Hippotherapie
Die Hippotherapie ist als Form des Therapeutischen Reitens ein tiergestütztes, physiotherapeutisches Verfahren, bei dem speziell ausgebildete Pferde eingesetzt werden. Sie wird in allen Altersgruppen bei Erkrankungen des zentralen Nervensystems, des Stütz- und Bewegungsapparats eingesetzt.
Wirkungsweise
Hippotherapie ist eine Form der Krankengymnastik auf neurophysiologischer Basis. Dabei sitzt der Patient in der Gangart Schritt auf dem Pferderücken und das Therapiepferd wird als Medium verwendet, um dreidimensionale Schwingungen auf das Becken des Menschen zu übertragen. Die entstehenden Impulse ermöglichen das Training der Haltungs-, Gleichgewichts- und Stützreaktionen sowie eine Normalisierung der Muskelspannung. Dies erleichtert auch die Bewältigung des Alltags. Ein heilender Effekt soll hier vor allem dadurch erreicht werden, dass sich der menschliche Körper auf die Impulse, die durch das sich bewegende Pferd verursacht werden, neu einpendeln muss. Dabei werden alle Bewegungsachsen sowie Torsionsbewegungen genutzt. Zugleich kann das Pferd als Motivationshilfe dienen, indem es Therapeuten den Zugang zu Patienten ermöglicht. Auch bietet sich die Chance, durch Anwendung der Hippotherapie der so genannten Mattenmüdigkeit oder Therapieverdrossenheit beizukommen.[1]
Anwendung
Halbseitig gelähmte Menschen (Hemiparese) können ein Gefühl für ihre Körpermitte entwickeln. Menschen mit Gliedmaßenschäden (Dysmelie) und folgender Verkrümmung des Stützapparates stabilisieren ihre Muskulatur, lernen korrigierende Haltungen und verhindern so auch Gelenkfehlstellungen. Zugleich wird die Muskelspannung (Muskeltonus) positiv beeinflusst; schlaffe Muskeln spannen sich an, spastische, also zu stark gespannte, Muskulaturen geben nach. Dadurch wird die gesamte Haltung, vor allem aber die des Oberkörpers, geschult und das Balancegefühl wird verbessert.
Kontraindikationen
Nicht angewendet werden soll die Hippotherapie bei Patienten mit Entzündungen der Wirbelsäule oder medikamentös nicht gut eingestellten Anfallsleiden, mit einem aktiven Schub bei Multipler Sklerose, bei Gefahr von Thrombosen oder Embolien, Bluterkrankheit oder Pferdehaar-Allergie.
Ausbildung zum Hippotherapeuten
Physiotherapeuten und Ergotherapeuten, die Hippotherapie anbieten wollen, können hierzu eine Zusatzqualifikation erwerben, die unter anderem vom Deutschen Kuratorium für therapeutisches Reiten in Warendorf oder von der Europäischen Akademie für Equine Seminare in der Nähe von Hannover angeboten wird. Für die Schweiz kann sie entweder in Basel oder bei der Deutschen Gruppe Hippotherapie in Süddeutschland erworben werden. Die ZHW in Winterthur bietet eine weitere Ausbildungsmöglichkeit an.
Kritik
Der Hauptkritikpunkt an der Hippotherapie ist der hohe finanzielle Aufwand im Vergleich zu anderen therapeutischen Verfahren ohne nachgewiesenen höheren Nutzen. Obwohl in Deutschland schon 1982 bei einer Krankenkasse die Kostenübernahme einer Hippotherapie beantragt wurde, erging erst 2002 ein Urteil des Bundessozialgerichts (Urteil vom 19. März 2002, Az. B 1 KR 36/00 R),[2] wonach die Therapie nicht von der Krankenkasse finanziert werden muss. Es stützte sich dabei vor allem auf eine fehlende Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen.
Das Bundesministerium für Gesundheit hat am 20. Juni 2006 mitgeteilt, dass ein therapeutischer Nutzen der Hippotherapie nicht nachgewiesen ist und die Therapie daher als nicht verordnungsfähiges Heilmittel zu führen ist.[3] Andererseits hat sich die Hippotherapie bei Erkrankungen, die mit einem erhöhten Muskeltonus einhergehen (z. B. Spastik), als effektiv und als geeignetes Verfahren zur Behandlung der Myalgien bei myotoner Dystrophie Typ 2 erwiesen.[4]
Rezeption
Im deutschen Dokumentarfilm Stiller Kamerad (2017) spielt die Hippotherapie eine ausschlaggebende Rolle.
Siehe auch
Literatur
- Ingrid Strauß: Hippotherapie – neurophysiologische Behandlung mit und auf dem Pferd. 3. Auflage. Hippokrates, Stuttgart 2000, ISBN 3-7773-1368-8. (Mit einem Beitr. zur Kinder-Hippotherapie von Emmy Tauffkirchen)
- Ursula Künzle: Hippotherapie auf den Grundlagen der funktionellen Bewegungslehre Klein-Vogelbach. Hippotherapie-K, Theorie, praktische Anwendung, Wirksamkeitsnachweis. Springer, Berlin 2000, ISBN 3-540-65220-5.
- Wipke C. Hartje: Therapieren mit Pferden. Heilpädagogik – Hippotherapie – Psychiatrie. Ulmer. Stuttgart 2009, ISBN 978-3-8001-4646-8.
- Theres Germann-Tillmann, Lily Merklin, Andrea Stamm Näf: Tiergestützte Interventionen: der multiprofessionelle Ansatz. Hans Huber Verlag, Bern 2014, ISBN 978-3-456-85416-8, 352 S.
Weblinks
- Schweizer Gruppe für Therapeutisches Reiten ist der schweizerische Dachverband und bildet Reitpädagogen und Reittherapeuten aus.
- Österreichisches Kuratorium für Therapeutisches Reiten (OeKThR) ist der österreichische Dachverband und bildet Reittherapeuten aus.
- Europäische Akademie für Equine Seminare bildet ebenfalls Hippotherapeuten und Equine Ergotherapeuten aus.
- Deutsche Kuratorium für Therapeutisches Reiten der FN ist der deutsche Dachverband und bildet Reittherapeuten aus.
Einzelnachweise
- ↑ Christoph Gutenbrunner: Krankengymnastische Methoden und Konzepte. Therapieprinzipien und -techniken systematisch dargestellt. 1. Auflage. Springer, Berlin 2003, ISBN 978-3-540-43524-2, 4.12, S. 289 (books.google.de).
- ↑ Wortlaut des Urteils des Bundessozialgerichts zur Hippotherapie 2002 (Memento vom 29. September 2007 im Internet Archive) (PDF; 54 kB).
- ↑ Bundesanzeiger, 26. September 2006, S. 6499.
- ↑ Studie zur Wirksamkeit der Hippotherapie (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im April 2018. Suche in Webarchiven.) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (PDF; 256 kB), abgerufen am 27. Februar 2012.
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