Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben

Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben ist ein Stück von Tankred Dorst frei nach der Novelle Ein ganzer Mann[1] (span. Nada menos que todo un hombre) des Spaniers Miguel de Unamuno aus dem Jahr 1916[2]. Es wurde am 15. Mai 1992 unter der Regie von Wilfried Minks im Akademietheater Wien uraufgeführt. Alexander Brill brachte am 24. Juni desselben Jahres im Staatstheater Kassel die deutsche Erstaufführung auf die Bühne.[3]

Inhalt

Die schöne Julia – sehr selbstbewusst – will von dem titelgebenden schriftlichen Heiratsantrag des ziemlich vermögenden und ungestüm vorpreschenden Fernando Krapp überhaupt nichts wissen. Was solls? Krapp hat dem bankrotten Vater Julias finanziell wirksam unter die Arme gegriffen. Also heiratet die Widerspenstige den verwitweten Draufgänger.

Julia kommt ein Gerücht zu Ohren. Danach habe Krapp seine erste Gattin, eine reiche ältliche Millionärin, im Bett mit seinem Hut erstickt.

Julia bringt in ihrer jungen Ehe einen Sohn zur Welt. Alle zärtliche Zuwendung überlässt Krapp der glücklichen Mama. Er will erst eingreifen, sobald der Kleine das Verstehen und Reden einigermaßen beherrscht. Julia gesteht dem Gatten die häufigen Besuche des Grafen Juan Bordavela. Krapp hat nichts dagegen. Er verachtet diesen „Hampelmann“, dessen Frau ihn hintergeht. Julia zweifelt an Krapps Liebe zu ihr, weil er ihre Offenbarung, die Grafenbesuchen betreffend, gleichgültig quittiert.

Die Rendezvous Julias mit dem Grafen sind nicht frei von Unstimmigkeiten. So behauptet der Graf zum Beispiel, Julia habe geäußert, Krapp liebe sie nicht. Die junge Mutter verwahrt sich dagegen. Aber der Graf bleibt dabei – nur er liebe Julia. Und er prophezeit Julia, ihr Gatte werde sie als Wiederholungstäter umbringen.

Krapp erzählt Julia von einem Gespräch mit einem feinen Herrn. Dieser habe behauptet, Julia setze dem Gatten Hörner auf. Julia bedrängt darauf Krapp, er möge dem Grafen das Haus verbieten. Der Gatte denkt nicht daran. Er verbiete und verlange nichts, beteuert er in Macho-Manier. Das Paar reist aufs Land. Dort wirft Julia dem Gatten Ehebruch mit einer Magd vor. Krapp gibt den Seitensprung – seiner Ansicht nach eine Bagatelle – zu. Als Julia die eheliche Verfehlung des Gatten weiterhin wortreich verurteilt, sorgt sich Krapp ernstlich um die Neurasthenie seiner Frau. Darauf behauptet Julia, sie habe daheim während Krapps Abwesenheit mehrfach mit dem Grafen geschlafen. Der Gatte tut das als Lüge ab und erwägt eine Unterbringung seiner Ehefrau im Irrenhaus.

Es stellt sich gegen Ende des Stücks heraus, wirklich jede Figur – wie oben genannt Julias Vater – ist von Krapp finanziell abhängig: Krapp unterstützt sowohl die Irrenärzte als auch den Grafen. Bevor Julia weggesperrt wird, schimpft sie den Grafen einen Feigling. Der feinsinnige Adelige hatte kurz zuvor jede intime Beziehung zu Julia auf Krapps direkte Anfrage hin verleugnet. Im Irrenhaus dann teilt Julia den beiden Ärzten ihre feste Überzeugung mit. Krapps erste Frau, eine Mexikanerin, wurde von dem Gatten in den Tod getrieben.

Aus dem Irrenhaus entlassen und sehr krank geworden, gesteht Julia dem ernsten Ehemann ihre Lügen ein. Auf Krapps Veranlassung entschuldigt sie sich auch beim Grafen für ihre Erfindungen. Der feige Adelige verzeiht ihr im Beisein Krapps. Ein paar Minuten später – Krapp ist gegangen – schwenkt der Graf um; beschwört das Liebesverhältnis.[4] Vergeblich. Krapp hat das Spiel gewonnen.

Aber Krapp wird nicht glücklich. Als er die Maske des starken Mannes fallen lässt, von seiner Liebe zu Julia spricht und im Angesicht seiner Frau weint, ist es zu spät. Die geschwächte Julia stirbt. Krapp begeht Suizid.

