Fall Nathusius
Der Fall Nathusius (auch bekannt als Nathusius-Affäre, besonders in Frankreich: l’affaire Nathusius[2]) bezeichnet die Verhaftung und den anschließenden Prozess gegen einen pensionierten deutschen Offizier vor einem französischen Kriegsgericht in Lille im November 1924. Der Generalmajor a. D. Wilhelm von Nathusius wurde wegen Diebstahls angeklagt und verurteilt. Die juristische Auseinandersetzung endete im Mai 1925 mit der Einstellung eines Anschlussverfahrens vor dem Reichsgericht in Leipzig.
Verlauf
Nach dem Abmarsch der deutschen Truppen aus Frankreich im Jahr 1918 war Nathusius beschuldigt worden, mehrere Gegenstände aus dem von ihm und seinem Stab als Quartier[3] benutzten Haus eines Industriellen in Roubaix gestohlen zu haben. Deswegen fand 1921 in Abwesenheit Nathusius’ und ohne sein Wissen ein Prozess gegen ihn statt, bei dem er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde.[4] Als Nathusius am 1. November 1924 zu Allerseelen einen Friedhofsbesuch in Frankreich machen wollte, wurde er an der Grenze verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt.[5] Das alte Verfahren wurde annulliert, ein Teil der ursprünglichen Anklage wurde fallen gelassen, für den Rest wurde Nathusius am 20. November 1924 mit 4 gegen 3 Stimmen zu einem Jahr Gefängnis und zur Übernahme der Verfahrenskosten verurteilt.[6] Am 25. November begnadigte die französische Regierung Nathusius, der an seinen Wohnort Kassel zurückkehrte, wo er von der Bevölkerung freudig empfangen wurde.[7]
Das von Nathusius beim französischen Kassationsgericht eingereichte Revisionsbegehren wurde am 5. Februar 1925 abgelehnt.[8] „Das Reichsgesetz vom 18. Dezember 1919 zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen“[9] verpflichtete Deutschland, beim Reichsgericht in Leipzig ein Verfahren auch gegenüber Personen zu eröffnen, die die Tat im Ausland begangen hatten. Die Verfahren gingen als Leipziger Prozesse in die Geschichte ein und führten selten zu Verurteilung.[10] Dem Gesetz folgend, wurde gegen General Nathusius nach seiner Verhaftung ein Verfahren eröffnet.[11] Das Verfahren wurde mangels eines strafbaren Tatbestandes am 27. Mai 1925 eingestellt.[12] Die Affäre fand damit ihr Ende.
Wirkung
Der Fall ereignete sich in der nach dem Ersten Weltkrieg und vor allem nach der Besetzung des Ruhrgebietes nationalistisch wie revanchistisch aufgeladenen Zeit unmittelbar vor der Reichstagswahl vom 7. Dezember 1924 und drohte die deutsch-französische Verständigung zu stören. Er wurde von der deutschnationalen Opposition in ihrer Wahlpropaganda ausgeschlachtet. Vor allem in nationalkonservativen Kreisen fühlte man sich von Frankreich nicht korrekt behandelt.[13]
Siehe auch
- Fall Rouzier
Literatur
- I. L. Hunt: American Military Government of Occupied Germany, 1918–1920: Report of the Officer in Charge of Civil Affairs, Third Army, and American Forces in Germany. In: United States Army (Hrsg.): American Forces in Germany, 1918–1923. Band 4.
- Heinrich von Feilitsch: Der Fall Nathusius. In: Deutsche Juristen-Zeitung. 1924, Jahrgang 29.
- Ignaz Wrobel [d. i. Kurt Tucholsky]: Der Fall Nathusius. In: Die Weltbühne. 1924. 20. Jahrgang, Zweites Halbjahr, S. 759 ff.
