Hans-Ulrich Wittchen

Hans-Ulrich Wittchen (* 6. Juli 1951 in Bad Salzuflen) ist ein deutscher Klinischer Psychologe, Psychotherapeut und Epidemiologe. Von 2000 bis März 2017 war er Direktor des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie[1] und des Center of Clinical Epidemiology and Longitudinal Studies (CELOS)[2] an der Technischen Universität Dresden. Seit 2018 leitet er als Gastprofessor die Arbeitsgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapieforschung an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Leben und Ausbildung

Nach dem Abitur am Freiherr-von-Stein-Gymnasium in Leverkusen (1968) studierte Hans-Ulrich Wittchen Medizin und Psychologie in Wien. Nach dem Studium begann er seine Laufbahn als wissenschaftlicher Assistent des Lehrstuhls für Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät Universität Wien (1973–1976) und absolvierte eine Zusatzausbildung als Verhaltenstherapeut (Psychotherapie) beim Berufsverband Deutscher Verhaltenstherapeuten[3] und der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Verhaltenstherapie.[4] In Wien war Wittchen u. a. mit der Einführung verhaltenstherapeutischer Methodenentwicklung am Anton Proksch Institut für Alkoholkranke und dem Ludwig-Boltzmann Institut für Suchtforschung betraut und promovierte 1975 mit einer Arbeit zur klinischen Bedeutung von Biofeedbackmethoden zum Dr. phil.

Nach der Promotion wechselte er 1976 an das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, dann 1978 an das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. 1984 habilitierte er sich für das Fach Klinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität mit einer Schrift[5] über den Verlauf und Ausgang behandelter und unbehandelter psychischer Störungen. Von 1984 bis 1990 hatte er zudem die Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Mannheim inne und gründete dort die Institutsambulanz und das psychophysiologische Labor. 1989–1990 wurde er beurlaubt, um die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Alcohol, Drug and Mental Health Administration der Vereinigten Staaten bei der Vorbereitung von DSM-III-R[6] und der ICD-10[7] Klassifikationen zu unterstützen und begleitende Studien zu organisieren. 1990 folgte die Rückkehr an das Max-Planck-Institut für Psychiatrie als Leiter der Abteilung Psychologie. Ab 2004 leitete Wittchen die Arbeitsgruppe „Epidemiologie und Verlaufsforschung“ am Max-Planck-Institut für Psychiatrie.

Weitere berufliche Stationen waren das National Institute of Mental Health (Bethesda, USA), Ann Arbor (Michigan, USA) und die Harvard University in Boston (USA).

Von 2000 bis 2017 hatte Wittchen den Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Technischen Universität Dresden inne. Er war Direktor des Instituts für Klinische Psychologie und des Center of Clinical Epidemiology and Longitudinal Studies (CELOS), Direktor und Geschäftsführer des postgradualen Studienganges Psychologische Psychotherapie sowie der Institutsambulanz und Tagesklinik für Psychologie der Technischen Universität Dresden (IAP-TU Dresden GmbH).[8]

Wirken

Wittchen ist laut Web of Science „highly cited“ und wurde 2015 von Thomson Reuters unter „The World’s Most Influential Scientific Minds“ gelistet und gehört zu den höchst zitierten Wissenschaftlern in der Psychologie, Psychiatrie und Neurowissenschaften. Er betreibt ätiologische Grundlagenforschung zu Angststörungen und Depression, stress- und substanzbezogenen Störungen sowie den damit zusammenhängenden körperlichen Erkrankungen und verbindet in seiner Forschung interdisziplinär die Fachgebiete Klinische Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Epidemiologie.

Wittchen hat mit seinen Forschungsarbeiten, insbesondere durch seine Studien zu Angststörungen (Panikattacken, Panikstörung, Agoraphobie, Generalisierte Angststörung) und Depressionen sowie seinen Symptom-Progressionsmodell im Zusammenhang mit der Komorbiditätsforschung verbesserte therapierelevante diagnostische Konzepte entwickelt. Er forscht außerdem zur Häufigkeit, den Belastungseffekten, Verlauf, Versorgung, Therapie und Prävention psychischer Störungen in Deutschland und weltweit. Seine Reviews Size and burden of mental disorders in Europe – a critical review and appraisal of 27 studies (2005)[9] und The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010[10] gehören zu den meistzitierten jüngeren fachwissenschaftlichen Arbeiten.

