Heiratspolitik
Heiratspolitik bezeichnet die planmäßige Vorgehensweise vieler hochadliger Familien und regierender Monarchen, die Herrschaft ihrer Person und Familie durch die gezielte Verheiratung ihrer Nachkommen abzusichern oder auszubauen und so die „vorhandenen Humanressourcen der Familie“[1] auszunutzen, indem möglichst wirkungsvolle Verbindungen mit anderen Herrscherhäusern eingegangen werden, bis hin zu Allianzen mit gegenseitigem Frauentausch. Diese Verbindungen sind oft arrangierte Heiraten und teils Zwangsheiraten, die bereits mit einer frühen Kinderverlobung eingeleitet werden können.
Im weitesten Sinne wird unter Heiratspolitik auch die strategische Auswahl von Heiratspartnern bei Großfamilien, Abstammungsgruppen (Lineages, Clans) und anderen sozialen Gruppen verstanden (siehe auch Heiratsregeln, Heiratskreis).[2]
Europäische Geschichte
Eine besondere politische Bedeutung hatte Heiratspolitik in der europäischen Vormoderne (500 bis 1000 n. Chr.), als der bürokratische Machtstaat der Moderne noch nicht ausgebildet war und Herrschaft nur über persönliche Beziehungen ausgeübt werden konnte. Heiratspolitik war folglich eng verbunden mit der hauptsächlichen Herrschaftsform der Erbmonarchie und des sie jeweils tragenden Herrscherhauses (Dynastie). Der deutsche Historiker Heinz Duchhardt ist der Ansicht, das Thema mache „einen eminent wichtigen Teil der Signatur des vormodernen Europa“ aus und hebe den Kontinent bis ins 19. Jahrhundert gegenüber den anderen hervor: „Dynastizismus und ,Heiratspolitik‘ der Dynastien zielen ins Zentrum des europäischen Mit- und Nebeneinanders: in die internationale Politik […], in die Kulturgeschichte des Politischen, in die Mentalitätsgeschichte, in die Konfessionalisierungsgeschichte.“[3] Der Historiker Walter Demel macht bei dieser Praxis „zumindest auf der Ebene des Hochadels wahrhaft ,europäische‘ Verflechtungen“ aus.[4] Auch der Historiker Ronald Asch betont, dass derartige Strategien vor allem im Hochadel Bedeutung hatten; beim landsässigen Niederadel sei die politische Auswirkung geringer und die Auswahlfreiheit bei Eheverbindungen dadurch größer gewesen.[5]
Eheschließungen konnten Bündnisse zwischen regierenden Häusern begründen oder stützen. Gerade nach Kriegen diente die Verheiratung von Nachkommen der bisher gegeneinander kämpfenden Kriegsparteien dazu, die Befriedung auch personell durch die so geschlossene dynastische Allianz abzusichern.[6]
Tobias Weller konnte 2004 mit seiner breit angelegten Studie Heiratspolitik des deutschen Hochadels im 12. Jahrhundert. unterschiedliche Heiratstypen unterscheiden. Zwischen den Fürsten des Reiches dienten Vermählungen, um einen Vertrag oder eine Übereinkunft zu bekräftigen[7], sicherten bzw. brachten politische Bindungen zum Ausdruck, „Rekonziliationsheiraten“ sollten Konflikte zwischen Dynastien beenden.[8] Als „Erwerbsheirat“[9] bezeichnet Weller wiederum Ehen, wenn die Mitgift der Braut im Vordergrund stand. Liebesheiraten bzw. persönliche Erwägungen blieben – wenn überhaupt nur – Männern vorbehalten. Einzige Ausnahme sei hier nach Weller die Pfalzgräfin Agnes von Staufen gewesen, die ihre Liebesheirat (Hochzeit von Stahleck) mit Heinrich von Braunschweig habe durchsetzen können.[10] Trennungen haben nach Weller genauso politischen Erwägungen gehorcht.
Auf der anderen Seite geriet ein herrschendes Haus durch Eheschließungen zur Konfliktbeilegung in eine mögliche Gefahr, da eine bisher konkurrierende Dynastie dadurch Teil der Erbfolge wurde – ein Konfliktpotenzial, das zu Erbfolgekriegen führen konnte, insbesondere im frühneuzeitlichen dynastischen Fürstenstaat des 17. und 18. Jahrhunderts, wie der deutsche Historiker Johannes Kunisch betonte.[11]
Bekannt wurde die weit verzweigte und wirksame Heiratspolitik der Habsburger, deren berühmt gewordener Leitspruch Bella gerant alii – tu, felix Austria, nube! („Kriege mögen andere führen – du glückliches Österreich, heirate!“) zum geflügelten Wort wurde. Beispielhaft entzündete sich der über zwei Jahrhunderte andauernde habsburgisch-französische Gegensatz an der Ehe des Sohnes von Kaiser Friedrich III., des späteren Kaisers Maximilian I. mit Maria von Burgund.[12][13]
Außerhalb Europas
Dass Heiraten auch in vormodernen Gesellschaften außerhalb Europas politischen Plänen unterlagen, aber auch dort kulturell spezifische – und meist engergefasste – Muster ausprägten, zeigt etwa die Heiratspolitik im frühislamischen Arabien.[14]
Siehe auch
Literatur
- Alfred Kohler: „Tu felix Austria nube…“. Vom Klischee zur Neubewertung dynastischer Politik in der neueren Geschichte Europas. In: Zeitschrift für historische Forschung. Band 21, 1994, S. 461–482.
