Exotismus
Als Exotismus wird in der Soziologie eine eurozentristische Sichtweise bezeichnet, bei der außereuropäische Kulturen auf den „Reiz des Fremden“ reduziert werden. In der Sprachwissenschaft ist ein Exotismus (Mehrz. Exotismen) ein Wort, das nicht nur einer anderen Sprache entstammt, sondern auch nur in deren kulturellem Kontext relevant ist. Im Bereich der Künste – schreibt Thomas Betzwieser – seien es verschiedene Phänomene und Strömungen, „deren Hauptmerkmal in einer Beeinflussung der europäischen Kunst durch fremdländische, insbesondere außereuropäische Elemente besteht“.[1]
Begriffliches Umfeld und Wortherkunft
Die Begriffe Exotik und exotisch bezeichnen allgemein ein fremdartiges Aussehen oder sonstige ungewöhnlich erscheinende Eigenschaften, die meist mit der Herkunft aus fernen, insbesondere tropischen Ländern in Zusammenhang stehen.[2] Dagegen bezieht sich der Begriff Exotismus auf die Wirkung des Exotischen und dessen Rezeption in einer anderen Kultur.
Der Ursprung des Begriffs Exotismus liegt in einem Diskurs, der im 19. Jahrhundert in Frankreich geführt wurde. Der Schriftsteller Théophile Gautier gebrauchte in einer programmatischen Erklärung an die Brüder Edmond und Jules de Goncourt vom 23. November 1863 das Wort exotisme. Gautier unterschied einen exotisme der räumlichen und einen exotisme der zeitlichen Entfernung. Die Brüder Goncourt hatten das Wort exotisme schon am 20. Februar 1860 in ihrem Tagebuch verwendet,[3] ihre Tagebücher wurden jedoch erst Jahrzehnte später veröffentlicht. Zu beachten ist, dass das französische Wort exotisme einerseits dem deutschen Wort Exotik entspricht,[4] andererseits auch das neugierige Verhältnis zur Exotik oder eine Vorliebe für Exotisches bezeichnen kann, also den Exotismus.[5]
Exotismus in den Künsten
Der Reiz exotischer Länder wurde insbesondere in den Künsten aufgenommen: in der Literatur, der Malerei, der Architektur und dem Kunstgewerbe, ebenso in der Musik und in Filmen. Exotismus kommt in verschiedenen Varianten auch in der Werbung vor. Die Grenzen zum Primitivismus sind oft fließend.
Literatur
Zu den Begründern der Exotismus-Theorie zählt Jean Marie Guyau. Er sah 1889 in L’art au point de vue sociologique den Exotismus als Mittel in der Kunst, um bei realistischer Stilintention der Gefahr des Trivialen zu entgehen. Als Resultat erhoffte er sich das sogenannte Malerische, das Lokalkolorit, wie er es bereits in den exotischen Romanen von „Realisten“ wie Bernardin de Saint-Pierre, Flaubert und bei dem unmittelbaren Zeitgenossen Pierre Loti vorfand.
Laut Friedrich Brie (Exotismus der Sinne. Eine Studie zur Psychologie der Romantik 1920) ist Wilhelm Heinses Roman Ardinghello und die glücklichen Inseln der einzige deutsche Roman mit ausgeprägtem Exotismus.
Eine große Rolle spielt Exotismus in der internationalen Trivialliteratur, z. B. in vielen Bodice-Ripper-Romanen, deren Handlung wenigstens zum Teil in zivilisationsferne Gegenden verlegt ist, um Szenarien glaubwürdig erscheinen zu lassen, in denen die weibliche Hauptfigur zur Liebe gezwungen wird, was es den Autoren dann erlaubt, sexuelle Handlungen freizügig darzustellen. Ein frühes Beispiel ist E. M. Hulls Abenteuer- und Liebesroman The Sheik (1919) über eine junge Engländerin, die in der Wüste von einem Araber entführt wird, bei dem sie dann ihr Liebesglück findet.
Musik

In der Musik lässt sich der Exotismus auf drei Ebenen beobachten: "In der Stoffwahl und Ausstattung von Bühnenwerken sowie in der Verwendung 'exotischen' Materials."[1]
Exotismus in der Operette
Eine Vielzahl an exotischen Titeln und Inhalten zeigt, dass die Gattung der Operette den Exotismus intensiv nutzte, wobei Ostasien und dem Orient ein besonderer Fremdreiz zugesprochen wird.