Seit 1987 ist er Autor und Co-Autor der deutschen Version des US-amerikanischen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (3.–5. Revision). Hinsichtlich der Diagnostik psychischer Störungen (DSM-IV, ICD) war Wittchen an der Entwicklung diagnostischer Instrumente wie dem Strukturierten Klinischen Interview für Psychische Störungen (SKID)[11] oder dem Computerisierten Internationalen Diagnostischen Interview (CIDI) beteiligt.[12]

Fälschungsvorwürfe

Im Rahmen einer mit 2,5 Millionen Euro dotierten Feldstudie im Auftrag des G-BA untersuchte ein Forscherteam unter Leitung Wittchens den Zustand der Versorgung psychisch kranker Menschen in Deutschland. Die Studienergebnisse sollten als Grundlage für die Erarbeitung einer bundesweiten Richtlinie zu aktualisierten personellen Mindeststandards in psychiatrischen Kliniken dienen.[13] Im Zusammenhang mit dieser Studie wurden Ende 2018 von Whistleblowern Manipulationsvorwürfe erhoben, denen seit Februar 2019 eine Untersuchungskommission der TU Dresden nachgeht. Die Investigativ-Redaktion BuzzFeed News machte die Vorwürfe am 21. Februar 2019 erstmals öffentlich.[14] Unter erheblichem Zeitdruck sollen die Ergebnisse von Einzeldatenerhebungen dupliziert worden sein, um die erforderliche Gesamtzahl der untersuchten Kliniken zu erreichen.[15] Statt der von Wittchen angegebenen 93 Kliniken hatte sein Team höchstens 73 besucht.[16] Die von dem Hamburger Juristen Hans-Heinrich Trute geleitete Kommission entschied nach einer Vorprüfung der Anschuldigungen im Frühjahr 2019, ein förmliches Untersuchungsverfahren einzuleiten.[17] Am 6. Januar 2021 berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung von dem für Wittchen vernichtenden Ergebnis des noch nicht veröffentlichten Abschlussberichts der Kommission, welcher der Zeitung vorlag.[18] Der mehr als 200 Seiten umfassende[16] Kommissionsbericht stellt nach Angaben der Zeitung fest, Wittchen habe seine Mitarbeiter nicht nur bewusst zu weit reichenden Datenmanipulationen angehalten, sondern sei auch bei dem Versuch, die Fälschungen nachträglich zu verschleiern, betrügerisch vorgegangen. Die Kommission erkenne vorsätzliches Handeln und rege an, die strafrechtliche Verantwortlichkeit zu prüfen.[19] Des Weiteren hat Wittchen Projektmittel zweckentfremdet. Seiner Tochter, die letztlich keinerlei Arbeitsleistungen erbrachte, verschaffte er eine Vollzeitstelle mit einem Bruttogehalt von mehr als 40.000 Euro über die Projektlaufzeit.[16]

Mitgliedschaften

Hans-Ulrich Wittchen ist Sprecher mehrerer Forschungsverbünde (z. B. BMBF, ASAT, Panicnet[20]). Er war u. a. Task Force Member der APA-DSM-5 Kommission für Angststörungen[21] und Executive Council Mitglied des European College of Neuropsychopharmacology (ECNP)[22] und Task Force member des European Brain Council (EBC) „Size, burden and cost of disorders of the brain in Europe“.[23]

Er ist Projektleiter und Co-Investigator klinisch-therapeutischer und epidemiologischer Studien (u. a. MFS, EDSP,[24] WMH,[25] NCS,[26] IDEA, DETECT,[27] GEPAD, MentDis65+,[28] ROAMER[29] und Protect-AD). Er war zudem Mitglied des Senats der TU Dresden (2012–2017), Honorarprofessor für Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Honorarprofessor für Epidemiology and Public Health an der Miami University, Miller School of Medicine.

Schriften

Mit über 892 (2018) Peer-review-Publikationen gehört Wittchen zu den meistzitierten Wissenschaftlern seines Fachs weltweit (h-Index: 117, 64.159 Zitationen[30], Google Scholar: h-Index 182). Zu seinen Publikationen zählen deutsch- und englischsprachige Bücher als Herausgeber und Autor zur Epidemiologie und Behandlung psychischer Störungen. Zusammen mit Jürgen Hoyer ist er Herausgeber und Autor des im deutschen Sprachraum verbreiteten Lehrbuchs Klinische Psychologie und Psychotherapie[31] sowie weiterer fachwissenschaftlicher Bücher vor allem auf dem Gebiet der Verhaltenstherapie und Psychotherapie, z. B. Konfrontationstherapie bei Psychischen Störungen (zusammen mit Peter Neudeck)[32] Handbuch Psychischer Störungen[33] und Expositionsbasierte Therapie der Panikstörung und Agoraphobie.[34]

Im Bereich der patientenorientierten psychoedukativen Literatur verfasste er zusammen mit anderen Autoren Patientenratgeber wie z. B. Ratgeber Angst. Was Sie schon immer über Angst wissen wollten.

Hans-Ulrich Wittchen ist Gründer und Mitherausgeber einer Reihe von Fachzeitschriften u. a.: Verhaltenstherapie[35] und International Journal of Methods in Psychiatric Research.[36]

Auszeichnungen

  • 2003: Medvantis Research Prize, Berlin (65.000 €)
  • 2004: ISI/WOS Top 100 Highly-cited in Psychology/Psychiatry/Neuroscience
  • 2010: Vizepräsident des European College of Neuropsychopharmacology (ECNP)
  • 2012: Österreichische Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie: Wagner-Jauregg-Medaille für sein Lebenswerk.

