Gothiscandza

Grün = historische Region Götaland
Rosa = Gotland
Rot = vereinfachter Verlauf der Wielbark-Kultur

Gothiscandza (zu Deutsch „das Scandza der Goten“ oder „das gotische Scandza“) ist die Bezeichnung für einen Ort im Gebiet der Weichselmündung, an dem die Goten, aus ihrer skandinavischen Heimat kommend, gemäß ihrer mythischen Herkunftserzählung unter dem König Berig an der Ostseeküste anlandeten.

Der Name ist nur in den Getica des Jordanes aus dem sechsten Jahrhundert überliefert. In der Forschung wird Gothiscandza als eine gelehrte Konstruktion des Cassiodor gesehen, dessen verschollene Geschichte der Goten als Vorlage für Jordanes diente.

Name

Bei Gothiscandza (Nom. Sg.)[1] handelt es sich begrifflich um eine Hybridbildung, also Gothi-Scandza als Gegensatz zum eigentlichen Scandza, deren Schöpfer, wenn nicht Jordanes selbst, vermutlich Cassiodor war. Scandza ist die spätlateinische Lautung von Scandia, einer Verkürzung von Ska(n)dinavia aus urnordisch *Skaðin-aujō.[2] Gothi erscheint in den Quellen seit dem dritten Jahrhundert,[3] daher ist die Form Hermann Reichert zufolge verdächtig, da für eine authentische frühe Überlieferung ein u-Stamm vorliegen müsste, analog zur vergleichbaren Form des Toponyms Gutþiuda („Gotenvolk“).[4]

In der älteren Forschung wurde versucht, den Namen aus dem Gotischen zu deuten.[5] Theodor von Grienberger konstruierte zunächst ein starkes Femininum *Gutisk-andi („gotische Küste“), später deutete er die Bezeichnung als Dativ Lokativ *Gutisk-andeis aus gotisch andeis(„Ende“, mit Vergleich zu altisländisch endir „Ende, Rand“).[6] Rudolf Much stimmte Grienberger im Wesentlichen zu, nahm jedoch entgegengesetzt ein schwaches Maskulinum an und konstruierte *Gutisk-andja- ebenfalls mit Bezug zu altisländisch endi(r) und verglich sein Konstrukt mit den friesischen Landschaftsnamen Nord-endi und dem langobardischen Beleg Ant-aib mit den Bedeutungen „Grenz- oder Ufergau“.[7] Norbert Wagner wendet gegen beide Ansätze ein, dass „Komposita mit einem Adjektiv auf -isk- im Gotischen nicht belegt sind“. Wagner verweist ferner dahingehend auf Karl Müllenhoff, der den Namen als mutmaßliche gelehrte Schöpfung des Cassiodor wertete. Müllenhoff vermutete des Weiteren, dass dieser einen bei Ptolemaios (Geographike Hyphegesis) vorgefundenen Namen nach römischer Denkart kombinierte und aufbereitete.[8]

Der Name beruht letztlich auf der unzureichenden Kenntnis der mediterranen Historiographen von der gotischen Sprache und ist geprägt durch Vorstellungen von der skandinavischen Herkunft der Goten und anderer germanischer Gentes als Vagina nationum (vgl. Ethnogenese).[9]

Lokalisierung

Jordanes schildert die Herkunft der Goten in mythischer Vorzeit, wobei Berig mit drei Booten von Scandza aufbrach und bei Gothiscandza anlandete und in der Folge kriegerisch gegen die dort ansässigen Ulmerugier vorging, um Siedlungsraum zu gewinnen.[10] Aus dieser Angabe wurde in der Forschung versucht, verschiedene Orte und Landschaften an der heutigen polnischen Ostseeküste zu fixieren (Pommern bis Danziger Bucht). In Verbindung mit der regionalen eisenzeitlichen Kultur (Wielbark-Kultur) wird das Gebiet um das Weichseldelta als mögliches Gothiscandza gewertet. Aus der Annahme heraus, dass der Begriff einen Ortsnamen bezeichnen könnte, wurde versucht, den Namen der Stadt Danzig davon abzuleiten, beziehungsweise eine lautliche Kontraktion zu belegen.[11]

