Gletschersturz an der Marmolata

Die Abbruchstelle am Gipfelgletscher der Punta Rocca, am 5. Juli 2022, dahinter die Gipfel der Punta Rocca und der Punta Penia
2013: Seilschaften auf dem Normalweg. Gipfelgletscher der Punta Rocca

Der Gletschersturz an der Marmolata war ein Eissturz am Berg Marmolata in den Dolomiten, der sich am Sonntag, dem 3. Juli 2022, ereignete. Ein riesiger Eisblock löste sich vom Gletscher. Die Eis- und Gesteinsmassen erfassten zwei Seilschaften und eventuell weitere einzelne Bergsteiger. Dies führte zum „schlimmsten Bergunglück der vergangenen Jahrzehnte in Italien“.[1]

Gletschersturz

Unter einem Gletscherabbruch, auch als Gletschersturz bezeichnet, versteht man einen „plötzlich als Eislawine“ abgehenden „Abbruch eines Gletscherteils“.[2] Bei dem Unglück riss das untere Ende des Gipfel-Gletschers der Punta Rocca (3309 m s.l.m.), des niedrigeren der beiden Gipfel der Marmolata, ab.[3] Die Abrisskante hatte eine Breite von 200 Metern und eine Höhe von 60 Metern. Die Eis- und Gesteinsmassen stürzten mehrere hundert Meter tief über den Nordhang auf die darunter vorbeiführende Normalroute zur Punta Penia (3343 m s.l.m.) und weiter bis knapp vor den rund 1,5 Kilometer entfernten Fedaia-Stausee. Das Unglück ereignete sich gegen 13:45 Uhr. Die Route war aufgrund des Zeitpunktes am frühen Nachmittag eines sommerlichen Sonntags stark begangen.[1][4][5][6]

Opfer und Rettungsmaßnahmen

Am Tag nach dem Unglück war der Tod von sieben Personen bestätigt. Unmittelbar nach dem Unglück wurden unter den Toten drei Italiener aus der norditalienischen Provinz Vicenza identifiziert, darunter ein 52-jähriger Bergführer, der eine von zwei betroffenen Seilschaften angeführt hatte. Acht Bergsteiger wurden zum Teil schwer verletzt. Neben den sieben bestätigten Toten galten am Unglückstag 14 weitere Menschen als vermisst. Nachdem zu einigen von ihnen Kontakt hergestellt werden konnte, sank die Zahl der Vermissten bis Dienstagabend auf fünf.[7] Unter den Verletzten befanden sich ein 67-jähriger Mann und eine 58-jährige Frau aus Deutschland,[8] ein anfänglich vermisster Niederösterreicher meldete sich am Tag nach dem Unglück bei den Behörden.[9] Aufgrund der Sicherheitslage, um die Bergungsarbeiten nicht zu behindern und Schaulustige fernzuhalten, wurde das gesamte Areal durch die Regierung der Autonomen Provinz Trient gesperrt.[10][11] Die Bergungsarbeiten mussten am Abend des Unglückstages aufgrund weiterer drohender Abstürze und am Folgetag wegen eines aufziehenden Gewitters unterbrochen werden. Die Chancen, weitere Überlebende in dem gewaltigen Lawinenkegel zu finden, wurden als sehr gering eingeschätzt[12] und die Suche auch in den Folgetagen aufgrund der anhaltenden Gefährdung mit Drohnen und Wärmebildkameras fortgesetzt. Der Lawinenkegel selbst habe sich derart verfestigt, dass man ihn selbst mit Spitzhacken kaum ergraben könne.[11] Die eindeutige Identifikation der bis dahin geborgenen Opfer erwies sich aufgrund der Wucht der Gesteins- und Eismassen als schwierig.[13][14]

Drei Tage nach dem Gletschersturz konnten die Bergungsmannschaften des Zivilschutzes und der Bergrettung zwei weitere Leichen ausmachen und bergen.[15] Die Toten gehörten vermutlich der gleichen Seilschaft an.[16] Die Zahl der bestätigten Todesopfer erhöhte sich damit auf neun Personen. Am Tag darauf bargen die Suchtrupps im unteren Teil des Lawinenkegels das zehnte Todesopfer. Um das Risiko für die Einsatzkräfte im Lawinenkegel so gering wie möglich zu halten, war der Einsatz auf die frühen Morgenstunden beschränkt worden. Des Weiteren konnten im Laufe des Tages zwei tschechische Bergsteiger neben den bereits bekannten vier italienischen Alpinisten identifiziert werden. Zwei Personen wurden nach wie vor vermisst.[17]

