Gebrauchsmusik

Gebrauchsmusik bezeichnet Musik, die für außermusikalische Zusammenhänge verwendet wird. Meist wird sie als Gegenteil der Absoluten Musik betrachtet.

Der Ausdruck Gebrauchsmusik ist seit den 1920er Jahren üblich und auch im Englischen geläufig. Einerseits gehört er zeitunabhängig zur Terminologie der Musikwissenschaft, die ihn manchmal neutral, manchmal (ab)wertend verwendet, andererseits wurde er etwa ein Jahrzehnt lang zur „ästhetischen Parole“[1] einer Komponistengeneration nach dem Ersten Weltkrieg und ist damit so etwas wie ein Genre für Werke, die sich dem damaligen Konzertwesen widersetzten, wie Paul Hindemiths Kinderoper Wir bauen eine Stadt (1930).

Nettl: Wissenschaftliche Ursprünge

Als einer der ersten verwendete der Musikwissenschaftler Paul Nettl 1922 den Begriff. Er widmete sich der Geschichte der Tanzmusik und fand im Terminus „Gebrauchsmusik“ eine Bezeichnung für Tanzmusik, die auch zum Tanzen gebraucht wird – gegenüber solcher, die im Konzert dargeboten wird. Johann Strauß Sohn zum Beispiel hatte in seiner früheren Zeit Tanzwalzer und in seiner späteren Zeit Konzertwalzer geschrieben, die nicht mehr zum Tanzen uraufgeführt wurden, was ihm als Komponist zu einem höheren Status verhalf. Nettl bezog sich freilich auf etwas weiter Zurückliegendes, die Musik des 17. Jahrhunderts, und unterschied dort „Gebrauchs-Tanzformen“ von „höher stilisierten Tanzformen“.[2]

Hindemith: Neue Kompositionsweise

Nach dem Ersten Weltkrieg schien die „Gebrauchsmusik“ den Weg aus einer Erstarrung des Musikwesens zu weisen und war in den Jahren der Weimarer Republik in aller Munde. Die Arbeitsteilung und Professionalisierung in der Musik und die Lebensferne des Konzertwesens wurden beklagt. Soziale Strömungen wie die Jugendbewegung und künstlerische wie die Neue Sachlichkeit begrüßten eine Musikpraxis, die sich mehr mit dem täglichen Leben auseinandersetzte als die Kunstmusik des 19. Jahrhunderts. Der „Gebrauchswert“ jeglicher Kunst wurde beschworen.[3]

Der Komponist Paul Hindemith machte die Gebrauchsmusik (für ihn war sie das Gegenteil zur „Konzertmusik“)[4] zeitweise zum Programm seines Schaffens. Seine provokative Oper Neues vom Tage (1929) wurde etwa in diesen Zusammenhang gestellt. Manche seiner Zeitgenossen schlossen sich der Strömung an, auch wenn sie selbst nicht von Gebrauchsmusik sprachen. In der angelsächsischen Presse tauchte der deutsche Begriff Anfang der 1930er Jahre auf.[5] Auch etwa Igor Strawinsky, Kurt Weill, Ernst Krenek, Hanns Eisler, Carl Orff und andere Komponisten werden im Zusammenhang mit Gebrauchsmusik erwähnt.

Besseler: Vom Ideal zur politischen Instrumentalisierung

Der Musikwissenschaftler Heinrich Besseler nahm den Begriff auf und verwendete ihn sehr allgemein in einer Theorie der Musik, die sich an die Philosophie Martin Heideggers anlehnte. Besseler betrachtete die kommerzielle Musik seiner Zeit kritisch und stellte ihr ein Ideal „der glücklichen Selbstverständlichkeit einer geschlossenen musikalischen Tradition“ gegenüber, das er in der spätmittelalterlichen Musik erblickte.[6]

Eine neue Hinwendung zur realen Lebenswelt, verbunden mit Ergebenheit und Ergriffenheit, konnte Besseler sodann in den Reformbestrebungen des Nationalsozialismus ausmachen, der ab 1933 eine Praxis der Gebrauchsmusik gegen ihre einstigen Protagonisten Hindemith oder Kurt Weill pflegte. Nach 1945 verwendete Besseler nur noch den Terminus „Umgangsmusik“.

