Gelenkte Demokratie

Gelenkte Demokratie (englisch guided oder managed democracy, indonesisch Demokrasi Terpimpin, russisch Управляемая демократия) ist eine Bezeichnung für eine Regierungsform zwischen Demokratie und Autoritarismus. Als politisches Konzept wurde sie erstmals 1959–1965 vom indonesischen Präsidenten Sukarno praktiziert, um die verschiedenen politischen Strömungen des Landes zusammenzuhalten. In vielen Medien und teilweise auch von Vertretern der russischen Regierung wird bzw. wurde dieser Terminus benutzt für die Regierungszeit des Präsidenten Wladimir Putin in Russland vom Frühjahr 2000 bis zum Mai 2008 oder auch schon für die späte Regierungszeit Boris Jelzins.

Geschichte

Mit und seit dem Kalten Krieg wird der Begriff mit der Regierung Sukarnos von 1945 bis 1967 in Indonesien in Zusammenhang gebracht. Die „Lenkung“ bestand hierbei in den Versuchen des Präsidenten, die in die unterschiedlichen Ideologien des Kalten Krieges gespaltene Gesellschaft zusammenzuhalten (Demokrasi Terpimpin).[1] In der Folge wird der Begriff auf zahlreiche Regimes in Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländern angewandt.

Russland

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wurde im Dezember 1993 unter Präsident Boris Jelzin eine neue Verfassung der Russischen Föderation verabschiedet – „zu 50 Prozent aus französischer konstitutioneller Inspiration, zu 30 Prozent aus amerikanischer Inspiration und zu 20 Prozent aus imperialem russischen Erbe“[2] –, die eine erhebliche Konzentration der Macht beim Präsidenten auswies. Einige Beobachter sprachen von einer defekten Demokratie, aber Jelzin verteidigte damals diese Verfassung:

„Was wollen Sie? In einem Land, das an Zaren und Führer gewöhnt ist; in einem Land, in dem sich keine klaren Interessengruppen herausgebildet haben, in dem die Träger der Interessen nicht bestimmt sind, sondern gerade erst normale Parteien in der Entstehung begriffen sind; in einem Land, in dem der Rechtsnihilismus überall zu Hause ist – wollen Sie in einem solchen Land das Hauptgewicht allein oder in erster Linie auf das Parlament legen? […] Jede Zeit hat ihr eigenes Machtgleichgewicht in einem demokratischen System. Heute schlägt in Russland dieses Gleichgewicht zugunsten des Präsidenten aus.“[2]

Nach der Präsidentschaftswahl in Russland 2000, aus der Wladimir Putin als Sieger hervorgegangen war, blieben die demokratischen Einrichtungen der Verfassung wie Wahlen und das Parlament bestehen, sie wurden jedoch zunehmend einer strikten Kontrolle bzw. Lenkung durch den Präsidenten und seine Administration unterworfen. Die unter Jelzin noch bestehende Gewaltenteilung wurde größtenteils abgebaut, und die Freiheit der Berichterstattung der Medien wurde stark eingeschränkt. Putin ersetzte Jelzins Defekte Demokratie und dessen System einer polyzentrisch aufgesplitterten Macht durch eine Gelenkte Demokratie mit einer straffen Machtvertikale.

Von Vertretern der russischen Regierung oder ihr nahestehender Personen wurde die Amtsführung von Putin oft als uprawljajemaja demokratija, bezeichnet, wobei das russische uprawljat dem deutschen „verwalten“, „steuern“ oder „lenken“ entspricht. In deutschsprachigen Publikationen wird uprawljajemaja demokratija deshalb meist mit „Gelenkte Demokratie“ übersetzt, im Englischen mit managed democracy oder guided democracy,[3] wobei die Begriffe „steuern“ oder „lenken“ in Russland als Gegensätze zu Chaos, Unsicherheit oder Unordnung der frühen 1990er-Jahre unter Boris Jelzin meist positiv konnotiert werden.[2]

Nach der Präsidentenwahl vom 2. März 2008 gab es in Russland mit Präsident Dmitri Medwedew und Ministerpräsident Putin faktisch zwei gleichberechtigte Entscheidungszentren. Die Gelenkte Demokratie blieb aber weitgehend erhalten. Mit dem Terminus Tandemokratie (seltener auch Tandemdemokratie) wird auf die neue politische Doppelspitze und zugleich auf die anhaltenden Demokratiedefizite angespielt.[4]

Literatur

  • Margareta Mommsen und Angelika Nußberger: Das System Putin: Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Rußland. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-54790-4.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Grab auf Bali
  2. a b c Margareta Mommsen: Rußlands gelenkte Demokratie. Das Tandem Putin – Medwedjew. Stimmen der Zeit. Mai 2009. Abgerufen am 31. Oktober 2010.
  3. https://www.ft.com/content/39682de4-053d-11db-9b9e-0000779e2340
  4. Brian Whitmore: Tandemology 2.0. Radio Free Europe. 10. Januar 2011. Abgerufen am 13. Januar 2011.