Französischer Hip-Hop

Französische Hip-Hop-Bewegung bezeichnet eine 1981/1982 aus den USA importierte, sich in den neu zugelassenen privaten radios libres verbreitete Musikrichtung. Die erste französische Hip-Hop-Platte war 1984 Paname City Rappin von Dee Nasty. Ins öffentliche Fernsehen gelangte der Stil 1984/85 mit 42 Sendungen auf TF1. Der französische Markt für Rap ist derzeit am Umsatz gemessen der zweitgrößte der Welt.

Geschichte

In den 1980er Jahren bildeten sich die ersten Gruppen. Diese waren jedoch stark an US-Vorbildern orientiert. Hip-Hop und Rap wurden als Modewelle wahrgenommen und verebbten schnell. Erst seit den frühen 1990ern gibt es wieder eine eigene Szene, die sich stärker von den USA absetzt und in Frankreich hauptsächlich in den Banlieues verwurzelt ist.

1990 erschien der erste Rap-Sampler Rapattitude in einer größeren Auflage und wurde insgesamt 40.000 mal verkauft. MC Solaar und IAM waren die ersten erfolgreichen Rapper.

MC Solaar war ebenfalls der erste Rapper, der 1992 den nationalen Musikpreis Victoire de la musique erhielt. Die Szene orientiert sich heute an künstlerischen Polen wie Suprême NTM im Pariser Norden oder 500 One im Pariser Süden. Wichtige Zentren der Szene sind Paris (Suprême NTM, La Cliqua), Marseille (IAM), Toulouse (KDD), Strasbourg (NAP) oder die Bretagne (Manau).

Die Szene und auch die meisten Gruppen sind im Gegensatz zu den meisten US-amerikanischen Vorbildern absichtlich multikulturell und nicht ethnisch festgelegt. Sie selbst beschreiben sich oft als Black-Blanc-Beur-Gruppen. Dennoch sind heutzutage die größten französischen Rap-Künstler meist Farbige mit Migrationshintergrund aus Nord- und Westafrika sowie den DOM-TOM-Gebieten; aber auch einige ‚Weiße‘ französischer oder anderer Abstammung gelangten zu Bekanntheit, wie Rocking Squat von der Gruppe Assassin oder die Rapperin Diam’s. Sie orientieren sich am sogenannten Message oder Knowledge Rap, der sich an der Ostküste der USA parallel zum Gangsta-Rap der Westküste entwickelte.

Thematisch wurde in den französischen Rapsongs zunächst der Lebensalltag in der Banlieue beschrieben: Arbeitslosigkeit, Gewalt, Zurückweisung und Chancenlosigkeit, Rassismus, Drogenhandel und Beschaffungskriminalität sowie Kritik an der Polizei waren die Hauptthemen.[1] Bald wurde aber auch die französische Geschichte, vor allem die Kolonialgeschichte sowie die Ausbeutung der Väter im wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert. Auch die heutige Gültigkeit der republikanischen Werte der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit wurden diskutiert, wobei die Gleichheit für Immigranten und Franzosen mit Migrationshintergrund eingemahnt wurde.[2]

Diese Auseinandersetzung trug zur Identitätsfindung bei. Rapper/-innen haben in Frankreich meist einen gemeinsamen Erfahrungshorizont, sie werden von der Gesellschaft ausgeschlossen und haben kaum Lebensperspektiven. Rap bietet ihnen daher einem symbolischen, aber durchaus auch materiellen Entfaltungsraum. Diese Bedeutung des Rap für das eigene Leben wird in den Songs immer wieder thematisiert, z. B. in „Petite Banlieusarde“ (auf: Dans ma Bulle, 2006) von Diam’s:

« je fais du rap pour me libérer du mal, /…/ Le rap m’a percée au plus profond de moi tu le ressens, / Moi je n’ai que ça, j’ai pas le bac /…/ Mon rap, c’est ma raison de vivre, c’est ma raison de dire au monde / Que quand on veut on y arrive, malgré les zones d’ombre / Et je suis contente si un jeune s’en sort »

