Idschtihād

Idschtihād (arabisch اجتهاد, DMG iǧtihād ‚Anstrengung‘) ist ein terminus technicus der islamischen Rechtstheorie, der die Findung von Normen durch eigenständige Urteilsbemühung bezeichnet. Er steht verkürzt für den arabischen Ausdruck iǧtihād ar-raʾy („Bemühung um ein eigenes Urteil“).[1] Das Gegenstück zum Idschtihād ist Taqlīd („Nachahmung“). Der Anwender des Idschtihād wird Mudschtahid genannt; zum Teil wird dieser Begriff auch auf die Personen angewendet, die nicht selbst Idschtihād ausüben, sondern nur die Befähigung dazu besitzen.

Inhalt und Rechtfertigung des Idschtihād

Frühe muslimische Rechtsgelehrte wie asch-Schāfiʿī setzten den Idschtihād noch völlig mit dem Analogieschluss (Qiyās) gleich. In diesem Fall wurde es als die Aufgabe des Mudschtahid betrachtet, die Ratio legis (ʿilla) zu bestimmen, die dem in Koran oder Sunna beschriebenen Ausgangsfall und dem zu lösenden Zielfall gemeinsam ist.[2] Später wurde angenommen, dass der Idschtihād auch verschiedene Verfahren der Textinterpretation von Koran und Sunna einschließt. Der schafiitische Abū Ishāq asch-Schīrāzī (gest. 1083) erklärte: „Idschtihād ist im Wortgebrauch der Rechtsgelehrten die Verausgabung der eigenen Fähigkeit und die Aufwendung der Mühe auf der Suche nach dem auf die Scharia gegründeten Urteil.“[3] Seit al-Ghazali (gest. 1111) gibt es die Tendenz, auch dem Prinzip des Gemeinwohls (maṣlaḥa) große Bedeutung im Prozess der rationalen Urteilsfindung zuzumessen.[4]

Nach der Herausbildung der verschiedenen Rechtsschulen entwickelte sich im sunnitischen Islam die Vorstellung, dass die Möglichkeit des Idschtihād eingeschränkt sei. Gegen Vertreter dieser Auffassung wandte sich der ägyptische Gelehrte Dschalāl ad-Dīn as-Suyūtī (gest. 1505). Er erklärte in einer seiner Schriften, dass Idschtihād in jedem Zeitalter eine kollektive Pflicht (farḍ kifāya) der Muslime sei, so dass die Umma, solange nicht einzelne Gelehrte dieser Aufgabe nachkommen, insgesamt irregehe.[5]

Zur Rechtfertigung der Idschtihād-Anwendung wird üblicherweise ein Hadith angeführt, wonach der Prophet, als er seinen Gefährten Muʿādh ibn Dschabal in den Jemen entsandte, fragte, wie er handele, wenn er ein Urteil fällen müsse. Muʿādh antwortete ihm darauf, dass er sich zunächst an dem Buch Gottes orientiere; wenn er darin nichts finde, an der Sunna des Propheten; und wenn auch diese nichts enthalte, werde er sich sein eigenes Urteil bilden. Der Prophet billigte diese Antwort. Der Hadith ist unter anderem in dem Musnad von Ahmad ibn Hanbal überliefert. Zwar weist er Lücken im Isnad auf,[6] doch wird er in der sunnitischen Rechtstheorie allgemein als normative Grundlage akzeptiert.[7] Heutige sunnitische Gelehrte sehen im Idschtihād vor allem ein unverzichtbares Mittel zur Rechtsfortbildung.[8]

Die erkenntnistheoretische Beurteilung des Idschtihād-Ergebnisses

Da verschiedene Gelehrte unterschiedliche Meinungen vertraten, stellte sich die Frage: Hat jeder Mudschtahid Recht oder nur einer, während die anderen irren? Der basrische Gelehrte ʿUbaidallāh al-ʿAnbarī (gest. 785) stellte den Grundsatz auf: „Wo immer jemand ein selbständiges Urteil fällt, trifft er etwas Richtiges“ (kull muǧtahid muṣīb).[9] Die Gelehrten, die sich dieser Ansicht anschlossen, wurden als „Für-Richtig-Halter“ (muṣauwiba) bezeichnet, die Vertreter der Gegenrichtung als „Für-Falsch-Halter“ (muḫaṭṭiʾa).[10]