Adorno: Musiksoziologische Skepsis

Der Philosoph und Musikkritiker Theodor W. Adorno stand der „Gemeinsamkeit“ durch Gebrauchsmusik skeptisch gegenüber, auch ihrer Aufwertung der Amateurmusik, und bevorzugte die „Innerlichkeit“ und Professionalität der Absoluten Musik.[7] Über Kurt Weills Die Dreigroschenoper (1928) schrieb er dagegen, dies sei „Gebrauchsmusik, die sich auch wirklich gebrauchen lässt“.[8]

Die Musiksoziologie, die Adorno und Max Horkheimer im Exil der 1930er Jahre aufbauten, betrachtete musikalische Funktionen mit kritischem Abstand zu ideologischen und kommerziellen Instrumentalisierungen, was zum Terminus Funktionale Musik geführt hat.

„Angewandte Musik“

Verwandt, aber weniger profiliert, ist der Begriff Angewandte Musik (dessen Gegenteil meist Reine Musik genannt wird). Er wird neben der Oper vor allem für Bühnenmusik, Filmmusik, Radiomusik und weitere Medienmusik verwendet[9] und findet sich auch in den Namen verschiedener Hochschul-Studiengänge.[10]

Im 19. Jahrhundert wurden die mathematischen und physikalischen Aspekte der Musiktheorie „reine Musik“ und ihre praktisch klingende Anwendung „angewandte Musik“ genannt.[11]

Literatur

  • Wolfgang Lessing: Musik und Gesellschaft. Das Problem der „Gebrauchsmusik“. In: Wolfgang Rathert, Giselher Schubert (Hrsg.): Musikkultur in der Weimarer Republik. Schott, Mainz u. a. 2001, ISBN 3-7957-0114-7, S. 180–188 (Frankfurter Studien 8 Schott Musikwissenschaft).
  • Stephen Hinton: The Idea of Gebrauchsmusik: A Study of Musical Aesthetics in the Weimar Republic (1919–1933) with Particular Reference to the Works of Paul Hindemith, Garland, New York 1989. ISBN 978-0824020095

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Stephen Hinton: Gebrauchsmusik, in: Hans Heinrich Eggebrecht: Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, Steiner, Stuttgart 1995, S. 164.
  2. Paul Nettl: Beitrag zur Geschichte der Tanzmusik im 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft. 4:1922, H. 5, S. 257–265, hier S. 258.
  3. Rüdiger Zymner: Handbuch Literarische Rhetorik, de Gruyter, Berlin 2015, S. 159. ISBN 978-3110318159
  4. Stephen Hinton: Gebrauchsmusik, in: Hans Heinrich Eggebrecht: Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, Steiner, Stuttgart 1995, S. 168.
  5. „Im Holyell-Musikzimmer stellen Kinder […] die neue Gebrauchsmusik vor, die in der Erziehung in Deutschland ausgiebig angewandt wird. Die Kinder führen Hindemiths ‚Wir bauen eine Stadt auf.‘“, Ballett- und Choralwerke in Oxford. In: The Times, 23. Juni 1931, S. 14 (aus dem Englischen übersetzt).
  6. Thomas Schipperges: Die Akte Heinrich Besseler: Musikwissenschaft und Wissenschaftspolitik in Deutschland 1924 bis 1949, Strube 2005, S. 35. ISBN 978-3899120875
  7. Theodor W. Adorno: Gebrauchsmusik, in: Gesammelte Werke, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, Bd. 19, S. 445–447.
  8. Adorno, Die Dreigroschenoper, in: Die Musik (21), 1928, auch in: Gesammelte Werke, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, Bd. 19, S. 138.
  9. z. B. Dietrich Stern (Hg.): Angewandte Musik der 20er Jahre. Exemplarische Versuche gesellschaftsbezogener musikalischer Arbeit für Theater, Film, Radio, Massenunterhaltung, Argument, Berlin 1977.
  10. z. B. das Diplomstudium Medienkomposition und angewandte Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (Stand 2016).
  11. Ignaz Jeitteles: Aesthetisches Lexicon: Ein Alphabetisches Handbuch zur Theorie der Philosophie des Schönen und der Schönen Künste, Gerold, Wien 1837, Bd. 2, S. 247.