Euler-Liljestrand-Mechanismus

Der Euler-Liljestrand-Mechanismus oder Euler-Liljestrand-Reflex („von Euler-Liljestrand-Reflex“; gemäß Paul Henri Rossier auch alveolo-vaskulärer Reflex genannt), klinisch auch als hypoxische pulmonale Vasokonstriktion (HPV), als „regionärer alveolokapillärer Reflex“[1] oder als „alveolo-kapillarer Reflex“[2] bezeichnet, beschreibt den Zusammenhang zwischen der Belüftung (Ventilation) und der Durchblutung (Perfusion) der Lunge, beschrieben als Ventilations-Perfusions-Verhältnis (-Quotient oder besser -Quotient[3]).[4]

Der Begriff Reflex ist irreführend, da Reflexe streng genommen neuronal vermittelt sind. Besser ist die Verwendung des Begriffs hypoxische pulmonale Vasokonstriktion (HPV).

Geschichte

Der Mechanismus wurde 1946 von Ulf von Euler und Göran Liljestrand entdeckt,[5] obgleich schon die britischen Forscher John Rose Bradford und Henry Percy Dean im Jahre 1894 im Tierversuch an Hunden einen Anstieg des pulmonalarteriellen Druckes (PAP) unter Asphyxie beobachteten[6] (vergleiche auch hierzu Pulmonale Hypertonie).

Irrtümlich wird der Euler-Liljestrand-Mechanismus in manchen medizinischen Wörterbüchern auf Ulf von Eulers (1905–1983) Vater Hans von Euler (1873–1964) zurückgeführt;[7][8][9] beide waren Nobelpreisträger und verwandt mit Leonhard Euler. Diese falsche Zuschreibung fand sich 1986 auch im Klinischen Wörterbuch von Willibald Pschyrembel.[10]

In den modernen Lehrbüchern zum Beispiel von Tinsley Randolph Harrison oder von Wolfgang Piper[11] und im Merck Manual wird der Euler-Liljestrand-Mechanismus nicht erwähnt.[12][13]

Physiologie

Nimmt die Ventilation in einem Teil der Lunge ab – auch als alveoläre Hypoventilation bezeichnet – führt dies zu einem lokalen Sauerstoffmangel (Hypoxie) und zur reflektorischen Verengung (Konstriktion) der Blutgefäße in diesem Lungenabschnitt.[14][15]

Durch gezielte Vasokonstriktion der entsprechenden Lungengefäße in Arealen alveolärer Hypoxie können die Lunge beziehungsweise die Lungenabschnitte die Perfusion der lokalen Ventilation anpassen. Dadurch wird verhindert, dass Blut die Lunge passieren kann, ohne oxygeniert zu werden (Shunt). Man kann physiologisch zwischen einer akuten Phase der HPV und einer protrahierten Phase differenzieren. Die HPV setzt innerhalb weniger Sekunden ein und erreicht nach circa 15 Minuten ein Plateau.

Durch die HPV kommt es zu einer Homogenisierung des Ventilations-Perfusions-Verhältnisses. Die Partialdruckdifferenz zwischen Alveolen und Arteriolen, also die alveolo-arterielle Sauerstoffdruckdifferenz (AaDO2), verringert sich. Der pulmonale Shunt nimmt ab, das heißt, die venöse Beimischung aus durchbluteten, aber nicht belüfteten Arealen nimmt ab. Der arterielle Sauerstoff-Partialdruck (paO2) erhöht sich im Sinne einer Normalisierung.[16]

Phylogenetisch spielt die hypoxische pulmonale Vasokonstriktion wahrscheinlich eine wichtige Rolle bei der evolutionären Anpassung der regionalen Durchblutung von Lungenabschnitten an die regionale Ventilation. Der Mechanismus spielt auch bei der Höhenanpassung beziehungsweise bei der Entstehung der Höhenkrankheit eine wichtige Rolle. So kann eine fortschreitende Hypoxie ein Höhenlungenödem verursachen.