Unter den „Für-Richtig-Haltern“ werden allerdings genau genommen die Vertreter zweier divergierender Auffassungen zusammengefasst. Während die einen meinten, dass es zu einer Frage, zu der ein einschlägiger Text fehlt, mehrere richtige Antworten geben könne, waren andere der Auffassung, dass es nur eine definitiv richtige Antwort gebe, diese jedoch niemand kennen könne, so dass die Urteile aller Mudschtahids für richtig gehalten werden müssten. Letztgenannte erkenntnistheoretische Position, die dem Fallibilismus nahesteht, wird von modernen arabischen Rechtstheoretikern als „muʿtazilitisches Für-Richtig-Halten“ (taṣwīb muʿtazilī) bezeichnet, erstere als „aschʿarītisches Für-Richtig-Halten“ (taṣwīb ašʿarī).[11]

Idschtihād im Bereich der Schia

Das Konzept des Idschtihād wurde in der frühen Schia zunächst abgelehnt. Abū l-Hasan al-Aschʿarī berichtet in seinem Werk Maqālāt al-islāmīyīn: „Die Rāfiditen in ihrer Gesamtheit lehnen den idschtihād ar-raʾy bei den Rechtsbestimmungen (aḥkām) ab und erkennen ihn nicht an.“[12] Im Zuge der Übernahme der Rechtsfindungsmethoden des sunnitischen Islam wurde später aber der Idschtihād von den meisten Zwölfer-Schiiten anerkannt.

Eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung des Idschtihād-Konzeptes spielte die sogenannte Schule von Hilla.[13] Die beiden Gelehrten al-Muhaqqiq al-Hillī (gest. 1277) und al-ʿAllāma al-Hillī (gest. 1325) integrierten das Prinzip in ihre Werke über die „Prinzipien der Rechtsfindung“ (uṣūl al-fiqh) und beschrieben es inhaltlich.[14] Im Unterschied zum sunnitischen Islam ist bei den Zwölfer-Schiiten die Anwendung der Vernunft (ʿaql) die grundlegende Form des Idschtihād. Das schließt auch bestimmte Formen der Gewichtung (tardschīh) ein.[15] Allein in der Achbārīya, einer traditionalistisch ausgerichteten Minderheitengruppe innerhalb der Zwölfer-Schia, wird die Anwendung des Idschtihād noch abgelehnt.

Idschtihād und Reform des Islams

Der Idschtihād spielt seit dem 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle im islamischen Reformdiskurs, besonders im Zuge der Auseinandersetzung mit europäischen Philosophien der Aufklärung. Insbesondere nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches wurde im Idschtihād eine Möglichkeit gesehen, auf Rufe nach einer vernunftbasierten Reform der islamischen Rechtsauslegung zu reagieren. Nach Muhammad Iqbāl (1877–1938) ist Vielfalt und stetiger Wandel die Grundlage des spirituellen Lebens, also auch des Islams. Beständige Prinzipien müssten jedoch die Dynamiken der Gesellschaft regeln, deshalb gelte es einen Ausgleich zwischen Wandel in Form von Idschtihād und Einheit in Form von Tauhīd zu finden. Während die europäische Gesellschaft einem ständigen Wandel unterliege, sei die islamische Gesellschaft durch den Taqlīd wie gelähmt.[16] Idschtihād bietet somit nach Iqbāl eine Alternative für die islamische Gesellschaft, ein neues religiöses Selbstbewusstsein zu entwickeln, das sowohl auf der alten Tradition des Idschtihād beruht als auch auf rationalistischen, als fortschrittlich erachteten Denkweisen. Die Wiederaufwertung des Prinzips des Idschtihād im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert sieht Iqbāl als essentiell für die Entstehung islamischer Reformbewegungen wie den Salafismus und Staatstheorien wie die der Türkei.[17]