„ich rappe, um mich vom Übel zu befreien /…/. Rap traf mich am tiefsten Punkt meiner selbst, Du kannst das nachfühlen. Ich habe nur ihn, kein Abitur /…/ Mein Rap gibt mir den Lebensgrund und den Grund der Welt zu sagen / wer will, schafft es auch, trotz all der Schatten / und ich bin erfreut, wenn jemand Junges sich befreit.“

Das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte oder des Umerzählens von Geschichte (History Retelling)[3] eröffnet daher nicht nur einen fiktionalen, sondern auch einen tatsächlichen Handlungsspielraum. Das erklärt den Erfolg des Rap als eine Technik der Selbst(er)findung, die nicht nur, aber vor allem von marginalisierten oder sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen aufgegriffen und entfaltet wird.

Waren in den Anfangszeiten die Songtexte noch harmlos und eher klagender Art, so werden sie heute zunehmend selbstbewusster, anklagender, aber auch aggressiver, schimpfwortträchtiger und fordern teils sogar zur Gewalt gegen das "Etablissement" auf. Der ehemalige französische Innenminister und spätere Präsident Nicolas Sarkozy machte Songtexte dieser Art für die Unruhen in den Pariser Vororten im Jahr 2005 mitverantwortlich. Einige Rapper wurden von rechten konservativen Politikern angeklagt, allerdings für Songs, die bereits mehrere Jahre zurücklagen. Die Verfahren wurden eingestellt. Auch eine Textzensur für französische Rap-Songs wurde per Gesetz geplant.[4] Auch dieses Vorhaben wurde wieder aufgegeben. Die in Frankreich enge Verknüpfung der Meinungsfreiheit mit dem Chanson hatte bereits 1996 zu öffentlichen Protesten geführt, als Joey Starr von der Gruppe NTM wegen eines Rapsongs verurteilt worden war. Anklage hatte damals ebenfalls ein Politiker der konservativ-rechten Partei erhoben.[5] 2005 verebbte der Versuch einen Sündenbock für die Unruhen zu finden mangels Beweisen und aufgrund der ohnehin angespannten Atmosphäre in den Banlieues.

Auch wenn sich einige französische Rapper vom US-amerikanischen Gangsta-Rap inspirieren lassen, dem sogenannten Hardcore-Rap, in dem es hauptsächlich um Kriminalität und Gewalt geht sowie um die täglichen Erlebnisse und das Repräsentieren in den Vierteln der Banlieues, gibt es in Frankreich nach wie vor Gruppen, die den engagierten Message Rap weiterführen. Sie zeichnen sich durch einen ausgeprägt metaphorischen Sprachgebrauch aus, der immer wieder zu Missverständnissen führt oder von Politik und der medialen Öffentlichkeit genutzt wird, um ein negatives Bild des Raps zu vermitteln. Quantitative Sprachanalysen haben ergeben, dass zahlreiche Metaphern im Sinne von kognitiven Konzepten verwendet werden.[6] Es geht dabei also keineswegs nur um rhetorische Ausgestaltung, sondern um eine Übertragung von Erfahrungen. Auf diese Weise können negative Erlebnisse verarbeitet werden, wie Joey Starr erklärt:

« Notre subversion vient de ce qu’on a subi. C‘est ce qui nous a appris à nous servir d’un stylo comme d’un couteau »

„Unsere Subversion erklärt sich aus dem, was wir erlebt haben. Es hat uns gelehrt den Stift wie ein Messer zu handhaben.“

Joey Starr[7]