Auf den Schauplatz der Operetteninhalte bezogen, ergeben sich zwei gegensätzliche Möglichkeiten der Darstellung: "Entweder man wählt eine evasive, eine Ausbruchskonstruktion von Hier nach Dort. Oder man wählt eine invasive, eine Einbruchskonstruktion von Dort nach Hier."[6] Exotische „Ausbruchstücke“ werden als Stücke definiert, in denen die Hauptfiguren den heimischen Ort verlassen, um in ein fremdes Land zu reisen und "sich an fremdartigen Lebensformen zu reiben".[6] In „Einbruchstücken“ verlassen hingegen die aus der Fremde stammenden Hauptfiguren ihr Herkunftsland und brechen in den heimischen Ort ein, wo sie in Konflikte mit den dortigen Lebensformen kommen.
Ein Beispiel für ein Ausbruchstück ist Arthur Sullivans Mikado, da die Handlung ausschließlich in Japan mit japanischen Hauptfiguren spielt. Sullivan entwirft „den reizvollen Schein einer völlig eigenartigen und selbstgenügsamen, geradezu unzugänglichen und unbeobachteten Fremde.“.[7] Bei genauerer Betrachtung entdeckt man die ironisch zugespitzte Kritik Sullivans an der eigenen Gesellschaft. Der exotische Reiz, den Mikado bietet, ist nur vordergründig, vielmehr „lacht dem Publikum die Exotik der Heimat ins Gesicht“.[8]
Eine Operette mit dem Charakter eines Mischtyps aus Ausbruchs- und Einbruchstück ist Franz Lehárs Das Land des Lächelns. Bei Lehár steht die Beziehung zwischen zwei Menschen im Vordergrund, die in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen sind, und deren Liebe an diesen Differenzen zerbricht. China als 'exotisches' Land ist somit beliebig austauschbar, denn die Operette zielt auf eine allgemein gültige Aussage ab: „[…] Selbst ein hochfeudaler Schuster [sollte] bei seinem Leisten bleiben […]“.[9]
Soziologie
Mit dem Kolonialismus intensivierte sich der Kontakt europäischer Nationen mit fremden Kulturen, wobei diese häufig missverstanden wurden. Da die meisten Europäer an diesen Kontakten nicht teilnahmen, speiste sich die Vorstellung von den fremden Menschen und Kulturen auch vornehmlich aus Phantasien und Projektionen. Beispielsweise kam eine verklärende Sichtweise des Fremden auf, die mit den eigenen Entsagungen der Europäer im Prozess der Zivilisation zusammenhängt. Einige Europäer projizierten ihre eigenen Wunschgedanken in die „Exoten“ und hielten die Menschen in den für sie neu erschlossenen Welten für „edle Wilde“. Hierzu gehören insbesondere Vertreter der europäischen Aufklärung, wie Denis Diderot oder Jean-Jacques Rousseau mit seinem Konzept einer Gesellschaft im „Naturzustand“. Insbesondere sexuelle Entsagungen führten zu einem Bild „triebhafter Eingeborener“ mit einer besonderen sexuellen Potenz. Die zunehmende Entfremdung im Zuge der Industrialisierung hat eine besondere romantische Form der „Naturverbundenheit“ hervorgebracht, die ebenfalls den „Wilden“ zugeschrieben wurde. Bekannte Vertreter solcher Positionen waren Rudyard Kipling und Karl May.
Mit dem Exotismus geht eine Wahrnehmung der Fremden einher, deren Lebensumstände und Unterdrückung infolge des Kolonialismus kaum gesehen werden. Hinzu kommt, dass mit dem Bild der „Natürlichkeit“ zum Beispiel bei Rousseau eine Begründung der Unterlegenheit der „Wilden“ einhergeht. Diese seien zwar der Natur näher, aber dafür der Kultur ferner und insofern als Kinder anzusehen. Hierin drückt sich eine Form des Rassismus ohne Rassen aus, der formal sogar mit einer Hochachtung vor den „Wilden“ begründet wird.
Manche Thesen radikaler Vertreter des Kulturrelativismus werden als eine Form eines exotistischen „umgekehrten Rassismus“ kritisiert, da diese die Menschenrechte den Werten der Tradition und Gemeinschaft unterordnen würden. Ein Beispiel ist die in einigen Religionen und Kulturen praktizierte Beschneidung weiblicher Genitalien, die nach Ansicht mancher Kulturrelativisten als traditionelle Praxis – die sich als solche moralischer Werturteile entziehe – zu tolerieren sei.
Sprachwissenschaft
In der Sprachwissenschaft ist ein Exotismus ein Fremdwort oder Lehnwort, dessen Verwendung auf einen Gegenstand in der Umwelt der Gebersprache beschränkt bleibt.[10] Beispiele:
- Iglu – das Wort stammt aus der Eskimosprache Inuktitut, und fast nur Eskimos bauen Iglus.
- Das persische Wort Schah bezeichnet einen persischen Herrscher, nicht jedoch beispielsweise einen deutschen Herrscher.
- Das finnische Wort Vappu wird nur zur Bezeichnung eines Feiertags in Finnland verwendet.