Pathophysiologie und klinische Bedeutung

Prinzipiell hat die hypoxische pulmonale Vasokonstriktion (HPV) bei allen Erkrankungen eine große Bedeutung, bei denen es bedingt durch eine alveoläre Hypoxie – also Abnahme des Sauerstoffgehaltes in den Alveolen – zu einer Umverteilung des Blutflusses aus ebendiesen hypoxischen Arealen in besser oxygenierte Abschnitte der Lunge und damit zu einer Optimierung des Ventilations-Perfusions-Verhältnisses kommt. Solche Erkrankungen sind z. B. Pneumonien, chronisch obstruktive Lungenerkrankungen (COPD), ein akutes respiratorisches Lungenversagen (ARDS) und die Höhenkrankheit mit einem Höhenlungenödem.[17] So fand sich in der Multi Ethnic Study of Atherosclerosis (MESA-Trial) ein inverser Zusammenhang zwischen einem Lungenemphysem und dem Schlagvolumen.[18]

Veränderungen der Ventilation führen zu gleichsinnigen Veränderungen der Perfusion. Unklar bleibt, ob umgekehrt auch Veränderungen der Perfusion zu gleichsinnigen Veränderungen der Ventilation führen.[19] Das wäre ein Circulus vitiosus. In beiden Fällen würde sich das Ventilations-Perfusions-Verhältnis nicht (oder zumindest nicht deutlich) verändern, weil proportionale Veränderungen von Zähler und Nenner den Quotienten konstant halten.[20]

Lungenkrankheiten verkleinern die Ventilation und nach Euler/Liljestrand die pulmonale Perfusion. Damit verkleinern sich das Lungenzeitvolumen und das identische Herzzeitvolumen.[21] Nach Wilhelm Nonnenbruch führt jede Verkleinerung des Herzzeitvolumens (HZV) auch zur Reduktion der renalen Perfusion und damit der glomerulären Filtration (GFR).[22] So führen Lungenkrankheiten zur Niereninsuffizienz; das sind die Pulmorenalsyndrome.[23]

Molekulare Mechanismen

Die Frage ist, wie an den pulmonalarteriellen glatten Muskelzellen eine Sauerstoffdifferenz wahrgenommen wird (Sauerstoffsensorik und Signaltransduktion) und durch welche molekulare Mechanismen es zur HPV an der glatten Muskulatur der Pulmonalgefäße kommt.[24] „Zur Erklärung der nicht sichtbaren Einengung der Pulmonalarterien werden der Euler-Liljenstrandsche Reflex sowie das Poiseuillesche Gesetz herangezogen.“[25]

Die Untersuchung der HPV erfolgte in und an verschiedenen Versuchsaufbauten bzw. Modellen, etwa dem Tiermodell, isolierten Lungenpräparaten oder Pulmonalarterien und endothelfreien Pulmonalarterienringen sowie an isolierten glatten Muskelzellen der Pulmonalarterien (PASMC=pulmonary artery smooth muscle cells). Zunächst konnten die glatten Pulmonalarterienmuskelzellen (PASMC) als der eigentliche histologische Ort der HPV bzw. die Lokalisation der Sauerstoffsensorik, die dann zur Vasokonstriktion führt, ausgemacht werden. Damit sind die PASMC sowohl die Sensor- als auch die Effektorzellen der HPV.

Es scheint belegt zu sein, dass ein zytosolischer Anstieg der Calciumkonzentration zur Konstriktion der PASMC führt. Strittig ist bisher die Herkunft des steigenden zytosolischen Calciums. Eine Hypothese sieht den Einstrom des Calciums über sogenannte spannungsabhängige L-Typ Calcium-Kanäle (VOCC=voltage-operated calcium channel) oder über Speicher-gesteuerte Calciumkanäle (SOCC=store-operated calcium channel) aus dem extrazellulären Raum. Andere Hypothesen postulieren die Herkunft des Calciums aus intrazellulären Speichern, wie etwa dem sarkoplasmatischen Retikulum oder auch aus den Mitochondrien.

Auch scheint eine Sensitivierung der PASMC gegenüber Calcium über den RhoKinase-Signalweg für die protrahierte Phase der HPV möglich.

Neben den Calciumkanälen, ob nun spannungsabhängiger L-Typ Kanal (VOCC) oder Speicher-gesteuerter Calciumkanal (SOCC), scheinen aber auch Kaliumkanäle eine wichtige Rolle bei der HPV zu spielen (Synergismus). Kommt es zum Abfall des Sauerstoffpartialdrucks – einer Hypoxie – an den Pulmonalarterienmuskelzellen (PASMC), wird der Kaliumkanal blockiert, was zur Depolarisation der Zelle führt. Spannungsabhängige L-Typ-Calciumkanäle werden aktiviert und es kommt zum Einstrom von Ca2+ über die Plasmamembran und zur Freisetzung von Calcium aus dem sarkoplasmatischen Retikulum. Der Anstieg der Calciumkonzentration bewirkt eine Kontraktion der glatten Gefäßmuskelzelle.

