Hans Hinderer

Hans Hinderer (* 29. Januar 1929 in Köln; † 21. Mai 2006 in Halle) war ein deutscher Jurist und Professor für Strafrecht.[1]

Leben

Der Sohn eines Versicherungsangestellten, namens Ernst Hinderer[2] und seiner Ehefrau Bella[3], musste 1939 das Humboldt-Gymnasium in Köln verlassen, weil der Oberschüler wegen seiner jüdischen Mutter ab 1935 als so genannter „Jüdischer Mischling ersten Grades“ rechtlich eingestuft wurde. Nach dem "Zusammenbruch des Faschismus" arbeitete er zunächst ehrenamtlich und später hauptamtlich als Ortsgruppen-Sekretär der SPD in Bautzen und wurde nach der Vereinigung mit der KPD bei der SED weiterbeschäftigt.[4]

Berufsweg zum Strafrechtler

Er erreichte es, trotz der im nationalsozialistischer Staat verweigerten höheren Schulbildung durch entsprechende Fort- und Weiterbildung sowie Rechtspraxis in der SBZ und danach in der DDR, Rechtswissenschaftler zu werden. Dabei führte ihn sein Lebens- und juristischer Berufsweg von Köln am Rhein ins Erzgebirge, dann in die Oberlausitz, das Elbsandsteingebirge sowie in die sächsische Landeshauptstadt Dresden und über das brandenburgische Potsdam-Babelsberg nach Halle an der Saale: In den Jahren 1947/48 besuchte er einen Ausbildungslehrgang für Richter und Staatsanwälte in Sachsen, der nach Kriegsende zum dritten Mal in einem ehemaligen Amtsgericht in Bad Schandau durchgeführt wurde.[5] Nach diesem Lehrgang war Hinderer ein halbes Jahr juristischer Referent im Büro des Ministerpräsidenten von Sachsen Max Seydewitz. Kurze Zeit arbeitete er als Amtsrichter in Bautzen, wo er am dortigen Amtsgericht schon eine vierteljährliche Vorbereitungszeit für seinen Volksrichter-Lehrgang verbracht hatte. Im Jahre 1949 wurde Hinderer zunächst Seminarleiter für Strafrecht in einem weiteren Richterlehrgang in Bad Schandau und ab Juni 1952 kommissarischer Leiter des gesamten 7. Ausbildungslehrgangs. Anschließend wurde Hinderer nach Potsdam-Babelsberg versetzt. Er wurde in der Deutschen Hochschule der Justiz stellvertretender Direktor für die rechtswissenschaftliche Ausbildung bis zu ihrer Auflösung und in der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ ab 1. Januar 1953 kommissarischer Direktor des Instituts für Strafrecht. Ab 1952 wirkte er in der Redaktionskommission für die Herausgabe eines Strafrecht-Kommentars, Allgemeiner Teil, für die DDR mit. 1957 wurde er in die Gesetzgebungskommission für ein Strafgesetzbuch der DDR berufen. Als außerplanmäßiger Aspirant von 1953 bis 1955 schrieb er eine Dissertation zu Thema Das Subjekt des Verbrechens. Ab 1. Februar 1962 arbeitete er als Dozent für Strafrecht an der Universität Halle und wurde gleichzeitig mit der Leitung des Instituts für Strafrecht – nach dem Weggang des Strafrechtlers John Lekschas von Halle an die Humboldt-Universität zu Berlin – zunächst kommissarisch beauftragt. Am 27. Mai 1967 konnte er sich an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg auf dem Gebiet des Strafrechts habilitieren, nachdem er den Umfang der von ihm zitierten „westlichen Literatur“ – gemeint war insbesondere westdeutsche Fachliteratur – im Verhältnis zu den herangezogen "Klassikern des Marxismus-Leninismus" reduziert hatte.[6] Bereits im Jahr zuvor wurde er zum ordentlichen Professor für Strafrecht und Kriminologie an die Hallenser Universität berufen. In der Folgezeit leitete er das damalige Institut für Strafrecht an der MLU in Halle als Direktor.