Form

Auf zweierlei Art erschüttert Tankred Dorst die Erwartung jenes Zuschauers, der gerne normal-alltägliche Abläufe auf der Bühne sehen möchte. So lässt er erstens – meist zu Ende eines der vierzehn Bilder – einen im Bild auftretenden Schauspieler die Zukunft kommentieren. Julias letzter Satz am Ende des zweiten Bildes lautet zum Beispiel: „Sie heiratet ihn“[5] und meint sich natürlich selbst. Manchmal tritt aber der Kommentator – wieder eine dem Zuschauer bereits bekannte Figur – mit jenem Schlusssatz zum ersten Mal in dem betreffenden Bild auf. Beispiel – der Graf im sechsten Bild: „Sie reisten am nächsten Tag aufs Land.“[6] Zweitens stellen sich die beiden Irrenärzte in der Klinik im neunten Bild als Krapp und der Graf heraus.[7]

Selbstzeugnis

Tankred Dorst äußerte sich 1992 in einem Interview:

„Meine Absicht war, ein Stück zu schreiben, bei dem ich alles Überflüssige, was der Geschichte selbst nicht dient, weglasse. Das hab’ ich früher nicht gemacht, weil ich der Ansicht war, dass eine Person erst dann lebendig wird, wenn sie auch Überflüssiges von sich gibt. Ich dachte, dass der Reichtum einer Person beschränkt wird, wenn sie nur die Handlung zu bedienen hat. Das Stück ist so gebaut, dass auf der Bühne ein exemplarischer Fall abgehandelt wird, wobei in jeder Szene ein neuer Aspekt hinzukommt, der eine immer neue Drehung der Geschichte bewirkt. Das Thema ist, dass wir nicht dahinterkommen, was die Wahrheit eigentlich ist. Fernando Krapp kann man als Geschichte einer Gehirnwäsche lesen. Oder als Frage: Bestimmt der, der die Macht hat, auch das, was die Wahrheit ist? Der entscheidende Punkt für mich bei dieser Geschichte war, dass die Frau zu ihrem Mann sagt: «Ich betrüge dich!» Und er antwortet: «Das ist unmöglich, mich kann man gar nicht betrügen.» Die Reaktion ist also nicht Eifersucht und Zorn, sondern masslose Selbstüberschätzung. Und die wird exzessiv weitergeführt. Der Mann ignoriert die Realität und dreht sie so um, dass die Frau schliesslich im Irrenhaus landet. Es ist ein Stück über Manipulation und ich dachte mir, dass es wie ein Modell gebaut sein müsse, möglichst einfach und exempelhaft.“

Tankred Dorst: KGT[8]

Inszenierungen

Adaptionen

Rezeption

Literatur

Textausgaben

  • Tankred Dorst: Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben – Ein Versuch über die Wahrheit. Mitarbeit Ursula Ehler. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, 96 Seiten. ISBN 978-3-518-40428-7.
  • Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben. Ein Versuch über die Wahrheit. S. 93–134 in Tankred Dorst. Die Schattenlinie und andere Stücke. Mitarbeit Ursula Ehler. Werkausgabe 6 (Inhalt: Parzival. Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben. Herr Paul. Nach Jerusalem. Die Schattenlinie. Die Geschichte der Pfeile). Nachwort: Günther Erken. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995 (1. Aufl.), ohne ISBN, 375 Seiten (Verwendete Ausgabe).

Sekundärliteratur

  • Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): text + kritik Heft 145: Tankred Dorst. Richard Boorberg Verlag, München im Januar 2000, ISBN 3-88377-626-2.
  • Tankred Dorst: Die Freude am Leben und andere Stücke. Mitarbeit Ursula Ehler. Werkausgabe 7. Nachwort: Wend Kässens. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002 (1. Aufl.), ohne ISBN, 396 Seiten.
  • Gero von Wilpert: Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A–Z. Stuttgart 2004, ISBN 3-520-83704-8, S. 126, linke Spalte.

Einzelnachweise

Teilweise in französischer und englischer Sprache

  1. Kässens im Nachwort der Tankred-Dorst-Werkausgabe 7, S. 389, 9. Z.v.o.
  2. Erken in der verwendeten Ausgabe, S. 367, 5. Z.v.o. und auch bei Arnold, S. 87, linke Spalte, letzter Eintrag
  3. Verwendete Ausgabe, S. 375, zweiter Eintrag
  4. Verwendete Ausgabe, S. 132, 6. Z.v.u.
  5. Verwendete Ausgabe, S. 100, 3. Z.v.o.
  6. Verwendete Ausgabe, S. 113, 1. Z.v.u.
  7. Verwendete Ausgabe, S. 123, 6. Z.v.u. sowie S. 124, 12. Z.v.o.
  8. Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben. Kunstgesellschaft Thun. Archiviert vom Original am 27. November 2011. Abgerufen am 7. April 2019.
  9. Thomas Heine (Memento des Originals vom 13. Dezember 2015 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/uebertheater.blogspot.de in der BZ
  10. Werkbühne Berlin
  11. eng. Théâtre Montparnasse
  12. frz. Bernard Lortholary
  13. frz. Aufführung Paris anno 1999
  14. Theater Ariane
  15. frz. Bernard Murat
  16. Verfilmung Frankreich anno 2000
  17. Erken im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 367, 13. Z.v.u.
  18. Erken im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 368, 19. Z.v.o.