Sechs Tage nach dem Unglück wurde das elfte Todesopfer gefunden. Die Behörden gaben zugleich bekannt, dass sie nach den vorliegenden Informationen davon ausgehen, dass es keine weiteren Vermissten gebe. Zudem teilten sie mit, dass mit Hilfe von DNA-Proben alle Opfer identifiziert werden konnten. Nach der vorläufigen Schlussbilanz forderte der Gletschersturz elf Tote, darunter neun italienische und zwei tschechische Staatsbürger. Sieben Verletzte wurden nach wie vor im Krankenhaus versorgt, einer davon befand sich noch im kritischen Zustand auf der Intensivstation.[18]

Ursachen und Einordnung

Seitens der Bergretter wurde das Ereignis als außergewöhnlicher Vorfall, der mit einer normalen Lawine nicht zu vergleichen sei, bezeichnet. Nach ersten Vermutungen waren die extrem hohen Temperaturen der vorherigen Tage ein Faktor, der zu dem Unglück führte. Dazu war im vorigen Winter viel weniger Niederschlag als gewöhnlich gefallen, sodass dem Gletscher eine isolierende Schneeschicht als Schutz gegen die Sonne und die hohen Temperaturen fehlte. Reinhold Messner sah in dem Unglück eine Folge der Erderwärmung und des Klimawandels.[19] Durch auftauenden Permafrost bilde sich Wasser unter dem Gletscher.[20][21] In einer ersten Einschätzung ging der Glaziologe Georg Kaser ebenfalls von eindringendem Schmelzwasser aus, das sich unterhalb des Gletschers gestaut und letztlich als Gleitmittel für die Eismassen gedient habe.[22] Sara Sottocornola, Sprecherin der italienischen Bergführervereinigung Guide Alpine Italiane, betonte, dass derartige Ereignisse sehr selten und unmöglich vorherzusagen seien, die Ursache sei im veränderten Klima zu suchen. Auch der zuständige Oberstaatsanwalt von Trient, Sandro Raimondi, stufte das Unglück als ein unvorhersehbares Ereignis ein und wies damit Anschuldigungen von Angehörigen zurück, wonach der Weg aufgrund der Lawinengefahr durch die hohen Temperaturen gesperrt hätte werden sollen.[23]

Am Tag nach dem Unglück besuchte der italienische Ministerpräsident Mario Draghi die Ortschaft Canazei, wo sich das Einsatzzentrum der Rettungskräfte befand. Staatspräsident Sergio Mattarella und weitere hohe Politiker drückten ihre Anteilnahme aus, Papst Franziskus reagierte mit dem Aufruf, angesichts des Klimawandels „neue menschen- und naturbewusste Wege zu finden“.[12]

Literatur

  • Horst Riedel: Gletscherabbruch. In: Lexikon der Geowissenschaften. Band 2. Spektrum Akademischer Verlag, Berlin 2000, ISBN 978-3-8274-0421-3, S. 333.
  • Lars Fischer: Eissturz an der Marmolata: Mehrere Faktoren machten den Gletscher instabil'. In: Spektrum.de. 5. Juli 2022 (spektrum.de).