Jurist für Medizinrecht

Neben dem Strafrecht widmete sich Hinderer zunehmend dem Medizinrecht. Sein Votum über „Das Sterben und der Tod aus der Sicht des Medizinrechts“ wurde in der Tageszeitung Neue Zeit im Jahre 1986 einer breiten Leserschaft durch den Kirchenredakteur Eberhard Klages (1930–1990) zur Kenntnis gebracht: „Zwar bekräftigt(e) der Rechtswissenschaftler das in der DDR geltende Verbot, den Tod eines anderen Menschen, auch wenn er leidet, vorzeitig und absichtlich herbeizuführen.“ Zugleich aber bemerkt(e) er: „Nicht in jedem Fall ist es geboten, den Sterbenden etwa auf eine Intensivstation zu überweisen, um dort den Prozess des Sterbens in einer quälenden Form ohne jede Hoffnung für den Sterbenden sinnlos zu verlängern“.[7]

Der Theologieprofessor und Autor Hans-Hinrich Jenssen (1927–2003) äußerte sich in seinem Bericht über eine 1987 von der Sektion Theologie der Universität Rostock organisierten Tagung zum Thema: Mensch und Tod – in theologischer, philosophischer und humanwissenschaftlicher Sicht, zu der Hinderer einen Rede-Beitrag leistete. Im Sinne persönlicher Akzentsetzung hob Jenssen aus Hinderers Vortrag hervor: Die Rechtswissenschaft muss optimale Bedingungen für die Erhaltung des Lebens sichern, darf aber nicht die Fiktion aufrechterhalten, dass Sterben immer vermeidbar sei. Sie muss dem erreichten medizinischen Fortschritt inhaltlich gerecht werden und dem Arzt die Entscheidungsfreiheit einräumen, im Interesse des Patienten zu handeln.[8]

Hinderer war ehrenamtliches Redaktionsmitglied in der internationalen Schriftleitung von Exerpta crimilogica[9] Er gehörte dem Internationaler Rat für Alkohol und Sucht (ICAA) an, einer der ältesten Nichtregierungsorganisationen, die im Bereich der Abhängigkeiten tätig sind; gegründet am 1. August 1907 in Stockholm (Schweden).

Am 31. August 1988 wurde Hinderer emeritiert.

Sein Nachfolger wurde der Strafrechtler Wolfgang Müller (* 1950), der an der Universität Jena 1979 promoviert und 1986 habilitiert hatte. Zunächst wurde er als Dozent tätig und dann als ordentlicher Strafrechts-Professor der Universität Halle sowie Dekan der Juristenfakultät. Nach der Deutschen Einheit wirkte er von Halle (Saale) aus – seit 1998 als Fachanwalt für Strafrecht – im gesamten Bundesgebiet als Strafverteidiger.[10]

Veröffentlichungen (Auswahl)

  • Das Subjekt des Verbrechens, 1955[11]
  • Der Täter in seiner Beziehung zur Straftat und zur Gesellschaft und die persönlichkeitsbedingten Grenzen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, 1966[12]
  • Täterpersönlichkeit und sozialistisches Strafrecht, 1967[13]
  • Das Geständnis. Kriminalistik, 1967[14]
  • Über die Aufgaben der Bekämpfung des Alkoholismus nach der Strafgesetzgebung der Deutschen Demokratischen Republik[15]
  • Internationales Seminar über die Verhütung und Behandlung des Alkoholismus, [Bericht] zusammen mit Gerhard Baatz[16] in: Staat und Recht, Heft 12/1969, S. 1919–1921
  • Personality Research and its importance for criminology and criminal law (Persönlichkeitsforschung und ihre Bedeutung für Kriminologie und Strafrecht), 1976[17]
  • Prof. em. Dr. sc jur. Rudolf Hermann – 70 Jahre, 1983[18]
  • Grundlagen des Medizinrechts in der DDR, 1986[19]
  • Gedanken über die künftige Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in der Bundesrepublik Deutschland, 1992[20]
  • Zu den Anklagen und Verurteilungen in "Waldheim"-Prozessen, 1995[21]

Im Jahre 1996 wurde ein Gesprächsprotokoll vom 13. Februar 1995 – angefertigt von Christian Rode, der 1993–1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht in Freiburg war, mit Prof. Hinderer in seinem Wohnort Halle (Saale) – zur Kriminologie in der DDR veröffentlicht.[22]

Der emeritierte Strafrechtler Karl Peters (1904–1998) von der Universität Münster beschrieb in einem Brief an Hans Hinderer das Leben seines ehemaligen Kollegen Arthur Wegner (1889–1989) und erwähnte darin die jüdische Abstimmung von Wegners Ehefrau.[23]

Auszeichnungen

Quellen

  • Werner Schuder (Hrsg.) Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1970- Band H–M. Berlin 1970, S. 1156, Spalte 1.
  • Rolf Lieberwirth: Geschichte der Juristischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg nach 1945. Fakten und Erinnerungen. Köln/München, 2008, ISBN 3-452-26840-3, S. 86, 93, 98, 104, 106 und 112.
  • Dirk Breithaupt: Rechtswissenschaftliche Biographie DDR. 1993, S. 301 f. [Hinderer, Hans]; DNB 940131013.
  • Irene Hinderer, Arno Hecht: Hans Hinderer † – ein Rechtswissenschaftler aus Leidenschaft[24]

