Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse

Die Internationale Bewertungsskala für nukleare und radiologische Ereignisse (Abkürzung INES von englisch International Nuclear and Radiological Event Scale) ist eine Festlegung für sicherheitsrelevante Ereignisse, im Speziellen Störfälle und Atomunfälle in kerntechnischen Anlagen, insbesondere die Sicherheit von Kernkraftwerken betreffend.

Geschichte

Die Skala wurde von einer internationalen Expertengruppe erarbeitet, die gemeinsam von der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) und der Kernenergiebehörde der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einberufen wurde, und 1990 offiziell eingeführt.[1] Ziel der Skala ist es, der Öffentlichkeit anhand einer nachvollziehbaren Einstufung der Ereignisse eine rasche Information über die sicherheitstechnische Bedeutung eines Ereignisses zu liefern und damit die Verständigung zwischen Fachwelt, Medien und Öffentlichkeit zu erleichtern.

Die Bewertungsskala hatte ursprünglich sieben Stufen. Später wurde noch die Stufe 0 für Ereignisse ohne sicherheitstechnische Bedeutung hinzugefügt.

Schweregrade

Die Stufe 0 wird als Abweichung, die Stufen 1 bis 3 werden als Störungen und Störfälle, die Stufen 4 bis 7 als Unfälle klassifiziert.[2] Der Skala liegt ein logarithmischer Maßstab zugrunde: Ein Übergang auf die nächste Stufe bedeutet einen zehn Mal größeren Schweregrad. Die meldepflichtigen Stufen von Ereignissen werden nach drei Aspekten bewertet:[3][4]

  • Auswirkungen auf Menschen und Umwelt
  • Beeinträchtigungen radiologischer Barrieren und Überwachungsmaßnahmen
  • Beeinträchtigung von Sicherheitsvorkehrungen
Anzahl der Störfälle in Deutschland (ohne DDR)
  • INES 2 000003 (Philippsburg 2, Unterweser)
  • INES 1 000033 (Philippsburg 1, Brunsbüttel, Neckarwestheim 1, ...)
  • INES 0 004551
Vereinfachte Beschreibung der einzelnen INES-Stufen[2]
StufeKlassifizierungBezeichnung[4]
 
Original[3]
Auswirkungen auf Menschen und UmweltBeeinträchtigungen radiologischer Barrieren und Überwachungs­maßnahmenBeeinträchtigung von SicherheitsvorkehrungenBeispiele
7UnfallKatastrophaler
Unfall
 
Major
accident
  • Erhebliche Freisetzung radioaktiver Stoffe (Radio­logische Äquivalenz zu >50.000 TBq Iod-131) mit weit­reichenden Auswir­kungen auf Mensch und Umwelt, welche die Umsetzung geplanter und erweiterter Gegen­maßnahmen nötig macht.
6Schwerer
Unfall
 
Serious
accident
  • Bedeutende Freisetzung radioaktiver Stoffe (Radio­logische Äquivalenz zu >5000 TBq Iod-131), welche die Notwendig­keit einer Umsetzung geplanter Gegen­maßnahmen wahrscheinlich macht.
  • Viele Todesfälle (>30) durch Strahlenexposition.
5Ernster
Unfall
 
Accident
with wider
consequences
  • Begrenzte Freisetzung radio­aktiver Stoffe (Radiologische Äquivalenz zu >500 TBq Iod-131 oder 2500facher D2-Wert), welche die Notwendigkeit einer Umsetzung einiger geplanter Gegen­maßnahmen wahr­scheinlich macht.
  • Mehrere Todesfälle (>3) durch Strahlen­exposition
  • Schwere Schädigung (einige Prozent) des Reaktor­kerns (Kernschmelze)
  • Freisetzung großer Mengen radioaktiver Stoffe innerhalb einer Anlage mit einer hohen Wahr­schein­lichkeit einer bedeutenden Strahlen­exposition der Bevölkerung
4Unfall
 
Accident
with local
consequences
  • Geringfügige Freisetzung radio­aktiver Stoffe (Radiologische Äquivalenz zu >50 TBq Iod-131 oder 250facher D2-Wert), in deren Folge die Umsetzung geplanter Gegen­maßnahmen mit der Ausnahme lokaler Lebens­mittel­kontrollen unwahrschein­lich ist
  • Mindestens ein Todesfall durch Strahlen­exposition
  • Schmelzen oder Beschädigung des Kern­brenn­stoffs mit resultierenden Freisetzung von mehr als 0,1 Prozent des Kern­inventars.
  • Freisetzung bedeutender Mengen radio­aktiver Stoffe (>5000 TBq) innerhalb einer Anlage mit einer hohen Wahr­schein­lich­keit einer bedeutenden Strahlen­exposition der Bevölkerung
3StörfallErnster
Störfall
 