Weblinks

Commons: Gletschersturz an der Marmolata – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Dominik Straub: Extrem gefährliche Bergungsarbeiten auf der Marmolata nach Gletscherbruch. In: DerStandard.de. 4. Juli 2022, abgerufen am 5. Juli 2022.
  2. Gletscherabbruch. In: Spektrum.de – Lexikon der Geowissenschaften. Abgerufen am 6. Juli 2022.
  3. Skitouren: Marmolata oder Marmolada mit Punta Rocca. In: bergwelten.com. Abgerufen am 6. Juli 2022.
  4. Crolla un seracco di ghiaccio sulla Marmolada: 6 morti, oltre 10 feriti e 15 dispersi. Gli inquirenti: "Una carneficina". In: tgcom24.mediaset.it. 3. Juli 2022, abgerufen am 5. Juli 2022 (italienisch).
  5. Eisplatte löste sich: Weitere Tote in Dolomiten befürchtet. In: orf.at. 4. Juli 2022, abgerufen am 5. Juli 2022.
  6. Opferzahl nach Dolomiten-Katastrophe steigt. In: stern.de. 4. Juli 2022, abgerufen am 4. Juli 2022.
  7. Marmolata-Unglück: Zahl der Vermissten gesunken, Schaulustige unterwegs. In: tt.com. 3. Juli 2022, abgerufen am 6. Juli 2022.
  8. Massiver Gletscherbruch in Dolomiten: Mindestens sieben Tote, zahlreiche Verletzte und 13 Vermisste. In: nzz.ch. 5. Juli 2022, abgerufen am 5. Juli 2022.
  9. Gletscherbruch in den Dolomiten: Vermisster Österreicher wohlauf. In: kurier.at/. 4. Juli 2022, abgerufen am 8. Juli 2022.
  10. Marmolada, l’intera area chiusa per motivi di sicurezza. In: ufficiostampa.provincia.tn.it. 5. Juli 2022, abgerufen am 6. Juli 2022 (italienisch).
  11. a b Dolomiten: Noch fünf Vermisste nach Gletscherbruch. In: orf.at. 5. Juli 2022, abgerufen am 6. Juli 2022.
  12. a b Tödlicher Gletschersturz - Deutsche in Bergsteigergruppe. In: sueddeutsche.de. 4. Juli 2022, abgerufen am 5. Juli 2022.
  13. ORF at/Agenturen red: Eisplatte löste sich: Weitere Tote in Dolomiten befürchtet. 4. Juli 2022, abgerufen am 8. Juli 2022.
  14. Gabriella Mazzeo: La violenza della frana ha distrutto tutto, test Dna per riconoscere le vittime. 4. Juli 2022, abgerufen am 5. Juli 2022 (italienisch).
  15. Marmolada, altre due salme ritrovate: le vittime salgono a nove, tre i dispersi. Domani ricerche anche con operatori sul ghiacciaio. In: ladige.it. 6. Juli 2022, abgerufen am 7. Juli 2022 (italienisch).
  16. Marmolada, ultima ora, ritrovate altre salme. In: ufficiostampa.provincia.tn.it. 6. Juli 2022, abgerufen am 6. Juli 2022 (italienisch).
  17. Marmolada, la presidente del Senato in visita, domani nuove ricerche a piedi dalle 6 alle 9, continua il sorvolo con i droni sull’area pericolosa. In: ladige.it. 7. Juli 2022, abgerufen am 7. Juli 2022 (italienisch).
  18. Marmolada, le nuove ricerche sul ghiacciaio: ritrovata l’undicesima vittima. Ris: identificate tutte le salme, non risultano altri dispersi. In: ladige.it. 9. Juli 2022, abgerufen am 9. Juli 2022 (italienisch).
  19. Reinhold Messner nennt Erderwärmung als Grund In: rnd.de
  20. Eisplatte löste sich: Mindestens sechs Tote in Dolomiten. In: orf.at. 3. Juli 2022, abgerufen am 5. Juli 2022.
  21. Tote und Verletzte nach Gletscherbruch in den Dolomiten. In: Deutsche Welle (www.dw.com). 3. Juli 2022, abgerufen am 5. Juli 2022.
  22. Experten gehen von einem Wasserstau am Gletscher aus. In: rainews.it. 4. Juli 2022, abgerufen am 5. Juli 2022.
  23. Gletscherbruch: Bergführerverband fordert mehr Planung. In: orf.at. 6. Juli 2022, abgerufen am 6. Juli 2022.

Koordinaten: 46° 26′ 9,6″ N, 11° 51′ 28,8″ O

Auf dieser Seite verwendete Medien

Marmolada-Ghiacciaio.jpg
Autor/Urheber: Antonio Zerbinati, Lizenz: CC BY-SA 2.5
Marmolada, ghiacciaio.
Marmolada Ghiacciaio Punta Rocca 2013 crop 020.jpg
Autor/Urheber: Giorgio Galeotti, Lizenz: CC BY 4.0
Marmolada: Ghiacciaio Punta Rocca mit Gletscherspalte im August 2013 oben nahe des schneebedeckten Bergrückens zum Punta-Rocca-Gipfel. Unterhalb des felsigen Steilhangs Seilschaften auf dem "Normalweg" entlang des Gletschers zwischen Punta Rocca und dem Hauptgipfel Punta Penia (hier in diesem Bildausschnitt nicht sichtbar). Ein Pfad am Rand der Gletscherspalten dort und über den Gletscher, einer der wenigen Wege aufwärts zum Marmolata-Gipfel.
Il distacco del seracco della calotta di Punta Rocca in Marmolada (2022).jpg
Autor/Urheber: Provincia autonoma di Trento, Lizenz: CC BY 3.0
Gletscherabbruch am Gipfelgletscher der Punta Rocca im Marmolatamassiv Anfang Juli 2022. Foto mit dunklen Verfärbungen direkt in der Abbruchstelle umgeben von einer kleineren Eisfläche etwas abseits des eigentlichen noch verbliebenen Gletschers "Ghiacciaio della Marmolada". Im Hintergrund des Fotos Doppelgipfel.
Marmolada da E605.jpg
Autor/Urheber: Syrio, Lizenz: CC BY-SA 4.0
The Marmolada as seen from E605 path, between Pian Trevisan and Fedaia Pass
Marmolada ghiacciaio1.jpg
Autor/Urheber: Gianmarco L95, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Il ghiacciaio della Marmolada dal rifugio Capanna al Ghiacciaio (2700 m), com'era nel luglio del 2010.
Ghiacciaio della Marmolada - panoramio.jpg
(c) Maurizio Ceol, CC BY 3.0
ghiacciaio della Marmolada