So wird das Wortfeld zum Thema Gewalt differenziert verwendet: Es handelt sich einesteils um Wörter, die die Erfahrung von Gewalt zum Ausdruck bringen; andernteils um solche der aktiven Gewaltausübung. Letztere werden mit einem weiteren Wortfeld kombiniert, dem des verbalen Ausdrucks, des Schreibens und Dichtens. Im Sinne der durch Afrika Bambaataa formulierten Philosophie des Hip-Hops, negative Energien kreativ in positive Energien zu verwandeln, machen die Rapper durch diese Verknüpfung ihre Worte zu (physisch) gewaltlosen Waffen und verschaffen sich Geltung während sie dabei Aggressionen gewaltlos abbauen. Das wird an zahlreichen ebenso poetischen wie originellen Formulierungen deutlich: „assaut lyrical“ (Faf LaRage: C’est ma cause, 1999), „boxe avec les mots“ (Ärsenik, Quelque gouttes suffisent) oder „un microphone killeuze“ (Black Barbie, „La reine du 93“, auf: Black Barbie Style 2008) u. a. m.

Was in vielen Berichterstattungen und Studien in den Hintergrund tritt, ist die aktive Szene der in Frankreich rappenden Frauen.[8] Sie waren, wenn auch in geringerer Zahl, von Anfang an dabei und „sie reagieren auf die Konstruktion des Raps als eine männliche Domäne“. So kam bereits 1995 die Rap-Compilation Lab’ Elles auf den Markt und 1999 brachten Lady Laistee, Diam’s, Bams und Princess Aniès ihre ersten Alben heraus.

Rapper und Crews wie z. B. Booba, Rohff, Mc Solaar, IAM (wo sich z. B. alleine das Album L’École du micro d’argent über 1,5 Mio. Mal verkauft hat), Supreme NTM, Sinik und 113 verkauften jeweils schon Millionen von Alben, weshalb viele Künstler auch weit außerhalb der französischen Grenze (wie z. B. in Kanada, Belgien, Schweiz und weiteren französischsprachigen Ländern) den Durchbruch schafften und öfters mit bekannten amerikanischen Rappern und Produzenten wie Dr. Dre, Game, Wu-Tang Clan, Mobb Deep, Nas u. v. m. zusammenarbeiten.

Bekannte Rapper

Siehe auch

Literatur

  • Eva Kimminich: Das therapeutische Potential der Hip Hop-Kultur. In: Nahlah Saimeh (Hrsg.): Motivation und Widerstand – Herausforderungen im Maßregelvollzug. Materialien der 24. Eickelborner Fachtagung zu Fragen der Forensischen Psychiatrie, 4. bis 6. März 2009, S. 339–350.
  • Eva Kimminich: Autobiographie und Authentizität: Selbst(er)erzählung und Wirklichkeitsentwürfe in Songtexten französischer Rapperinnen. In: Brigitte Jirku, Marion Schulz (Hrsg.): Performativität im autobiographischen Diskurs von Frauen (Inter-Lit, 12). Frankfurt 2012, ISBN 978-3-631-60610-0.
  • Daniel Tödt: Vom Planeten Mars. Rap in Marseille und das Imaginäre der Stadt. Lit Verlag, Wien 2012
  • Eva Kimminich: RapAttitüden – RapAttacken – RaPublikaner. In: Winfried Wehle (Hrsg.): Lyrik des 20. Jahrhunderts. Narr, Tübingen 2010, ISBN 978-3-86057-910-7, S. 409–456.
  • Eva Kimminich: Rap: More Than Words. Erzählstrategien und Körperkommunikation im französischen und senegalesischen Rap. Peter Lang, Frankfurt 2004, ISBN 978-3-631-51961-5.
    • darin dies.: (Hi)story, Rapstory und ‚possible worlds‘. S. 233–267.
  • Eva Kimminich: I-Storys und Histories. Rap und Slam: Arbeiten an Identität, Gemeinschaft und Geschichte. Jahrbuch für Europäische Ethnologie, 3. Folge, 6. Hg. Görres-Gesellschaft Paderborn. Ferdinand Schöningh, München 2011, ISBN 978-3-506-77330-2, S. 173–196 im Kap. Erzählerische Kommunikation
  • Dietmar Hüser: Vive la RAPublique – Botschaften und Bilder einer „anderen Banlieue“. In: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag. 1999/2, S. 271–295.
  • Eva Kimminich: Ton – Macht – Musik. Populäre Rap-Lieder und die französische Gesellschaft. In: Dietmar Hüser (Hrsg.): Frankreichs Empire schlägt zurück. Gesellschaftswandel, Kolonialdebatte und Migrationskulturen im frühen 21. Jahrhundert. kassel university press, Kassel 2012, S. 331–346.
  • Eva Kimminich: Légal où illégal? Anthologie du rap français. Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 978-3-8322-7111-4.
  • Eva Kimminich: Black Barbie & Co. Migrations- und Rassismuserfahrungen in Songtexten französischer Rapperinnen. In: Freiburger Geschlechterstudien, 25: Migration, Mobilität, Geschlecht. 2011, S. 75–92.
  • Dietmar Hüser: RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2004.
  • Eva Kimminich: Citoyen oder Fremder? Ausgrenzung und kulturelle Autonomie in der Banlieue Frankreichs. Archiv für Sozialgeschichte, 46. Integration und Fragmentierung in der europäischen Stadt. J. H. W. Dietz, Bonn 2006, S. 505–538.[9]
  • Dietmar Hüser: Black – Blanc – Beur. Jugend und Musik, Immigration und Integration in Vorstädten französischer Ballungszentren. In: Frankreich-Jahrbuch. 10. Leske + Budrich, Opladen 1996, S. 181–202.