Die Notwendigkeit eines neuen, zeitgemäßen Idschtihād wird vor allem im Zusammenhang mit dem sogenannten Fiqh al-aqallīyāt betont. Grundgedanke ist hierbei die Idee, dass für die in den westlichen Ländern lebenden muslimischen Minderheiten durch Idschtihād eine neue Normenlehre entwickelt werden muss. Im Verständnis aktivistischer Reform-Muslime wie Irshad Manji oder Abdelwahab Meddeb bedeutet Idschtihād eine undogmatische, vernunftgeleitete Denkweise, die es jedem Muslim erlaube, seine religiöse Praxis im Lichte zeitgenössischer Umstände auf den neuesten Stand zu bringen: „Um Idschtihad zu praktizieren [...], müssen wir nur offen unsere Fragen an den Islam stellen.“[18]

Der ägyptische Reformdenker Nasr Hamid Abu Zaid (1943–2010) äußerte sich dagegen eher skeptisch hinsichtlich des Innovationspotentials des Idschtihād-Konzepts. Hilal Sezgin zitiert ihn mit den Worten:

„Aber die große Hoffnung, die sich mit einem solchen Unternehmen verbindet, teile ich nicht. Idschtihad bedeutet nämlich definitionsgemäß nicht, etwas Neues in unser Verständnis von Religion zu bringen oder etwas wirklich zu erneuern. Idschtihad bedeutet eigentlich, innerhalb der Tradition unter den verschiedensten Ansichten zu einem Thema die geeignetste Lösung zu finden. Diese Suche nach Neuem ist immer noch darauf begrenzt, mit dem zu arbeiten, was sich innerhalb der traditionell gesteckten Grenzen finden lässt. Dabei nimmt idschtihad die Tradition als gegeben an und wendet sich dem zu, was unsere Vorfahren gesagt und gedacht und erreicht haben.“

Nasr Hamid Abu Zaid: Mohammed und die Zeichen Gottes. 2008, S. 198.

Wenn die gesamte Tradition einer kritischen Interpretation und Prüfung unterzogen werden solle, so meint Abu Zaid, lasse sich das mit den Mitteln des Idschtihād nicht leisten, weil er zu sehr an die Vorstellung eines islamischen Rechts gebunden sei. Kritisches muslimisches Denken müsse weiter gehen und breiter angelegt sein als Idschtihād.[19]