Einzelnachweise

  1. Übersicht der Professoren an der hallischen Alma Mater in den Jahren 1945 – 1968; Hinderer, Hans
  2. Laut Greven's Adreßbuch von Köln und Umgegend 1939, Einwohnerverzeichnis I. Teil S. 427 Sp. 1, war Ernst Hinderer Versicherungs-Beamter; Die Anschrift "Markusstraße 63" in Köln war noch laut "Kölner Adresssbuch 1960" für den Verwaltungs-Angestellter i. R. Ernst Hinderer zutreffend
  3. Kurzform zu Isabella, eigentlich "die Schöne" laut Ines Schill: 4000 Vornamen aus aller Welt, ISBN 978-3-8094-0591-7, S. 36
  4. Maschinenschriftlicher Lebenslauf, datiert vom 15. Juli 1956 mit der Ortsangabe Babelsberg, als Anlage zu seiner Dissertation Das Subjekt des Verbrechens
  5. Dirk Breithaupt: Rechtswissenschaftliche Biographie DDR, Berlin 1993, S. 301 [Hinderer, Hans]
  6. Irene Hinderer u. Arno Hecht: Hans Hinderer † – ein Rechtswissenschaftler aus Leidenschaft in: Arno Hecht (Hrsg.): Enttäuschte Hoffnungen, Berlin 2008, ISBN 978-3-89793-145-9, S. (246-252) 249.
  7. Neue Zeit, 22. November 1986, S. 5
  8. Prof. Dr. Hans-Hinrich Jenssen: Der Mensch - konfrontiert mit dem Tod. Eindrücke vom 4. Güstrower Kolloquium, in Neue Zeit, 14. Februar 1987, S. 5
  9. Excerpta criminologica; Zeitschriften-Datenbank
  10. Dirk Breithaupt: Rechtswissenschaftliche Biographie DDR, Berlin 1993, S. 396 Müller, Wolfgang
  11. Dissertation vom 3. August 1955; DNB 480633436
  12. Habilitations-Schrift v. 27. Mai 1966; DNB 481399305
  13. In. Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; 1967, 11 [Hrsg. vom Institut für Strafrecht der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Redaktions-Kommission: Hans Hinderer u. Ulrich Lehmann]; DNB 364692863
  14. Mitautoren: Rudolf Herrmann (1913–2010) u. Ulrich Lehmann (* 1934), Berlin 1967, DNB 363844074
  15. Erstveröffentlichung: Juni 1971, in: British Journal of Addiction to Alcohol & Other Drugs; Wiley Online Library S. 9–17.
  16. Dissertation: Die objektiven Kriterien der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Kraftfahrzeugführer, die unter alkoholischer Beeinflussung mit einem Kraftfahrzeug am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen. Zugleich ein Beitrag zur Rechtsprechung und Strafgesetzgebung; DNB 482222867
  17. In: Criminology between the rule of law and the outlaws. Volume in honour of Willem H. Nagel[1910–1983, niederländischer Jurist und Kriminologe], Herausgeber: C. W. G. Jasperse, K. A. Van Leeuwen-Burow, L. G. Toornvliet; Deventer 1976; ISBN 90-268-0844-5, S. 133–137
  18. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Band XXXII, Heft 6/1983, S. 123–124; DNB 011139390
  19. Luther, Ernst (* 1932): Ethik in der Medizin, Berlin 1986; ISBN 978-3-333-00029-9, S. 43–56
  20. Festschrift für Jürgen Baumann zum 70. Geburtstag am 22. Juni 1992; ISBN 978-3-7694-0462-3, S. S. 183–200
  21. In: Unrecht im Rechts-Staat: Strafrecht und Siegerjustiz im Beitrittsgebiet. Berlin 1995, S. 258–284; DNB 552102350
  22. In: Christian Rode (* 1967). Kriminologie in der DDR, Max‐Planck‐Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht, Freiburg i. Br. 1996; ISBN 978-3-86113-016-1, S. E1‐E19.
  23. Lieberwirth, Rolf: Geschichte der Juristischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg nach 1945. Fakten und Erinnerungen, Köln/München, 2008; ISBN 3-452-26840-3, S. 86 i. V. m. Fußnote 213.
  24. In: Arno Hecht (Hrsg.): Enttäuschte Hoffnungen. Berlin 2008, ISBN 978-3-89793-145-9, S. 246–252.

Weblinks