Weblinks

  • Volltext Dietmar Hüser: Pop-Stars: Provinz-Notabeln und Vor-Ort-Intellektuelle im Medienzeitalter. Zur sozialen Funktion engagierter Lieder, in Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock. Hrsg. François Beilecke, Katja Marmetschke. Reihe: Intervalle, 8. Kassel University Press, 2005, ISBN 978-3-89958-134-8, S. 185–198 (Bezug nur auf Frankreich)

Einzelnachweise

  1. Eva Kimminich: Illégal ou Légal. Anthologie du Rap. Reclam, Stuttgart 2000.
  2. Dietmar Hüser: RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2004.
  3. Siehe dazu Eva Kimminich: (Hi)story, Rapstory und ‚possible worlds‘ Erzählstrategien und Körperkommunikation im französischen und senegalesischen Rap. In: dies.: Rap: More Than Words. Peter Lang, Frankfurt u. a, S. 233–267.
  4. Andreas Margara: Zensur für französische Rapper? (Nicht mehr online verfügbar.) 30. November 2005, archiviert vom Original am 27. September 2007; abgerufen am 3. Oktober 2016.
  5. Siehe dazu Dietmar Hüser 1997, S. 181–202.
  6. Eva Kimminich: RapAttitüden – RapAttacken – RaPublikaner. In: Winfried Wehle (Hrsg.): Lyrik des 20. Jahrhunderts. Narr, Tübingen 2010, ISBN 978-3-86057-910-7, S. 438–444.
  7. Starr in Le monde, 26. April 1998, zitiert nach Eva Kimminich: RapAttitüden – RapAttacken – RaPublikaner. In: Winfried Wehle (Hrsg.): Lyrik des 20. Jahrhunderts. Narr, Tübingen 2010, ISBN 978-3-86057-910-7, S. 439.
  8. Eva Kimminich: Black Barbie & Co. Migrations- und Rassismuserfahrungen in Songtexten französischer Rapperinnen. In: Freiburger Geschlechterstudien. 25: Migration, Mobilität, Geschlecht. 2011, S. 75–92.
  9. Die Autorin ist 2017 Mitwirkende in der Sektion "Jugend- und Subkulturen" einer "Deutschen Gesellschaft für Semiotik" Sektion der DGS