Dadurch ist die Reichweite innerhalb einer Kultur höher, der Grad der Konservierung und Reproduktion ausgeprägter und die Möglichkeit die Wirklichkeit in spezifische Realitäten mit größerer Präzision, Vollständigkeit und Überschaubarkeit abzubilden. Der kulturelle Vorteil liegt darin, dass die geschriebene Sprache zeitunabhängig verstanden und das der Inhalt mehrmals gelesen werden kann.[8]

Die Verschriftlichung der gesprochenen Sprache ist eine der frühesten Kulturtechniken die – abgesehen von der Entwicklung der „Sprache“ auf der Basis der menschlichen Sprachfähigkeit als solches – die Menschheit entwickelt. Als ein Medium zur Kommunikation bzw. als Kommunikationsmittel hält sie den Prozess der Weitergabe (Mündliche Überlieferung vs. Schriftliche Überlieferung) und Archivierung von Wissen aufrecht (siehe auch Geschichte der Schrift).

Siehe auch

Literatur

  • Ivan Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos „Didascalicon“. Luchterhand, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-630-87105-4.
  • John Allen Paulos: Beyond Numeracy. Ruminations of a Numbers Man. Knopf, New York NY 1991, ISBN 0-394-58640-9, (Borzoi book).
  • John Allen Paulos: Innumeracy. Mathematical Illiteracy and its Consequences. Hill and Wang, New York NY 1989, ISBN 0-8090-7447-8.

Weblinks

Wiktionary: Illiteralität – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Mihai Nadin: Jenseits der Schriftkultur. 1999.
  2. Vgl. etwa Herbert Grundmann: Litteratus – illiteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter. In: Ausgewählte Aufsätze (= Schriften der Monumenta Germaniae Historica. Band 25). 3 Bände. Hiersemann, Stuttgart 1976–1978, ISBN 3-7772-7613-8, Band 3: Bildung und Sprache. 1978, ISBN 3-7772-7803-3, S. 1–66.
  3. Vergleiche auch Gesprochene Sprache vs. Geschriebene Sprache.
  4. Für den Kommunikationsprozess ist grundlegend zunächst die sinnlich-perzeptive Erfahrung (Sinnesphysiologie); so dann die kognitiv-emotionale Verarbeitung und Bewertung, z. B. Theory of Mind.
  5. Karl-Ernst Sommerfeldt, Günter Starke, Dieter Nerius (Hrsg.): Einführung in die Grammatik und Orthographie der deutschen Gegenwartssprache. Bibliographisches Institut, Leipzig 1981, S. 23 f.
  6. modifiziert nach Dieter Nerius, Jürgen Scharnhorst: Sprachwissenschaftliche Grundlagen einer Reform der deutschen Orthographie. Linguistische Studien des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR, Reihe A, Berlin 1975, S. 7
  7. Georgi Schischkoff (Hrsg.): Wörterbuch der Philosophie. 22. Auflage. Kröner, Stuttgart 1991.
  8. Dieter Nerius, Jürgen Scharnhorst: Sprachwissenschaftliche Grundlagen einer Reform der deutschen Orthographie. Linguistische Studien des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR, Reihe A, Berlin 1975, S. 11

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