Fazit: Der Abfall des Sauerstoffpartialdrucks führt zu einer Inhibition von Kaliumkanälen, in deren Folge die Zellmembran depolarisiert wird – also Änderung des Membranpotentials in Richtung positiver (bzw. weniger negativer) Werte – und letztlich zur Öffnung von L-Typ Calciumkanälen.

Negative Beeinflussung

Die folgenden Faktoren bewirken eine Aufhebung des Euler-Liljestrand-Mechanismus oder wirken ihm entgegen. Dies ist klinisch in bestimmten Fällen (Thoraxchirurgie bzw. -anästhesie) nicht erwünscht.

Zu erwähnen ist, dass eine Azidose eine pulmonale Vasokonstriktion bewirken würde, die HPV nähme zu.[26]

Literatur

  • Yale Enson, Carlo Giuntini u. a.: The Influence of Hydrogen Ion Concentration and Hypoxia on the Pulmonary Circulation. In: The Journal of clinical investigation. Band 43, Juni 1964, S. 1146–1162, doi:10.1172/JCI104999. PMID 14171792, PMC 289596 (freier Volltext).
  • Markus Rupp: Sauerstoffsensoren und Signaltransduktionswege der hypoxischen pulmonalen Vasokonstriktion – die Rolle von Diacylglycerol, spannungsabhängigem Ca2+-aktiviertem Kaliumkanal (BK) und Hämoxygenase 2. Inauguraldissertation. Gießen 2010. uni-giessen.de (PDF; 1,7 MB)
  • N. Weißmann: Vaskuläre Effekte der alveolären Hypoxie – Sensor- und Signaltransduktionsmechanismen. In: Pneumologie. Band 56, 2002, S. 511–513. doi:10.1055/s-2002-33311