- Hornussen (aus dem Berndeutschen) ist ein Mannschaftssport, der nur in Teilen der Schweiz ausgeübt wird.
Ein Fremdwort ist kein Exotismus, wenn der mit ihm bezeichnete Gegenstand nicht nur im Ursprungsgebiet des Wortes vorkommt, sondern auch in anderen Ländern oder Kulturen. Ein Beispiel dafür ist das Wort Sauna (aus dem Finnischen).
Siehe auch
- Japonismus
- Orientalismus (Kunst)
- Exotica (eine Spielart des Jazz)
- Exotisierung
Literatur
- Hartmut Amon (Hrsg.): Wie wird man fremd? Rassismustheorien. Unrast, Münster 2001, ISBN 3-89771-405-1. (jour fixe Initiative Berlin)
- Susan Arndt (Hrsg.): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland. Unrast, Münster 2006, ISBN 3-89771-028-5.
- Urs Bitterli: Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Die europäisch-überseeische Begegnung. C. H. Beck, München 2004, ISBN 3-406-35583-8.
- Volker Klotz: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. Neuaufl. Bärenreiter, Kassel 2004, ISBN 3-7618-1596-4.
- Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst („Etrangers à nous-mêmes“). Suhrkamp, Frankfurt 1990, ISBN 3-518-11604-5.
- Kuan-wu Lin: Westlicher Geist im östlichen Körper?: "Medea" im interkulturellen Theater Chinas und Taiwans. Zur Universalisierung der griechischen Antike. Transcript, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-8376-1350-6.
- Marie Lorbeer, Beate Wild (Hrsg.): Menschenfresser – Negerküsse. Das Bild von Fremden im deutschen Alltag. 2. Auflage. Elefanten Press Verlag, Berlin 1993, ISBN 3-88520-394-4.
- Peter Martin: Schwarze Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Geschichte und Bewußtsein der Deutschen. Hamburger Edition 2001, ISBN 3-930908-64-6.
- Henning Melber: Der Weissheit letzter Schluß. Rassismus und kolonialer Blick. Brandes & Apsel, Frankfurt 1992, ISBN 3-86099-102-7.
- Hermann Pollig (Hrsg.): Exotische Welten, Europäische Phantasien. Neuausg. Cantz, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-922608-65-3. (Katalog zur Ausstellung, 2. September bis 29. November 1987)
- Wolfgang Reif: Zivilisationsflucht und literarische Wunschräume. Der exotistische Roman im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Metzler, Stuttgart 1975, ISBN 3-476-00309-4. (zugl. Dissertation, Universität Saarbrücken 1973)
- Peter Revers: Exotismus. In: Oesterreichisches Musiklexikon. Online-Ausgabe, Wien 2002 ff., ISBN 3-7001-3077-5; Druckausgabe: Band 1, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2002, ISBN 3-7001-3043-0.
- Victor Segalen: Die Ästhetik des Diversen. Versuch über den Exotismus. („Essai sur l'Exotisme. Une Ésthétique du Divers“). Fischer TB, Frankfurt 1994, ISBN 3-596-10108-5.
- Hito Steyerl, Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hrsg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Unrast, Münster 2003, ISBN 3-89771-425-6.
- Peter Dering/Gerd Presler/Peter Gerlach/Gertrude Cepl-Kaufmann: Kleine Fluchten. Exotik im Rheinischen Expressionismus, Bonn 1995 (Nr. 15, Schriftenreihe Verein August Macke Haus, Bonn)
Weblinks
- Martin Baier: Exotismusforschung. Umfangreiche Abhandlung über den Exotismus
Einzelnachweise
- ↑ a b Thomas Betzwieser: Exotismus. In: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3, Bärenreiter, Kassel 1995, DNB 945503717, Sp. 226.
- ↑ Vgl. Duden online: Exotik und exotisch
- ↑ Journal des Goncourt : Mémoires de la vie littéraire, Année 1860 bei Wikisource (französisch).
- ↑ Vgl. Übersetzungen für französisch exotisme bei dict.leo.org
- ↑ Französisch exotisme bei cnrtl.fr (Centre National de Ressources Textuelles et Lexicales)
- ↑ a b Volker Klotz: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. Bärenreiter, Kassel u. a. 2004, ISBN 3-7618-1596-4, S. 89.
- ↑ Volker Klotz: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. Bärenreiter, Kassel u. a. 2004, S. 101.
- ↑ Volker Klotz: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. Bärenreiter, Kassel u. a. 2004, S. 104.
- ↑ Volker Klotz: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. Bärenreiter, Kassel u. a. 2004, S. 92.
- ↑ Duden online: Exotismus
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The Mikado by Gilbert & Sullivan Lithograph depicts Kate Forster (left), Geraldine Ulmar (center), and Geraldine St. Maur (right) as the three little maids, respectively Pitti-Sing, Yum-Yum, and Peep-Bo.