Literatur

  • Ottar Grønvik: Über die Herkunft der Krimgoten und der Goten der Völkerwanderungszeit. Eine sprachlich-kritische Beurteilung der Gotenfrage. In: John Ole Askedal, Harald Bjorvand (Hrsg.): Drei Studien zum Germanischen in alter und neuer Zeit. John Benjamins Publishing Company, Amsterdam/Philadelphia 2012, ISBN 978-87-7838-061-6, S. 69–94; hier S. 87–88 (Google-Buchsuche).
  • Hermann Reichert: Gothiscandza. In: Heinrich Beck, Heiko Steuer, Dieter Timpe (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 12. de Gruyter, Berlin/New York 1998, ISBN 3-11-016227-X, S. 443–444 (kostenpflichtig auf Germanische Altertumskunde Online bei de Gruyter).
  • Ludwig Rübekeil: Suebica – Völkernamen und Ethnos. (= Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft 68). Institut für Sprachwissenschaft, Innsbruck 1992. ISBN 3-85124-623-3, S. 93f., 138f., 142–143.
  • Corinna Scheungraber, Friedrich E. Grünzweig: Die altgermanischen Toponyme sowie ungermanische Toponyme Germaniens. Ein Handbuch zu ihrer Etymologie. (= Philologica Germanica 34). Fassbaender, Wien 2014, ISBN 978-3-902575-62-3, S. 178–179.
  • Herwig Wolfram: Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie. 4. Auflage C. H. Beck, München 2001, S. 47ff.
  • Winfred P. Lehmann: A Gothic Etymological Dictionary. Brill, Leiden/Boston 1986, ISBN 90-04-08176-3, S. 158, 163–165.
  • Norbert Wagner: Getica. Untersuchungen zum Leben des Jordanes und zur frühen Geschichte der Goten. de Gruyter, Berlin 1967, S. 209–210 (kostenpflichtig bei de Gruyter Online).
  • Hermann Reichert: Lexikon der altgermanischen Namen. Bände I, II. Verlag der ÖAW, Wien 1987, 1990, S. 388 (I), 531 (II).

Anmerkungen

  1. Lesarten der Handschriften der Getica: Für die Stelle Get. 4, 25: gothiscanza in O, gothiscantia in B, gothizanza in L. Für Get. 17, 94, 6 : gothiscandzam in A, gothes andza in P, gothiscandzae in X, Y, Z.
  2. Ottar Grønvik: Über die Herkunft der Krimgoten und der Goten der Völkerwanderungszeit. S. 87.
  3. Hermann Reichert: Lexikon der altgermanischen Namen. Band I, Wien 1987, S. 363ff.
  4. Friedrich E. Grünzweig: Gothiscandz. In: Corinna Scheungraber, Ders.: Die altgermanischen Toponyme sowie ungermanische Toponyme Germaniens. Wien 2014, S. 179.
  5. Friedrich E. Grünzweig: Gothiscandz. In: Corinna Scheungraber, Ders.: Die altgermanischen Toponyme sowie ungermanische Toponyme Germaniens. Wien 2014, S. 178.
  6. Theodor Grienberger: Ermanariks Völker. In: ZfdA 39 (1895), S. 154–184, hier S. 173 Anmerkung 1; ders.: Untersuchungen zur gotischen Wortkunde. Wien 1900, S. 8.
  7. Rudolf Much: Gothiscandza. In: Johannes Hoops (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Band 2, Strassburg 1915, S. 306.
  8. Karl Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde. Band 2, Berlin 1870–1900, S. 396.
  9. Ludwig Rübekeil: Scandinavia in the Light of Ancient Tradition. In: Oskar Bandle et al. (Hrsg.): The Nordic Languages, Bd. 1 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 22,1). de Gruyter, Berlin/New York 2002, ISBN 3-11-014876-5, S. 594–604, hier: S. 600 ff.
  10. Jord. Getica 4, 25 auf thelatinlibrary.com
  11. Heinrich Tiefenbach: Danzig. In: Heinrich Beck, Herbert Jankuhn, Kurt Ranke, Reinhard Wenskus (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Band 5. de Gruyter, Berlin/New York 1984, ISBN 3-11-009635-8, S. 253–254 (kostenpflichtig auf Germanische Altertumskunde Online bei de Gruyter).

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The red area is the extent of the en:Wielbark culture in the first half of the en:3rd century. The green area is the en:Götaland, and the pink area is the island of en:Gotland. The dark blue area is the en:Roman Empire (this map description was corrected on 10 April 2023; for reference see https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Chernyakhov.PNG)

My own map, based on en:User:Dbachmann's blank map.

The extent of the Wielbark culture is based on Zbigniew Babik: "Najstarsza warstwa nazewnicza na ziemiach polskich" Cracow 2001. See also John Haywood, Cassell's Atlas of World History, Cassel Reference, 2001. pp. 1.21, 2.19.