Evolutionäre Ethik
Unter Evolutionärer Ethik (auch: (eher abwertend) evolutionistischer Ethik oder evolutionsbiologischer Ethik-Theorie) versteht man eine Ethik, die ausgehend von dem Paradigma, dass moralisches Verhalten beim Menschen eine spezielle Form des Sozialverhaltens ist, die Gesetzmäßigkeiten dieses Sozialverhaltens (ausschließlich) durch evolutionäre Mechanismen erklärt und begründet. Die evolutionäre Ethik versteht sich als Versuch, die Ethik aus der darwinschen Abstammungslehre naturwissenschaftlich zu begründen. Sie steht in der Tradition der Soziobiologie, grenzt sich aber bewusst vom Sozialdarwinismus ab, der den verloren geglaubten Auslesedruck künstlich (d. h. gesellschaftlich autoritär) wieder erhöhen wollte. Die evolutionäre Ethik erlebt seit Mitte der 1970er-Jahre eine neue Blüte.
Die evolutionäre Ethik ist "eine der wichtigsten Varianten des ethischen Naturalismus"[1].
Die Hauptaussage der evolutionären Ethik lässt sich wie folgt darstellen: Der Mensch, inklusive aller seiner geistigen Fähigkeiten, ist durch darwinsche Evolution entstanden und daher ist auch sein moralisches Verhalten einem evolutionären Selektionsprozess unterworfen. Folglich müssen alle moralischen Vorstellungen so gestaltet sein, dass sie einen (Überlebens-)Vorteil entweder dem einzelnen Organismus, dem Gen oder Mem, welches das Verhalten generiert, oder – nach anderer Sicht – einer Gruppe (Kin-Selektion) bringen.
Geschichte
Herbert Spencer wird als einer der wichtigsten Vorläufer – wenn nicht gar Begründer – der evolutionären Ethik betrachtet. Der Begriff wurde erstmals 1893 von Thomas Henry Huxley mit seinem Buch Evolution und Ethik (engl. Evolution and Ethics) geprägt. Weitere Vertreter sind der US-amerikanische Wissenschaftshistoriker Robert J. Richards, Edward O. Wilson mit seinem Hauptwerk Sociobiology: The New Synthesis (1975) und Richard Dawkins mit The Selfish Gene (1976). Der bekannteste deutsche Vertreter einer evolutionären Ethik ist Gerhard Vollmer.
Philosophische Kritiken
Wegen ihres exklusiven Erklärungsanspruches wird die Evolutionäre Ethik zu den biologistischen Strömungen gezählt und ist auf heftigen Widerspruch gestoßen.
Die Evolutionäre Ethik setzt eine naturalistische Metaethik voraus und ist daher den gleichen Argumenten wie der ethische Naturalismus allgemein ausgesetzt: als Missachtung des Humeschen Gesetzes und als Fall eines naturalistischen Fehlschlusses (letzteres nur bei Zugrundelegung eines ethischen Realismus).[2]
Es wird eingewandt, dass die Gleichsetzung „evolutionär erfolgreich“ mit „ethisch gut“ kontraintuitiv sei.[3] Anschaulicher: Eine evolutionäre Ethik dürfte kaum ihren sozialdarwinistischen Implikationen entgehen können: in der Logik der evolutionären Ethik ist ein militärisch erfolgreicher Genozid, weil evolutionär erfolgreich, ein ethisch guter Genozid und ist der Mörder, weil evolutionär erfolgreicher, ethisch besser als der Ermordete.[4]
Eine grundsätzliche philosophische Kritik an der Evolutionären Ethik will diese auf eine spezielle Form des Relativismus zurückführen.
Altruistisches Verhalten, welches gerne als Einwand gegen die evolutionäre Ethik in Stellung gebracht wird, wird von der evolutionären Ethik durch einen Vorteil der altruistischen Verhaltensweise für eine ganze (verwandte) Gruppe (Kin-Selektion) erklärt. Inwieweit diese Erklärung alle altruistischen Verhaltensweisen beim Menschen erklären kann, ist heftig umstritten.
Siehe auch
Literatur
- Thomas Henry Huxley: Collected essays. 9 vols. Vol 1: Methods and results; vol 2: Darwiniana; vol 3: Science and education; vol 4: Science and Hebrew tradition; vol 5: Science and Christian tradition; vol 6 : Hume, with helps to the study of Berkeley; vol 7: Man's place in nature; vol 8: Discourses biological and geological; vol 9: Evolution and ethics, and other essays, London: Macmillan 1893–94
- Wilhelm Vossenkuhl: Evolutionistische Ethik, in: Otfried Höffe: Lexikon der Ethik. 7. Auflage. München, Beck 2008, ISBN 978-3-406-56810-7
- Bernd Gräfrath: Evolutionäre Ethik? Philosophische Programme, Probleme und Perspektiven der Soziobiologie. Walter de Gruyter: Berlin 1997. Buchanzeige
- Michael Quante: Einführung in die Allgemeine Ethik. 4. Auflage. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011, ISBN 978-3-534-24595-6, S. 114–124.
- Volker Sommer: Die Natur der Moral. Evolutionäre Ethik und Erziehung. Hirzel, Stuttgart 1999. Buchanzeige
- Eve-Marie Engels: Evolutionäre Ethik, in: Handbuch Ethik. Hg. v. Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner, Verlag J. B. Metzler: Stuttgart, Weimar 2002, 341–346
Weblinks
- Doris Schroeder: Eintrag in J. Fieser, B. Dowden (Hrsg.): Internet Encyclopedia of Philosophy.
- Hans Werner Ingensiep, Universität Duisberg-Essen
- Das wollte ich nicht. Das waren meine Gene! Vom Darwinismus zur evolutionären Ethik, Tagung der Evangelischen Akademie Loccum vom 25. bis 27. März 2009
- http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/thomas.bonhoeffer/evolutio.htm
- Robin F. A. Moritz, Universität Halle
Einzelnachweise
- ↑ Michael Quante: Einführung in die Allgemeine Ethik. 4. Auflage. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011, ISBN 978-3-534-24595-6, S. 114
- ↑ Ausführlich Michael Quante: Einführung in die Allgemeine Ethik. 4. Auflage. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011, ISBN 978-3-534-24595-6, S. 121–123.
- ↑ Michael Quante: Einführung in die Allgemeine Ethik. 4. Auflage. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011, ISBN 978-3-534-24595-6, S. 124
- ↑ Vgl. auch Wilhelm Vossenkuhl: Evolutionistische Ethik, in: Otfried Höffe: Lexikon der Ethik. 7. Auflage. München, Beck 2008, ISBN 978-3-406-56810-7: Das Überleben ist weder Grund für die Annahme, dass "das sittlich beste Lebewesen überlebt, noch umgekehrt dafür, daß sittliche Kriterien überhaupt Bedingungen des Überlebens sind."