Literatur

  • Lutz Wiederhold: Das Manuskript Ms. orient. A 918 der Forschungsbibliothek Gotha als Ausgangspunkt für einige Überlegungen zum Begriff „iǧtihād“ in der sunnitischen Rechtswissenschaft. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Bd. 143, Nr. 2, 1993, S. 328–361, JSTOR:43378626.
  • Norman Calder: "Doubt and prerogative: the emergence of an Imami Shīʿī theory of ijtihād" in Studia Islamica 70 (1989) 57–78.
  • Éric Chaumont: La Problématique Classique de l'Ijtihâd et la Question de l'Ijtihâd du Prophète: Ijtihâd, Waḥy et ʿIṣma. In: Studia Islamica. Nr. 75, 1992, ISSN 0585-5292, S. 105–139, doi:10.2307/1595623.
  • Birgit Krawietz: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam (= Schriften zur Rechtstheorie. H. 208). Duncker und Humblot, Berlin 2002, ISBN 3-428-10302-5 (Zugleich: Tübingen, Universität, Habilitations-Schrift, 1999).
  • Rudolph Peters: Idjtihād and taqlīd in 18th and 19th century Islam. In: Die Welt des Islams. Bd. 20, Nr. 3/4, 1980, S. 131–145, doi:10.2307/1569501.
  • Lutz Wiederhold: Spezialisierung und geteilte Kompetenz – Sunnitische Rechtsgelehrte über die Zulässigkeit von iǧtihād. In: Die Welt des Orients. Bd. 28, 1997, S. 153–169, JSTOR:25683645.
  • Intisar A. Rabb: Ijtihād. In: John L. Esposito (Hrsg.): The Oxford Encyclopedia of the Islamic World. Band 2: Creeds – Intercession. Oxford University Press, Oxford u. a. 2009, ISBN 978-0-19-530513-5, Sp. 522b–527. (Online-Version).
  • Abbas Poya: Anerkennung des iǧtihād. Legitimation der Toleranz. Möglichkeiten innerer und äußerer Toleranz im Islam am Beispiel der iǧtihād-Diskussion (= Islamkundliche Untersuchungen. Bd. 250). Schwarz, Berlin 2003, ISBN 3-87997-306-7.
  • Muhammad Daud Rahbar: „Shāh Walī Ullāh and ijtihād: a translation of selected passages from his ʿIqd al-jīd fī aḥkām al-ijtihād wa-l-taqlīd“ in The Muslim World 45 (1955) 346-358.
  • Wael B. Hallaq: Was the gate of ijtihad closed? In: International Journal of Middle East Studies. Bd. 16, Nr. 1, 1984, ISSN 0020-7438, S. 3–41, doi:10.1017/S0020743800027598.
  • Abdullah Saeed: “Ijtihād and Innovation in Neo-Modernist Islamic Thought in Indonesia” in Islam and Christian-Muslim Relations 8 (1997) 279–295.
  • Muhammad Iqbal: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam. Aus dem Englischen von Axel Monte und Thomas Stemmer. Hans Schiler, Berlin 2003. ISBN 3-89930-016-5. Digitalisat
  • Nasr Hamid Abu Zaid mit Hilal Sezgin: Mohammed und die Zeichen Gottes. Der Koran und die Zukunft des Islam. Herder, Freiburg u. a., 2008. S. 188–206.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Wael B. Hallaq: A History of Islamic Legal Theories. An Introduction to Sunnī uṣūl al-fiqh. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 1997, ISBN 0-521-59027-2, S. 15.
  2. Vgl. Rumee Ahmed: Narratives of Islamic Legal Theory. Oxford University Press, Oxford u. a. 2012, ISBN 978-0-19-964017-1, S. 115–128.
  3. Al-Iǧtihād fī ʿurf al-fuqahāʾ istifrāġ al-wusʿ wa-baḏl al-maǧhūd fī ṭalab al-ḥukm aš-šarʿī. Vgl. Abū Iṣḥāq aš-Šīrāzī: al-Lumaʿ fī uṣūl al-fiqh. Dār al-Kalima, Kairo 1997, ISBN 977-5826-06-3, S. 135.
  4. Vgl. Poya: Anerkennung des iǧtihād. 2003, S. 84 f.
  5. Vgl. Elizabeth M. Sartain: Jalāl al-Dīn al-Suyūṭī. = Ǧalāl-ad-Dīn as-Sūyuṭī. Band 1: Biography and background (= Cambridge University. Oriental Publications. 23). Cambridge University Press, Cambridge u. a. 1975, ISBN 0-521-20547-6, S. 63.
  6. Vgl. Poya: Anerkennung des iǧtihād. 2003, S. 50 f.
  7. Vgl. Krawietz: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam. 2002, S. 208–209.
  8. Poya: Anerkennung des iǧtihād. 2003, S. 103.
  9. Vgl. Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. Band 2. de Gruyter, Berlin u. a. 1992, ISBN 3-11-012212-X, S. 161 f.
  10. Poya: Anerkennung des iǧtihād. 2003, S. 123–125.
  11. Vgl. Krawietz: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam. 2002, S. 344.
  12. Vgl. Abū l-Ḥasan ʿAlī Ibn Ismāʾīl al-Ašʿarī: Kitāb Maqālāt al-islāmīyīn wa-ḫtilāf al-muṣallīn (= Bibliotheca Islamica. Bd. 1). Herausgegeben von Hellmut Ritter. Maṭbaʿat ad-daula u. a., Istānbūl u. a. 1929–1933, S. 53, Z. 4, (online).
  13. Vgl. dazu Heinz Halm: Die Schia. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1988, ISBN 3-534-03136-9, S. 84–90.
  14. Vgl. dazu Devin J. Stewart: Islamic Legal Orthodoxy. Twelver Shiite Responses to the Sunni Legal System. University of Utah Press, Salt Lake City UT 1998, ISBN 0-87480-551-1, S. 15 f.
  15. Vgl. Poya: Anerkennung des iǧtihād. 2003, S. 112–122.
  16. Iqbāl: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam. 2003, S. 175.
  17. Iqbāl: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam. 2003, S. 177–181.
  18. Irshad Manji: Der Aufbruch. Plädoyer für einen aufgeklärten Islam (= dtv. 34193). Aktualisierte Taschenbuchausg. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2005, ISBN 3-423-34193-9, S. 75.
  19. Abu Zaid/Sezgin: Mohammed und die Zeichen Gottes. 2008, S. 198f.