Weblinks
Einzelnachweise und Anmerkungen
- ↑ Alpenländische Rundschau, Unpolitische Wochenschrift für die Alpenländer Kärnten, Tirol, Vorarlberg, Salzburg u. Steiermark, Jahrgang 1924, Folge 60 vom 29. November, S. 1, Verlagsanstalt Alpenländische Rundschau, Klagenfurt
- ↑ Action française, Nr. 315 vom 10. November 1924, oder Les Faits sociaux, Ausgaben 314–364, Comité national d’études sociales & politiques (France), 1924, S. 27.
- ↑ Le Général Von Nathusius devant le Conseil de Guerre, Le Midi Socialiste, Toulouse, Nr. 7.077, S. 2 vom 21. November 1924 (pdf; 6,50 MB; in Französisch; abgerufen am 29. März 2013).
- ↑ Wartime Theft. Nathusius Sentenced. Year’s Imprisonment. Re-Trial G[r]anted (basierend auf Reuters-Nachrichten zum Prozessverlauf aus Berlin, London und Paris vom 21. November 1924), Northern Advocate, Whangārei (Neuseeland), vom 22. November 1924, S. 5 (in Englisch: „The Court deliberated for an hour and gave its verdict by a majority of four votes to three“; abgerufen via Papers Past der National Library of New Zealand am 29. März 2013).
- ↑ La grâce du Général von Nathusius in der französischen Wochenzeitung L’Illustration vom 29. November 1924, Ausgaben 4257–4269, S. 485, 1924 (Google Books, in Französisch; abgerufen am 29. März 2013).
- ↑ James F. Willis: Prologue to Nuremberg. The Politics and Diplomacy of Punishing War Criminals of the First World War. Greenwod Press, Westport, CT 1982, S. 144.
- ↑ Nathusius Spurns Pardon; Reaching Cassel, German General Says He Has Protested to Herriot, New York Times vom 28. November 1924, S. 2 (in Englisch: „All Cassel was out to greet him at the railway station. Young women presented him with flowers and the Provincial Governor, Dr. Schwandter, made a speech“; abgerufen auf einer Archiv-Website der NYT am 29. März 2013, kostenpflichtig).
- ↑ Le pourvoi de von Nathusius rejeté (Memento des Originals vom 7. Januar 2016 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. , Journal de Genève, 6. Februar 1925, S. 8 (in Französisch; abgerufen am 3. April 2013).
- ↑ Entwurf eines Gesetzes zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen, Verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung, Aktenstücke Nr. 1742, 1743 (abgerufen am 6. April 2013).
- ↑ Harald Wiggenhorn: Eine Schuld fast ohne Sühne – Erinnerung an die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse vor 75 Jahren. Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit aus Hamburg vom 16. August 1996, S. 9–11.
- ↑ Der Fall Nathusius, National-Zeitung, Basel, Nr. 558 vom 27. November 1924, Abendblatt, S. 2.
- ↑ Wolff: Der Fall Nathusius, Der Bund, Bern, Nr. 219 vom 27. Mai 1925, 2. Blatt, S. 2.
- ↑ Der Liller Prozeß, Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1771 vom 26. November 1924, Mittagausgabe, Blatt 3.
Auf dieser Seite verwendete Medien
Zeichnung zum Gerichtsprozess gegen Generalmajor a.D. Wilhelm von Nathusius im November 1924 in Lille, Frankreich. Erschienen auf der Titelseite: Alpenländische Rundschau, Untertitel: Unpolitische Wochenschrift für die Alpenländer Kärnten, Tirol, Vorarlberg, Salzburg und Steiermark; Folge 60, Jahrg. 1924; Verlag gem. Impressum und Abonnementbestellkarte: Verlagsanstalt “Alpenländische Rundschau” und Rotationsdruck Gutenberghaus, Klagenfurt; Wilhelm Merkel (Hrsg.); Hans Kerschbaum (Schriftleitung). Verlag und Zeitung wurden vor dem Zweiten Weltkrieg von dem NS-Gauverlag übernommen; die Zeitung wurde nach dem Krieg nicht mehr verlegt.