Geschossaufstockung
Die Geschossaufstockung ist – wie auch der Anbau – eine Maßnahme zur Raumbedarfserweiterung am Bestand von Wohn-, Gewerbe- und öffentlichen Gebäuden. Sie ist darüber hinaus eine interessante Variante, um neue architektonische und städtebauliche Akzente zu setzen. Für die Aufstockung wird mindestens ein weiteres Geschoss auf das vorhandene Gebäude aufgesetzt.
Allgemeines
Begünstigt wird die besondere bauliche Maßnahme einer Geschossaufstockung von geographischen, von demographischen, von politischen und zunehmend auch von ökologischen Erscheinungsformen. Deutschland – im Zentrum Europas – ist seit Jahrzehnten von zerstörerischen Elementarschäden verschont. Keine Kriege und keine Naturkatastrophen haben in die bewohnte und gewerbliche Bebauung Deutschlands so eingegriffen, dass eine anhaltende, sich wiederholende Neubebauung zwingend notwendig geworden ist. Diese Umstände ziehen einen hohen Altbaubestand nach sich.
Ausgangslagen
Ungefähr 75 % aller aktuellen Bauleistungen erfolgen im Bestand, oder in einer Erneuerung von Bestandsabrissen. Diese Entwicklung wird weiter überproportional zunehmen. Nur etwa 25 % der Hochbaugewerbe wirken im echten Neubau. Fast drei Viertel der Wohngebäude sind zwischen 15 und 60 Jahre alt.[1]
Mehr als die Hälfte aller Deutschen wohnen im eigenen Haus oder in der eigenen Wohnung. In absoluten Zahlen stehen ca. 42,5 Millionen Wohnraumeigentümer etwa 40 Millionen Mietern gegenüber. Die private Bevölkerung besitzt und bewohnt eine Vielzahl von 1- und 2-geschossigen Gebäuden, die nicht mehr den geänderten familiären Erfordernissen, individuellen Bedürfnissen und nachhaltigen ökologischen Anforderungen entsprechen.[1] Die qualitativen und quantitativen Ansprüche sind größer, moderner und verantwortungsvoller geworden. Der demographische Wandel lässt Familien wieder zusammenrücken, sie formieren sich zu neuen Wohn- und Lebensformen, in Gemeinschaft mit Eltern und Großeltern wird aus dem Einfamilienobjekt ein Mehrgenerationenhaus. Private Wünsche werden im und am Wohnungsbestand wirtschaftlich verknüpft, z. B. mit der Arbeit, mit dem selbständigen Gewerbe oder mit künstlerischen und sportlichen Ambitionen. Unzählig gefächerte, individuelle Ansprüche benötigen zusätzlich mehr Raum.
Umsetzungen
Die häufigste Art der Geschossaufstockung wird als Dachaufstockung oder als Etagenaufstockung auf einem bestehenden Flachdach-Bungalow durchgeführt. Oft wird auch mit der neuen Etage zusätzlich ein Giebeldach – in offener und geschlossener Weise ausgebaut, oder zum Ausbau vorbereitet – eingebracht. Ob, wie und in welchem Umfang eine Geschossaufstockung tatsächlich mehr Wohnraum schaffen kann, wird von den Baubestimmungen der jeweiligen Gemeinde und von statischen Erfordernissen geregelt, zum Teil auch von baubiologischen Besonderheiten, die eine Bestandsimmobilie vorgibt.[2]
Geschossaufstockungen lassen sich in unterschiedlichen Ausführungsmethoden umsetzen. Sie sind in zeitgemäßer Holzrahmenkonstruktion, mit vorgefertigten Montageelementen, in klassischer Mauerausführung oder mit alternativen Materialien (Stahl, Glas etc.) zu fertigen.
Es ist parallel sinnvoll, den „alten“ Gebäudebestand auf den Energiestandard der aktuell durchgeführten Raumerweiterung zu bringen. Das gewährleistet eine positive Energiebilanz des gesamten Objekts, vermeidet unnötige Energieverluste und trägt insgesamt zu einem gesunden Raumklima bei.