- Wolfgang E. J. Weber: Dynastiesicherung und Staatsbildung. Die Entfaltung des modernen Fürstenstaates. In: derselbe (Hrsg.): Der Fürst. Ideen und Wirklichkeiten in der europäischen Geschichte. Böhlau, Köln u. a. 1998, ISBN 978-3-412-11996-6, S. 91–136.
- Karl-Heinz Spieß: Europa heiratet. Kommunikation und Kulturtransfer im Kontext europäischer Königsheiraten des Spätmittelalters. In: Rainer Christoph Schwinges, Christian Hesse, Peter Moraw (Hrsg.): Europa im späten Mittelalter. Politik, Gesellschaft, Kultur (= Historische Zeitschrift. Beihefte, Band 40). Oldenbourg, München 2006, ISBN 978-3-486-64440-1, S. 435–464.
- Tobias Weller: Die Heiratspolitik des deutschen Hochadels im 12. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2004 (Rheinisches Archiv 149).
- Heinz Duchhardt (Hrsg.): Dynastizismus und dynastische Heiratspolitik als Faktoren europäischer Verflechtung (= Jahrbuch für Europäische Geschichte. Band 8). Oldenbourg, München 2007, ISBN 978-3-486-58205-5.
- Hermann Weber: Die Bedeutung der Dynastien für die europäische Geschichte der frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Band 44, 1981, S. 5–32 (online).
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Jan Paul Niederkorn: Die dynastische Politik der Habsburger im 16. und frühen 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Europäische Geschichte. Band 8, 2007, S. 29–50, hier S. 31.
- ↑ Vergleiche beispielsweise zu Jäger und Sammlergesellschaften: Monika Oberhuber: Geschlechtsegalitäre Gesellschaften. Oder: „Same same but different“. Fakultät für Sozialwissenschaften, Universität Wien 2009, S. 159–160 und 170 (Diplomarbeit; online auf univie.ac.at, mit PDF-Download).
- ↑ Heinz Duchhardt: Dynastizismus und dynastische Heiratspolitik als Faktoren europäischer Verflechtung. In: Jahrbuch für Europäische Geschichte. Band 8, 2007, S. 1.
- ↑ Walter Demel: Der europäische Adel. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Beck, München 2005, ISBN 978-3-406-50879-0, S. 19.
- ↑ Ronald G. Asch: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Böhlau, Köln u. a. 2008, ISBN 978-3-8252-3086-9, S. 106.
- ↑ Martin Peters: Können Ehen Frieden stiften? Europäische Friedens- und Heiratsverträge der Vormoderne. In: Jahrbuch für Europäische Geschichte. Band 8, 2007, S. 121–134, hier S. 121.
- ↑ Vgl. Tobias Weller: Die Heiratspolitik des deutschen Hochadels im 12. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2004 (Rheinisches Archiv 149), S. 798.
- ↑ Vgl. Tobias Weller: Die Heiratspolitik des deutschen Hochadels im 12. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2004 (Rheinisches Archiv 149), S. 801.
- ↑ Vgl. Tobias Weller: Die Heiratspolitik des deutschen Hochadels im 12. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2004 (Rheinisches Archiv 149), S. 805.
- ↑ Vgl. Tobias Weller: Die Heiratspolitik des deutschen Hochadels im 12. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2004 (Rheinisches Archiv 149), S. 798.
- ↑ Johannes Kunisch (Hrsg.): Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates. Duncker & Humblot, Berlin 1982, ISBN 3-428-05106-8.
- ↑ Jan Paul Niederkorn: Die dynastische Politik der Habsburger im 16. und frühen 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Europäische Geschichte. Band 8, 2007, S. 29–50, hier S. 29.
- ↑ Beatrix Bastl: Habsburgische Heiratspolitik – 1000 Jahre Hochzeit? In: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft. Band 7, 1996, S. 75–89.
- ↑ Gabriele vom Bruck: Heiratspolitik der „Prophetennachfahren“. In: Saeculum. Band 40, Nr. 3–4, 1989, S. 272–295; zu den spezifischen Konventionen knapp auch Michael Mitterauer: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. 4. Auflage. Beck, München 2004, ISBN 3-406-50222-9, Kapitel 3: Gattenzentrierte Familie und bilaterale Verwandtschaft. Gesellschaftliche Flexibilität durch gelockerte Abstammungsbeziehungen. S. 70–108, hier S. 102 (Seitenansicht in der Google-Buchsuche).