Harnack-Prinzip
Das Harnack-Prinzip ist ursprünglich der Grundsatz, Forschungsinstitute um einen führenden Wissenschaftler herum aufzubauen und ihm weitreichende Entscheidungsfreiheit zu gewähren. Nach heutigem Verständnis stehen meist mehrere Spitzenforscher im Zentrum eines Forschungsinstituts.
Das Harnack-Prinzip ist nach Adolf von Harnack (1851–1930) benannt, der die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften konzipierte und von 1911 bis 1930 ihr erster Präsident war. Das Harnack-Prinzip wurde ursprünglich in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angewendet. Heute wird der Begriff vor allem mit Bezug zu ihrer Nachfolgerin verwendet, der Max-Planck-Gesellschaft.
Beschreibung
Das Harnack-Prinzip besagt, dass Forschungsinstitute um weltweit führende Spitzenforscher herum entstehen sollen, denen Handlungs- und Gestaltungsfreiheit eingeräumt wird: Sie bestimmen ihre Themen selbst, arbeiten unter optimalen Bedingungen und können ihre Mitarbeiter selbst aussuchen. Nach diesem Grundsatz entstanden die Kaiser-Wilhelm-Institute. Die Max-Planck-Gesellschaft übernahm bei ihrer Gründung im Jahr 1948 das Harnack-Prinzip und organisiert bis heute die Max-Planck-Institute im Wesentlichen nach dem Grundsatz der persönlichkeitszentrierten Forschungsorganisation.[1]
Das Harnack-Prinzip gilt als charakteristisches Merkmal der Max-Planck-Institute und als bewährte Methode bei der Organisation von Spitzenforschung. Martin Stratmann, der im Jahr 2014 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft wurde, stellte seine Amtszeit unter das Motto „Mehr Harnack wagen“. Im Zusammenhang mit einzelnen Fällen von Machtmissbrauch an Max-Planck-Instituten erläuterte er im September 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Harnack-Prinzip:[2]
„Dieser personenorientierte und vertrauensbasierte Ansatz hat die MPG zu einer der weltweit erfolgreichsten und renommiertesten Wissenschaftsorganisationen gemacht. […] Für mich ist das Harnack-Prinzip mehr und etwas Anderes als die Konzentration exekutiver Macht und Verantwortung in den Händen weniger Direktoren. Es ist Ausdruck von Wissenschaftsfreiheit. Davon sollen nicht nur Direktoren, sondern auch andere Forschende in der MPG profitieren. […] Zugleich ist das Harnack-Prinzip ein Leistungsprinzip. […] Der Auswahl und der angemessenen Betreuung von jungen talentierten Wissenschaftlern kommt dabei eine besondere Bedeutung zu.“
Begriffsgeschichte
Das Harnacksche Prinzip in der Mathematik, auch „Satz von Harnack“ genannt, ist der ältere Begriff. Das Harnacksche Prinzip wurde schon 1886 von dem Mathematiker Axel Harnack formuliert. Es hat mit dem Harnack-Prinzip nichts zu tun – außer insofern, als Adolf und Axel Harnack Zwillingsbrüder waren.
Wann der auf Adolf von Harnack bezogene Begriff „Harnack-Prinzip“ aufkam, ist unklar. Er wird oft mit der Formulierung erläutert, dass ein Forschungsinstitut „um einen Forscher herum“ aufgebaut wird. Dies geht darauf zurück, dass Adolf von Harnack 1928 bei der Hauptversammlung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in München über die Kaiser-Wilhelm-Institute sagte: „In so hohem Grade ist der Direktor die Hauptperson, daß man auch sagen kann: die Gesellschaft wählt einen Direktor und baut um ihn herum ein Institut.“[3]
Spätestens seit Ende der 1980er Jahre wurde das Harnack-Prinzip als Markenzeichen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Max-Planck-Gesellschaft sowie ihrer historischen Verbindung verstanden. Bei der Max-Planck-Gesellschaft wurde das Harnack-Prinzip zu einem sehr häufig, auch offiziell und bei festlichen Anlässen zitierten Schlagwort. Rudolf Vierhaus, langjähriger Direktor am Max-Planck-Institut für Geschichte, schlug 1989 vergeblich vor, den mittlerweile inflationär gebrauchten Ausdruck abzuschaffen. Er kritisierte, es gebe keine historische Grundlage für eine genaue Definition des Begriffs.[3]
Das Max-Planck-Institut für Chemie erklärt auf seiner Website, dass das ursprüngliche Harnack-Prinzip heute nur noch eingeschränkt gültig ist:[4]
„Das nach dem ersten Präsidenten der KWG Adolf von Harnack benannte Harnack-Prinzip beinhaltete ursprünglich zweierlei: zum einen die zentrale Stellung einer Forscherpersönlichkeit, um die herum ein Institut aufgebaut wurde, zum anderen die völlige Forschungsfreiheit, die ihm darin gewährt wurde. Heute ist das Harnack-Prinzip in dieser Form überholt: Fast ausnahmslos werden Max-Planck-Institute nicht um einen einzelnen Forscher herum gegründet, außerdem wird mehr Wert auf Interdisziplinarität und grenzüberschreitende Zusammenarbeit gelegt. Seine Geltung behält das Harnack-Prinzip bei der Auswahl der Forscherpersönlichkeit: Nur die Besten sollen mit den Forschungsressourcen ausgestattet werden, die sie dann eigenverantwortlich und frei nutzen dürfen.“
Literatur
- Bernhard vom Brocke, Hubert Laitko (Hrsg.): Die Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft und ihre Institute. Studien zu ihrer Geschichte: Das Harnack-Prinzip. Walter de Gruyter, Berlin/New York 1996, ISBN 3-11-015483-8.
- Hubert Laitko: Das Harnack-Prinzip als institutionelles Markenzeichen: Faktisches und Symbolisches. In: „Dem Anwenden muss das Erkennen vorausgehen“: Auf dem Weg zu einer Geschichte der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft (Second Extended Edition). Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Berlin 2015, online.
- Birgit Kolboske: Hierarchien. Das Unbehagen der Geschlechter mit dem Harnack-Prinzip. Frauen in der Max-Planck-Gesellschaft. (= Studien zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Band 3). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, ISBN 978-3-666-99370-1 (PDF auf der Webseite des Verlags kostenlos verfügbar).
Einzelnachweise
- ↑ Ein Porträt der Max-Planck-Gesellschaft mpg.de, abgerufen am 8. Januar 2023.
- ↑ Martin Stratmann: Max-Planck-Gesellschaft: Mehr Harnack wagen faz.de, 8. September 2018.
- ↑ a b Hubert Laitko: Das Harnack-Prinzip als institutionelles Markenzeichen: Faktisches und Symbolisches. In: „Dem Anwenden muss das Erkennen vorausgehen“: Auf dem Weg zu einer Geschichte der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft (Second Extended Edition). Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Berlin 2015, online. Abschnitt 3.2: „Harnack-Prinzip“ – Diffusion eines Terminus.
- ↑ Häufige Fragen Website des Max-Planck-Instituts für Chemie, siehe Frage Was ist das Harnack-Prinzip?.