Der Altbaubestand eröffnet viele Potenziale für die Geschossaufstockung, mit den gleichen Bedarfsmotiven wie sie zum Anbau, zur Wohnraumanpassung und zur energetischen Optimierung formuliert sind. Es sind relevante bautechnische, baurechtliche und zivilrechtliche Erfordernisse zu beachten, die der Laie nur unzureichend und erheblich risikobehaftet ausführen kann. So hat der Vermieter einer Altbauwohnung bei der Aufstockung des Gebäudes um ein weiteres Wohngeschoss einen Trittschallschutz einzubauen, der zum Zeitpunkt der Aufstockung die geltenden technischen (Mindest-)Anforderungen einhält.[3]
Die Umsetzung einer Geschossaufstockung sollte in baufachlich und baurechtlich qualifizierter Begleitung erfolgen, auch weil sie mit einer Vielzahl von Baugesetzen reguliert wird. Eine Aufstockung ist nur zu verwirklichen, wenn das Bauamt der zuständigen Kommune mitspielt. Maßgeblich für die Genehmigung des Bauantrages ist unter anderem, ob der jeweilige Bebauungsplan überhaupt ein weiteres Stockwerk zulässt.
Der Bebauungsplan – als kommunales Gesetz – legt fest, wie ein Grundstück bebaut und genutzt werden darf und ob eine Geschossaufstockung überhaupt durchführbar ist. Neben der Nutzungsart (Wohnen, Gewerbe etc.) macht der Bebauungsplan Angaben zum „Maß der Nutzung“: Römische Ziffern (I, II, III, IV) geben die maximal zulässige Geschosszahl an (Ziffern in einem Kreis, schreiben die Anzahl der Geschosse vor). Die Geschossflächenzahl (GFZ) begrenzt die Bebauungsdichte in der Nachbarschaft. Multipliziert man die Grundstücksgröße mit der Geschossflächenzahl, erhält man die zulässige Fläche aller Geschosse. Bei einem Grundstück von 500 Quadratmeter und einer GFZ von 1,2 (üblich für Wohngebiete) dürfen maximal 600 Quadratmeter Geschossfläche (auf alle Etagen verteilt) geplant und umgesetzt werden. Für Aufstockungen, die über den „Bestand“ ragen, ist die Grundflächenzahl (GRZ) entscheidend für eine Baugenehmigung. Mit der Formel GRZ · Grundstück (m²) wird die Fläche ermittelt die höchstens von Bauwerken überbaut werden darf.
In dicht bebauten Gebieten verlangen die Bauaufsichtsbehörden zur Genehmigung des Bauantrags für eine Geschossaufstockung eine sog. „Nachbarzustimmung“, wenn Nachbarn aus öffentlich rechtlicher Sicht deutlich spürbar beeinträchtigt werden, zum Beispiel bei den erforderlichen Abstandsflächen. Der Nachbar hat vor Erteilung seiner Zustimmung das Recht der Einsicht in die relevanten Bauvorlagen. Darüber hinaus kann der Nachbar auch Einspruch gegen eine Baugenehmigung einlegen, der aber keine aufschiebende Wirkung in Bezug auf das Bauvorhaben hat, solange hier eine rechtsverbindliche Entscheidung nicht vorliegt.[4][5]
Vorteile und Nachteile
Überwiegend kommen heute vorgefertigte Systeme zum Einsatz, die mehrere Vorteile für die Bauherrschaft nachziehen:
- Das Bestandsgebäude bleibt bewohnbar.
- Die Geschossaufstockung und Wohnraumerweiterung ist in sehr kurzer Zeit regendicht errichtet.
- Die Geschossaufstockung wird nach den Vorschriften der Energiesparverordnung umgesetzt. Hier werden mit der Errichtung erhebliche Energiekosteneinsparungen für die Zukunft programmiert.
- Es werden – sofern gesetzlich vorgeschrieben – biologisch nachhaltige und schadstofffreie Materialien eingesetzt.
- Die KfW-Bank stellt unter Voraussetzung bestimmter Bedingungen eine Vielzahl von Fördermitteln und Darlehen zur Verfügung.[6]
- In Nordrhein-Westfalen fördert auch die NRW-Bank den Ausbau- und die Erweiterung von vorhandenem Wohnraum im Zusammenhang mit der Dämmung der Außenwände und/oder des Daches.[7]
Für die Geschossaufstockung wird geltend gemacht, es handle sich um eine zulässige, sinnvolle Raumschaffung. Sie sei im Verhältnis zur Neubauplanung günstig realisierbar; sie schone die Ressourcen des Bodens. Proportional hohe Grundstückskosten belasten das Baubudget nicht, da sie – in der Regel – schon mit der Kalkulation und Umsetzung des Bestandsgebäudes verzehrt worden sind. Eine aufwendige Baugrunduntersuchung und Baufelderschließung, die infolge einer Neubauplanung erforderlich werden, entfallen. Ähnlich wie bei der Entkernung (mit der sie häufig Hand in Hand geht) ist diese Art des Umgangs mit historischen Gebäuden aber sehr umstritten. Einerseits wird häufig Disharmonie zwischen dem Altbestand und der Aufstockung reklamiert, andererseits aber auch übertriebene Anpassung. Belange der Denkmalpflege, Stadtbildpflege und kommerzielle Interessen von Investoren sind sorgfältig abzuwägen. Daher gilt eine Geschossaufstockung so wie die Entkernung als ein Kompromiss zwischen Denkmalschutz und Abriss. Im anglo-amerikanischen Raum spricht man kritisch von Facadism, ein negativ belegter Begriff, wie das an den Begriff Fassade angehängte Suffix -ismus deutlich macht.