Siehe auch

Weblinks

Belege

  1. Institute of Clinical Psychology and Psychotherapy
  2. Center of Clinical Epidemiology and Longitudinal Studies (CELOS)
  3. Berufsverband Deutscher Verhaltenstherapeuten@1@2Vorlage:Toter Link/www.dgvt.de (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  4. Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Verhaltenstherapie
  5. Verlauf und Ausgang behandelter und unbehandelter affektiver Störungen unter psychopathologischen, sozialen und psychologischen Aspekten. Fakultät für Psychologie und Pädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität, München 1984.
  6. DSM-III-R. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. American Psychiatric Association, Washington, DC 1987.
  7. Tenth Revision of the International Classification of Diseases Chapter V (F): Mental and Behavioral Disorders (including disorders of psychological development). Clinical descriptions and diagnostic quidelines. World Health Organization, Geneva 1991.
  8. Statusbericht des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden 2016/2017
  9. H. U. Wittchen, F. Jacobi: Size and burden of mental disorders in Europe–a critical review and appraisal of 27 studies. In: European neuropsychopharmacology : the journal of the European College of Neuropsychopharmacology. Band 15, Nummer 4, August 2005, S. 357–376, doi:10.1016/j.euroneuro.2005.04.012, PMID 15961293 (Review).
  10. H. U. Wittchen, F. Jacobi, J. Rehm, A. Gustavsson, M. Svensson, B. Jönsson, J. Olesen, C. Allgulander, J. Alonso, C. Faravelli, L. Fratiglioni, P. Jennum, R. Lieb, A. Maercker, J. van Os, M. Preisig, L. Salvador-Carulla, R. Simon, H. C. Steinhausen: The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. In: European neuropsychopharmacology : the journal of the European College of Neuropsychopharmacology. Band 21, Nummer 9, September 2011, S. 655–679, doi:10.1016/j.euroneuro.2011.07.018, PMID 21896369 (Review).
  11. H.-U. Wittchen, M. Zaudig, T. Fydrich: SKID. Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV. Achse I und II. Handanweisung. Hogrefe, Göttingen 1997.
  12. H. U. Wittchen, H. Pfister: DIA-X-Interviews: Manual für Screening Verfahren und Interview; Interviewheft Längsschnittuntersuchung (DIA-X-Lifetime); Ergänzungsheft (DIA-X-Lifetime); Interviewheft Querschnittsuntersuchung (DIA-X-12 Monate); Ergänzungsheft (DIA-X-12 Monate); PC-Programm zur Durchführung des Interviews (Längs- und Querschnittsuntersuchung); Auswertungsprogramm. Swets & Zeitlinger, Frankfurt 1997.
  13. Startseite. GWT-TUD GmbH, abgerufen am 21. Februar 2019 (Zwischenzeitlich geschlossen).
  14. Eine Grundlagenstudie für die zukünftige psychosoziale Versorgung in Deutschland soll manipuliert worden sein. 21. Februar 2019, abgerufen am 8. April 2021.
  15. Marc Scheloske: Patientenversorgung: Manipulationsverdacht bei deutschlandweiter Psychiatrie-Studie. In: Spektrum.de. 22. Februar 2019, abgerufen am 11. Februar 2021.
  16. a b c Marc Scheloske: „Er hatte absolute Narrenfreiheit“. In: Die Zeit Nr. 9 vom 25. Februar 2021, S. 35.
  17. Marc Scheloske: Neue Wendung in mutmaßlichem Forschungsskandal. In: Spektrum.de. 2. April 2019, abgerufen am 11. Februar 2021.
  18. Thomas Thiel: Machtpolitiker der Forschung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 4/2021 (6. Januar 2021), S. N4.
  19. Thomas Thiel: Kommission erhärtet Fälschungsvorwurf gegen Psychologen. In: FAZ. 7. Januar 2021, abgerufen am 11. Februar 2021.
  20. paniknetz.de Panicnet
  21. APA-DSM-5
  22. (ECNP) Size, burden and cost of disorders of the brain in Europe (Memento vom 23. September 2015 im Internet Archive)
  23. europeanbraincouncil.org (Memento vom 4. März 2016 im Internet Archive) Size, burden and cost of disorders of the brain in Europe
  24. EDSP-Studie (Memento vom 23. Februar 2016 im Internet Archive)
  25. WHO Mental Health Atlas 2011
  26. National Comorbidity Survey (NCS)
  27. DETECT-Studie
  28. MentDis65+ Studie
  29. roamer-mh.org ROAMER
  30. Clarivate Web of Science 2019 Metrics
  31. H.-U. Wittchen, J. Hoyer (Hrsg.): Klinische Psychologie und Psychotherapie. 2. Auflage. Springer, Heidelberg 2006.
  32. P. Neudeck, H.-U. Wittchen: Konfrontationstherapie bei psychischen Störungen. Hogrefe, Göttingen 2007.
  33. H.-U. Wittchen (Hrsg.): Handbuch Psychische Störungen. Beltz, Weinheim 1998.
  34. T. Lang, S. Helbig-Lang, D. Westphal, A. Gloster, H.-U. Wittchen: Expositionsbasierte Therapie der Panikstörung mit Agoraphobie : ein Behandlungsmanual. Hogrefe, Göttingen u. a. 2011.
  35. Verhaltenstherapie
  36. International Journal of Methods in Psychiatric Research