Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft

Die Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft (Apowi, ab 1956 Hochschule für Sozialwissenschaften) war eine von 1949 bis 1962 bestehende Hochschule mit Sitz in Wilhelmshaven-Rüstersiel.

Geschichte

Die Errichtung der Hochschule erfolgte im Mai 1949 aufgrund einer Entschließung des Niedersächsischen Landtages vom Dezember 1947. Der Standort Wilhelmshaven wurde gewählt, um die bisherige Garnisonsstadt durch die Ansiedlung neuer Landeseinrichtungen zu unterstützen. Das Angebot der Hochschule richtete sich schwerpunktmäßig an bereits im Beruf stehende Interessenten. Charakteristisch für die Hochschule war der relativ hohe Anteil an Studenten aus Arbeiterkreisen sowie die Einrichtung eines vorgeschalteten Propädeutikums für Bewerber ohne Abitur zur Erlangung der Hochschulreife (aus dem später – nach der Auflösung der Hochschule 1962 – das Oldenburg-Kolleg hervorging[1]). An der Hochschule waren unter acht Professoren gleichzeitig nur wenige hundert Studierende eingeschrieben. Mit der Berufung Wolfgang Abendroths zum Rektor[2] und der Wahl Rüdiger von Tresckows zum AStA-Vorsitzenden sollte ein Zeichen gegen die restaurativen Tendenzen an den Universitäten in Westdeutschland gesetzt werden.

1952 wurde die Hochschule mit Rektoratsverfassung und Habilitations- und Promotionsrecht ausgestattet; sie verlieh den Abschluss als Diplom-Sozialwirt[3] und den Grad eines „Doctor disciplinae politicae“[4]. 1956 erfolgte die Umbenennung in „Hochschule für Sozialwissenschaften“.

Konservative Politiker und Standesvertreter kritisierten die Apowi jedoch anfangs als „Gewerkschafts-Hochschule“ oder „SPD-Kadettenanstalt“.[5][6] Ab Mitte der 1950er Jahre änderte sich allerdings durch verschiedene Neuberufungen die politische Ausrichtung der Hochschule. Die Apowi betrieb u. a. ein Institut zum Studium der Sowjetwirtschaft unter dem Volkswirt Friedrich Lenz, das eine Schriftenreihe herausgab.[7]

Die Westdeutsche Rektorenkonferenz weigerte sich, die Einrichtung als eine den Universitäten gleichgestellte Hochschule anzuerkennen. Die Wilhelmshavener bemühten sich daher um eine Eingliederung in die Technische Hochschule Braunschweig oder alternativ um eine Verlagerung nach Bremen, das damals noch keine eigene Hochschule besaß.[5] Als der Wissenschaftsrat 1961 die Neugründung einer norddeutschen Universität vorschlug, wurde zeitweilig auch eine Verlagerung nach Hannover diskutiert.

Auf Beschluss der Landesregierung wurde die Hochschule schließlich zum 1. April 1962 in die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen eingegliedert; der Standort Wilhelmshaven wurde aufgegeben.[5] Zur akademischen Schlussfeier im Februar 1962 – vor der Eingliederung in die Universität Göttingen – seien die Studenten schwarz gekleidet erschienen, am Portal habe ein Trauerkranz gehangen, so wird berichtet.[8]

Als „Rüstersieler“ ging eine Gruppe von sozialdemokratisch orientierten Ökonomen und Soziologen um den späteren Bundesarbeitsminister Herbert Ehrenberg in die Geschichte der BRD ein, die als Vertreter eines linken Keynesianismus den Sozialstaat mithilfe der Erträge aus dem Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit ausbauen wollten.[9] Neben den Marxisten Wolfgang Abendroth und Werner Hofmann lehrte auch Ernst-Rudolf Huber hier, der wegen seines NS-Engagements nach 1945 Schwierigkeiten hatte, einen Ruf an eine Universität zu erhalten[10], möglicherweise eine Reaktion auf die Kritik aus konservativen Kreisen an der Hochschule. Studentenpfarrer wurde Reinhard Hübner.

Hochschuldorf Rüstersiel

Untergebracht war die Hochschule in einer 1935 errichteten und bis 1949 militärisch genutzten Barackensiedlung im Stadtteil Rüstersiel. Nach dem Vorbild US-amerikanischer Colleges sollten Studierende und Dozenten im „Hochschuldorf“ gemeinsam leben und arbeiten. Nach der Schließung der Hochschule wurde das „Hochschuldorf“ zunächst von der Bundesmarine übernommen, später wurden die Gebäude abgerissen und die Flächen lagen längere Zeit brach. Heute befindet sich am früheren Standort der Hochschule ein Wohngebiet. An die Hochschule erinnert dort lediglich noch die Straßenbezeichnung „Am Hochschuldorf“.

Bekannte Lehrende

Bekannte Studenten

Literatur

  • Jens Graul: „Wilhelmshaven muß mehr werden als es war.“ Der kulturelle Neuanfang 1945, Wilhelmshaven 2009.
  • Oliver Schael: Von der Aufgabe der Erziehung. Das gescheiterte Reformexperiment der „Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft“ in Wilhelmshaven-Rüstersiel (1949–1962). In: Detlef Schmiechen-Ackermann, Hans Otte, Wolfgang Brandes (Hrsg.): Hochschulen und Politik in Niedersachsen nach 1945 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, 274). Göttingen 2014, S. 53–79.
  • Gerd Diers: Die Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft, Hochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven-Rüstersiel – Darstellung und Deutung der Bemühungen um die Durchsetzung des Studienganges „Sozialwissenschaften“ und um die Anerkennung als wissenschaftliche Hochschule. Dissertation, Göttingen 1972.

Einzelnachweise

  1. Die Chronologie des Oldenburg-Kollegs, oldenburg-kolleg.de.
  2. Wolfgang Abendroth: Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche. Aufgezeichnet und hrsg. v. Barbara Dietrich u. Joachim Perels, Frankfurt am Main 1976, S. 206–211.
  3. Hochschule für Arbeit, Politik (und) Wirtschaft: Diplomprüfungsordnung für Sozialwirte an der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven-Rüstersiel, Wilhelmshaven 1952.
  4. DNB 575684658.
  5. a b c Wilhelmshaven: An die Leine, in: Der Spiegel, 31/1961.
  6. Wolfgang Brandes: Hochschulen und Politik in Niedersachsen nach 1945, Bericht von der 18. Tagung des Arbeitskreises für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen am 13. Oktober 2007 über den Vortrag von Oliver Schael, in: H-Net Reviews, February 2008.
  7. Schriften des Instituts zum Studium der Sowjetwirtschaft an der Hochschule für Sozialwissenschaften, Wilhelmshaven-Rüstersiel, Ausgaben 1–3, Duncker & Humblot, Berlin 1957.
  8. Ulrich Müller-Heinck: Ein erster Anlauf zu einem Universitätsstandort, in: Wilhelmshavener Zeitung vom 24. September 2012.
  9. Winfried Süß: Der bedrängte Sozialstaat. Abgerufen am 20. Juni 2018.
  10. Siehe Ewald Grothe: Eine ‚lautlose’ Angelegenheit? Die Rückkehr des Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber in die universitäre Wissenschaft nach 1945. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), S. 980–1001, hier S. 991–996.
  11. Martin Greiffenhagen: Jahrgang 1928. Aus einem unruhigen Leben, München/Zürich 1988, S. 71–79.