Serious
incident
  • Strahlenexposition über das Zehn­fache des gesetzlich festgelegten Jahresgrenzwertes für beruflich strahlen­exponiertes Personal (>60 mSv) hinaus
  • Nicht tödliche deterministische Schäden (z. B. Verbrennungen) durch Strahlen­exposition
  • Dosisleistung von mehr als 1 Sv/h in einem betrieblichen Bereich.
  • Schwerwiegende Kontamination in einem von der Auslegung nicht vorgesehenen Bereich mit einer geringen Wahrschein­lichkeit einer bedeutenden Strahlen­exposition der Bevölkerung
  • Beinahe-Unfall in einem Kernkraftwerk, bei dem keine Sicherheits­vorkehrungen mehr verbleiben
  • Verlust oder Diebstahl einer umschlossenen hoch­radioaktiven Strahlenquelle
  • Falsch ausgelieferte umschlossene hoch­radioaktive Strahlen­quelle ohne etablierte adäquate Strahlen­schutz­anweisung für ihre Handhabung
2Störfall
 
Incident
  • Strahlenexposition einer Einzelperson der Bevölkerung über 10 mSv hinaus
  • Strahlenexposition einer beruflich strahlen­exponierten Person über die gesetzlich festgelegten Jahresgrenzwerte hinaus
  • Dosisleistung von mehr als 50 mSv/h in einem betrieblichen Bereich
  • Bedeutsame Kontamination innerhalb der Anlage in einem von der Auslegung dafür nicht vorgesehenen Bereich.
  • Störfälle, Ereignisse oder Befunde mit besonderer sicherheits­technischer Bedeutung, jedoch ohne tatsächliche Auswirkungen
  • Fund einer umschlossenen hoch­radioaktiven herrenlosen Strahlen­quelle, eines Geräts oder Versandstücks mit intakten Sicherheits­vorkehrungen
  • Inadäquate Verpackung einer umschlossenen hochradioaktiven Strahlen­quelle
1Störung
 
Anomaly
  • Geringe Überschreitung der gesetzlich festgelegten Abgabegrenzwerte
  • Strahlenexposition einer Einzelperson der Bevölkerung jenseits der gesetzlich festgelegten Grenzwerte
  • Ereignisse oder Befunde mit sicherheits­technischer Bedeutung, jedoch mit verbleibenden wesentlichen gestaffelten Sicherheits­vorkehrungen
  • Verlust oder Diebstahl einer radioaktiven Quelle, eines Geräts oder eines Versandstücks mit geringer Aktivität
0AbweichungEreignis ohne
oder mit
geringer
sicherheits-
technischer
Bedeutung
 
Below scale−
No safety
significance
  • Keine oder nur sehr geringe sicherheits­technische Bedeutung

Ereignismeldung nach INES in Deutschland

Die Einstufung nach INES erfolgt bei Auftreten eines Ereignisses durch den Kraftwerksbetreiber. Im Auftrag des Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit übernimmt anschließend ein Experte der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit gGmbH als INES-Officer[17] die Überprüfung der Einstufung. INES-Officers werden in jedem Mitgliedsland der INES ernannt. Weicht die Einstufung des INES-Officers bei seiner Überprüfung von der Einstufung des Kraftwerksbetreibers ab, so wendet er sich zunächst direkt an den Betreiber. Sollte keine Anpassung der INES-Stufe durch den Betreiber erfolgen, so informiert der INES-Officer die zuständige Landesbehörde und das Bundesumweltministerium. Ereignisse ab der INES-Stufe 2 werden vom INES-Officer unmittelbar an die IAEO in Wien gemeldet.[4]

Kritik

Schwächen in der INES-Skala wurden durch Vergleiche zwischen der Tschernobyl-Katastrophe und dem Unfall von Fukushima deutlich. Drei Punkte wurden aufgeworfen:

  1. Sie unterscheidet nicht zwischen der Magnitude (Wie schwer ist der Vorfall im Reaktor?) und der Intensität (Welche Auswirkungen hat der Vorfall auf die Umwelt?), wie es z. B. bei einer Erdbebenskala der Fall ist.
  2. Sie ist eine diskrete Skala, die Abstufungen zwischen den einzelnen Schweregraden nicht erlaubt. Zudem ist sie für Ereignisse über der Stufe 7 nicht definiert; sie ist somit keine kontinuierliche Skala.
  3. Sie wurde als Werkzeug für die Öffentlichkeitsarbeit konzipiert, und nicht als objektives wissenschaftliches Maß.