Einzelnachweise

  1. Gerd Harald Herold: Innere Medizin 2021. Selbstverlag, Köln 2020, ISBN 978-3-9821166-0-0, S. 334.
  2. Heinz Walter, Günter Thiele (Hrsg.): Reallexikon der Medizin und ihrer Grenzgebiete. 2. Band: Carg–Ez. Verlag Urban & Schwarzenberg, München/ Berlin/ Wien 1967, ISBN 3-541-84000-5, S. E 248.
  3. Hier stehen für die Ventilation (Belüftung) und für die Perfusion (Durchblutung = Lungenzeitvolumen = Herzzeitvolumen). Ein zusätzlicher Punkt über den Großbuchstaben und kann die erfolgte erste Ableitung des Volumens nach der Zeit angeben, also den Fluss einer Flüssigkeit oder eines Gasgemisches. (lateinisch quantitas = Menge) ist die übliche Abkürzung für jeden Volumenfluss mit der Dimension Volumen pro Zeit. – Beispielsweise betragen bei gesunden Erwachsenen in Ruhe die Ventilation etwa 4 l/min und das Herzzeitvolumen etwa 5 l/min. Daraus errechnet sich ein Ventilations-Perfusions-Verhältnis von = 0,8.
  4. Karl Vossschulte, Hanns Gotthard Lasch, Fritz Heinrich (Hrsg.): Innere Medizin und Chirurgie. 2. Auflage. Georg Thieme Verlag, Stuttgart/ New York 1981, ISBN 3-13-562602-4, S. 321.
  5. Ulf von Euler, Göran Liljestrand: Observations on the Pulmonary Arterial Blood Pressure in the Cat. In: Acta Physiologica Scandinavica. Nr. 12, 1946, S. 301–320, doi:10.1111/j.1748-1716.1946.tb00389.x.
  6. John Rose Bradford, Henry Percy Dean: The Pulmonary Circulation. In: The Journal of Physiology. Band 16, Nr. 1–2, 22. März 1894, S. 34–158, PMID 16992161, PMC 1514499 (freier Volltext).
  7. Roche Lexikon Medizin. 5. Auflage. Verlag Urban & Fischer, München/ Jena 2003, ISBN 3-437-15156-8, S. 573.
  8. Maxim Zetkin, Herbert Schaldach: Lexikon der Medizin. 16. Auflage. Redaktionsleiter Thomas Ludewig, Fackelträger Verlag, Köln ohne Jahr [2005], ISBN 3-7716-4326-0, S. 591.
  9. Günter Thiele: Handlexikon der Medizin., Teil I: A–E. Verlag Urban & Schwarzenberg, München/ Wien/ Baltimore ohne Jahr [1980], S. 702.
  10. Willibald Pschyrembel (Hrsg.): Klinisches Wörterbuch. 255. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/ New York 1986, ISBN 3-11-007916-X, S. 490. Hier trägt der falsche Erstbeschreiber sogar den Doppelnamen „Hans von Euler-Liljestrand“.
  11. Wolfgang Piper: Innere Medizin. Springer-Verlag, Heidelberg 2007, ISBN 978-3-540-33725-6.
  12. The Merck Manual. 20. Auflage. Kenilworth 2018, ISBN 978-0-911910-42-1.
  13. Tinsley Randolph Harrison: Harrisons Innere Medizin. 19. Auflage. McGraw-Hill, Berlin 2016, ISBN 978-3-88624-560-4. (20. Auflage, Georg Thieme Verlag, Berlin 2020, ISBN 978-3-13-243524-7)
  14. Willibald Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch. 268. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/ Boston 2020, ISBN 978-3-11-068325-7, S. 499.
  15. Walter Bleifeld, Christian W. Hamm, Detlev Mathey: Herz und Kreislauf. Springer-Verlag, Berlin/ Heidelberg/ New York/ London/ Paris/ Tokyo 1987, ISBN 3-540-17931-3, S. 163.
  16. Peter Reuter: Springer Klinisches Wörterbuch 2007/2008. Springer-Verlag, Heidelberg 2007, ISBN 978-3-540-34601-2, S. 552.
  17. Walter Siegenthaler, Werner Kaufmann, Hans Hornbostel, Hans Dierck Waller (Hrsg.): Lehrbuch der inneren Medizin. 3. Auflage. Georg Thieme Verlag, Stuttgart/ New York 1992, ISBN 3-13-624303-X, S. 288 f.
  18. R. G. Barr u. a.: Percent emphysema airflow obstruction, and impaired left ventricular filling. In: The New England Journal of Medicine. Band 362, 2010, S. 217–227. Zitiert nach: Peter Alter, Claus F. Vogelmeier, R. A. Jörres: COPD und kardiovaskuläre Komorbiditäten: Interaktionen zwischen Lunge und Herz. In: Herzmedizin. 37. Jahrgang, Nummer 6/2021, Oktober 2021, S. 8–16.
  19. Zwei gegensätzliche Prinzipien können einer Störung des Ventilations-Perfusions-Verhältnisses zugrunde liegen: Beim intrapulmonaler Rechts-Links-Shunt führen nicht belüftete aber perfundierte Lungenalveolen zur Beimischung von gemischtvenösem Blut in den Körperkreislauf. Andererseits reduzieren bei einer gesteigerten alveolären Totraumventilation nicht perfundierte aber belüftete Alveolen die effektive alveoläre Ventilation. Quelle: DocCheck Flexikon.
  20. Claude Perret: Die respiratorische Insuffizienz – Pathophysiologie, Klinik und Therapie. Documenta Geigy Acta clinica, Nummer 6, J. R. Geigy AG, Basel 1966, S. 64 f.
  21. Paul Henri Rossier, Albert Bühlmann: Pathophysiologie der Atmung. In: Handbuch der inneren Medizin. 4. Auflage. 4. Band, 1. Teil, Springer-Verlag, Berlin/ Göttingen/ Heidelberg 1956, S. 38–252. Kapitel: „Lungenfunktion und Herzinsuffizienz“, S. 139–150.
  22. Wilhelm Nonnenbruch: Die doppelseitigen Nierenkrankheiten – Morbus Brightii. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1949.
  23. Claude Perret: Die Rückwirkungen auf die Nierenfunktion. In: Claude Perret: Die respiratorische Insuffizienz – Pathophysiologie, Klinik und Therapie. Documenta Geigy Acta clinica, Nummer 6, J. R. Geigy AG, Basel 1966, S. 66 f.
  24. N. Völkel, W. Duschek, E. Kaukel, W. Beier, S. Siemssen, V. Sill: Histamine – an important mediator for the Euler-Liljestrand mechanism? In: Pneumonologie. Band 152, März 1975, S. 113–121. doi:10.1007/BF02101579
  25. Gotthard Schettler (Hrsg.): Innere Medizin. 4. Auflage, Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1976, ISBN 3-13-444404-6, S. 6.
  26. Reinhard Larsen, Thomas Ziegenfuß: Beatmung (Grundlagen und Praxis). Springer-Verlag, Berlin/ Heidelberg 1997, ISBN 3-540-60461-8.