Literatur
- Lebenszyklusbestand und Optimierung von Instandsetzungsprozessen im Wohnungsbau – Elite – Bauforschung für die Praxis – ISBN 978-3-8167-7615-4
- Karin Gruler, Ruth Böhm: Auswirkungen des demographischen Wandels auf das Stofflager und die Stoffflüsse des Wohnungsbestandes Deutschland 2050 band 25 von 2011 – ISBN 978-3-8167-8452-4
- Astrid Holz, Timo Gniechwitz, Thorsten Schulze: Wohnungsbau in Deutschland – 2011 – Modernisierung oder Bestandsersatz – Studie zum Zustand und der Zukunftsfähigkeit des deutschen „Kleinen Wohnungsbau“ – Bauforschungsbericht der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen Band 59 von 2011 – ISBN 978-3-939268-03-1
- Susanne Edinger, Helmut Lerch – Barrierearme Wohnkonzepte für Geschosswohnbauten der 50er Jahre – Koch, Alexander GmbH – ISBN 978-3-87422-645-5
Quellen
- Nachhaltiges Bauen im Bestand (PDF; 410 kB)
- Evaluation zielgruppenspezifischer Mobilitätsdienstleistungen von Wohnungsunternehmen (PDF; 2,69 MB)
- Bauen im Bestand
Einzelnachweise
- ↑ a b sbz-online.de (PDF; 293 kB) Statistik zum Gebäudebestand
- ↑ Bungalow aufstocken
- ↑ BGH Karlsruhe, Urteil vom 6. Oktober 2004 – AZ VIII ZR 355/03 –
- ↑ Nachbarliche Belange am Beispiel des Hamburger Baurechts (PDF; 54 kB)
- ↑ Hessischer Verwaltungsgerichtshof zum Thema Nachbarzustimmung
- ↑ www.kfw.de Kfw-Förderprogramme
- ↑ Fördermittel für Ausbau und Erweiterung durch die NRW-Bank
Weblinks
- www.avietplus.de (PDF; 3,33 MB) Beispiel einer Geschossaufstockung.
- Nachhaltiges Bauen im Bestand, Marktbedingungen (PDF; 410 kB)
- Umweltbundesamt: Bauen im Bestand (PDF; 2,63 MB)
- RV Ratgeber Mehr Qualität durch Umbaumaßnahme/Geschossaufstockung
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Autor/Urheber: Jörg Zägel, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Das "Humboldt-Carré" in der Behrenstraße 42-45, Ecke Charlottenstraße (links), in Berlin-Mitte, ehemals zum Komplex der Disconto-Gesellschaft gehörend ("Bauteil I"). Weitere erhaltene Bauteile des Disconto-Komplexes ("Bauteile II & III") befinden sich an Charlottenstraße und Unter den Linden. Der Kern des Gebäudes wurde 1900-1901 nach einem Entwurf von Ludwig Heim errichtet. Die Architekten Bielenberg & Moser führten 1909-1912 eine Erweiterung und 1921-1925 eine Aufstockung durch. Mit Fusion der Banken kam der gesamte Komplex in den Besitz der Deutschen Bank. 1934 wurde der Bauteil I vom Deutschen Reich übernommen und war danach Hauptsitz des Reichswirtschaftsministeriums. In der DDR-Zeit wurde das Gebäude unter anderem vom Ministerium für Bauwesen genutzt. Nach 1990 residierten hier Abteilungen der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. 2005 übernahm die BonnVisio GmbH & Co. KG das Gebäude und baute es 2007-2008 nach Plänen des Architekten Karl-Heinz Schommer zum Bürohaus "Humboldt-Carree" um. Dabei wurde es um zwei gläserne Staffelgeschosse aufgestockt. Als Teil des Bauensembles Unter den Linden ist das Gebäude denkmalgeschützt.