Laut Angaben von Nuklearsicherheits-Experten wird die INES-Skala in der Zukunft überarbeitet. Grund dafür ist die verwirrende Weise, in welcher sie zur Bewertung des Fukushima-Unglücks angewandt wurde: Der Schweregrad des Unglücks wird nicht von der IAEO festgelegt, sondern von einer nationalen Behörde. Zunächst wurde das Ereignis als "5" auf der INES-Skala bezeichnet, und zwar für die einzelnen betroffenen Reaktoren separat. Später wurde das Unglück jedoch auf "7" heraufgestuft.[18]

David Smythe erwähnt, dass die INES-Skala eines Zwischenfalls nach einem 200 Seiten starken Handbuch bestimmt werden müsse. Eine von ihm entworfene kontinuierliche Magnituden-Skala (NAMS, Nuclear Accident Magnitude Scale) versucht, diesen Mangel zu beheben.[19]

Auch andere Autoren kritisieren INES als inkonsistent und werfen der IAEO vor, dass zahlreiche die Nuklearsicherheit betreffende Ereignisse bislang noch nicht mit der INES-Skala bewertet wurden. Ähnlich wie bei Smythe wird erklärt, der eingetretene Schaden – unter anderem der ökonomische – würde nicht durch die INES-Skala reflektiert. Wäre dies der Fall, müsse die Katastrophe von Fukushima mit 10 oder 11 bewertet werden, anstelle mit bloß 7.[20]

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. http://www.world-nuclear-news.org/RS_Event_scale_revised_for_further_clarity_0510081.html
  2. a b Bekanntmachung über die Anwendung der deutschen Fassung des Handbuchs der Internationalen Nuklearen und Radiologischen Ereignis-Skala (INES) in kerntechnischen Einrichtungen sowie im Strahlenschutz außerhalb der Kerntechnik vom 20. Februar 2015 (BAnz AT 30.03.2015 B1). (PDF; 4,36 MB) Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, abgerufen am 6. Januar 2019.
  3. a b International Nuclear Events Scale (INES). IAEA, abgerufen am 13. April 2011 (englisch).
  4. a b c INES – International Nuclear Event Scale. Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, abgerufen am 3. Februar 2012.
  5. Chernobyl: Assessment of Radiological and Health Impact, Chapter 2. (Memento vom 20. April 2011 auf WebCite) 2002, archiviert vom Original, abgerufen am 6. April 2011.
  6. a b INES (the International Nuclear and Radiological Event Scale) Rating on the Events in Fukushima Dai-ichi Nuclear Power Station by the Tohoku District - off the Pacific Ocean Earthquake (Memento vom 12. April 2011 auf WebCite) (englisch, pdf). NISA/METI, 12. April 2011, archiviert vom Original, abgerufen am 12. April 2011.
  7. a b Rob Edwards: Russia's Toxic Shocker. In: New Scientist. 6. Dezember 1997, S. 15 (Online).
  8. Helmholtz-Zentrum-München: Podcasts 2007 - Audiobeitrag: 50 Jahre Strahlenunfall von Kysthym (Artikel mit mp3-podcast und PDF)@1@2Vorlage:Toter Link/www.helmholtz-muenchen.de (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im April 2019. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis., Interview mit Dr. Peter Jacob, 25. September 2007
  9. Three Mile Island experience and its influence on radiation protection procedures. Journal of the Society for Radiological Protection, 26. März 1985, abgerufen am 23. März 2011.
  10. Bericht der IAEO zum Goiânia-Unfall (englisch). September 1988 (Online [PDF; 6,4 MB; abgerufen am 21. Oktober 2021]).
  11. Erwin Jurtschitsch: Die wahre Katastrophe in Tomsk-7. Focus Nr. 16 (1993), 19. April 1993, abgerufen am 13. März 2016.
  12. Ulrich Weissenburger: Nukleare Umweltgefährdung in Russland. In: Wochenbericht 21/96. DIW Berlin, 26. Februar 2007, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 8. August 2007; abgerufen am 13. März 2016.
  13. Ministerium für Umwelt und Verkehr Baden-Württemberg (Hrsg.): Abschlussbericht des Ministeriums für Umwelt und Verkehr Baden-Württemberg zu den meldepflichtigen Ereignissen 06/2001, 07/2001 und 08/2001 im Kernkraftwerk Philippsburg, Block 2. Stuttgart Juni 2003 (PDF [abgerufen am 13. April 2011]).
  14. Zwischenfall im Atomkraftwerk Leibstadt. In: NZZ Online. Neue Zürcher Zeitung, 1. September 2010, abgerufen am 4. September 2010.
  15. AKW Leibstadt: Notstandssystem war nur eingeschränkt verfügbar. Abgerufen am 15. Dezember 2021.
  16. FRM II,Technische Universität München: Meldepflichtiges Ereignis neu eingestuft. Abgerufen am 15. Januar 2021.
  17. Paul Laufs, Reaktorsicherheit für Leistungskraftwerke, Band 1, Springer-Vieweg 2018, S. 264
  18. Geoff Brumfiel: Nuclear agency faces reform calls. International Atomic Energy Agency's remit under scrutiny. In: Nature. Springer, 26. April 2011, abgerufen am 26. August 2016 (englisch).
  19. David Smythe: An objective nuclear accident magnitude scale for quantification of severe and catastrophic events. In: Physics Today. doi:10.1063/PT.4.0509.
  20. Spencer Wheatley, Benjamin Sovacool and Didier Sornette: Of Disasters and Dragon Kings: A Statistical Analysis of Nuclear Power Incidents & Accidents. 10. April 2015, arxiv:1504.02380v1.