Etatismus
Etatismus (von französisch État ‚Staat‘, im Englischen statism) ist ein Begriff der Allgemeinen Staatslehre, Politischen Theorie und Politischen Philosophie für ein Merkmal verschiedener Ideologien und Formen der Herrschaft, wonach außen- und innenpolitische, ökonomische, soziale und ökologische Probleme durch staatliches Handeln (Staatsgewalt) bewältigt werden sollen, etwa durch Staatsinterventionismus und Marktregulierung, Sozial-, Umwelt-, Struktur- und Kulturpolitik, Raumplanung, Bildungssystem, Propaganda und Umerziehung, Datenerfassung, Militär, Nachrichtendienste und Polizei, durch Gebote, Verbote, Aufsicht, Sanktion, Ausrufung von Ausnahmezustand und Notstand, Überwachung (etwa Telekommunikationsüberwachung) und Kontrolle (beispielsweise Kapitalverkehrskontrolle, Systeme der Compliance etc.) sowie Subvention und Besteuerung.
Herrschaftsformen des Autoritarismus und Kollektivismus sind oft durch ein etatistisches Staatsverständnis unterlegt. In demokratischen Staatsmodellen können Verfassung und Governance unterschiedlich stark etatistisch ausgeprägt sein. In der Realität existieren somit viele Varianten des Etatismus, wobei verschiedene Politikstile des Paternalismus („Nanny State“) zur Geltung kommen sowie unterschiedliche Formen und Grade der Einbindung bzw. Vereinnahmung gesellschaftlicher Gruppen im Sinne des Korporatismus und unterschiedliche Formen und Grade der Einführung von Elementen der Planwirtschaft bestehen. Totalitäre Staaten gründen auf allumfassendem Etatismus und nehmen Gestalt in der Form einer Diktatur an. Im engeren Sinn kennzeichnet Etatismus eine politische Anschauung, die dem Staat eine (alles) überragende Bedeutung im wirtschaftlichen und sozialen Leben einräumt. Indikatoren für den Grad etatistischer Staatsführung sind die Staatsquote und die Steuerquote.
Als Bezeichnung einer politischen Doktrin wurde der Begriff um 1880 in Frankreich geläufig,[1][2] nachdem dort Bakunins Schrift Staatlichkeit und Anarchie (Государственность и анархия, 1873) mit „étatisme et anarchie“ übersetzt worden war.[3]
Etatistische Positionen vertreten etwa der Absolutismus (Merkantilismus), Sozialismus (Marxismus), Borussianismus (Militarismus in Deutschland) und Nationalsozialismus (Wirtschaft im Nationalsozialismus, Neuer Plan) sowie verschiedene zeitgenössische Politikstile (Linkspopulismus, Neomerkantilismus). Gegenpositionen zum Etatismus („Antietatismus“) vertreten der Liberalismus (Neoliberalismus), Libertarismus, Anarchokapitalismus, Anarchosyndikalismus, Anarchokommunismus und Anarchokollektivismus.
Als Gegenbegriff zu Haltungen und Konzepten des Etatismus sind das Schlagwort Laissez-faire und der Begriff Minarchismus (Minimalstaat) im Gebrauch. Zu den Konzepten, die dem Etatismus entgegenwirken und auf dem Gedanken der Subsidiarität aufgebaut sind, zählen Modelle der Selbstverwaltung. Ein Vorgehen, das darauf zielt, den Etatismus durch den Abbau von Vorschriften zurückzudrängen, bezeichnet man als Deregulierung.

Nach Maurice C. Bryson und William R. McDill kann anhand des Grades von Etatismus und Egalitarismus (links und rechts) ein zweidimensionales Modell zum politischen Spektrum aufgestellt werden.[4]
Anwendungen
Etatismus kann
- die Privatsphäre rechtlich zugunsten des staatlichen Machtbereichs einschränken und als staatliche Bevormundung wahrgenommen werden;
- mit zentralistischen Staatsauffassungen verbunden sein,[5] insbesondere auf die Erweiterung bundesstaatlicher Befugnisse gegenüber den Rechten von Gliedstaaten abzielen;
- Positionen des Dirigismus und der Planwirtschaft bezeichnen, in der staatliche Kontrolle und Eingriffe in wichtigen Industriezweigen und Lebensbereichen wirksam werden, sowie
- eine ausschließlich, einseitig oder vorrangig auf das Eingreifen des Staates eingestellte Erwartungshaltung und Denkweise (Paternalismus) darstellen.
Etatismus in verschiedenen Ländern und Epochen
Auf der Grundlage der bereits in der Antike entstandenen Idee, dass der Naturzustand der Menschen ein „Krieg aller gegen alle“ sei, entwarf der englische Philosoph Thomas Hobbes in seinem Werk De Cive (1642) das Konzept, dass die Einzelnen ihre natürlichen Rechte auf eine zentrale Gewalt übertragen, die am vollkommensten in einer Person, dem absoluten Herrscher, repräsentiert werde. In seinem Hauptwerk Leviathan (1651) entwickelte er das Konzept fort und begründete damit die Vertragstheorie als philosophische Grundlage des neuzeitlichen Etatismus. Zur Überwindung des Absolutismus entstanden in der Zeit der Aufklärung, insbesondere in der Zeit der Amerikanischen und Französischen Revolution, auf der Grundlage der Vertragstheorie neue Staatstheorien, darunter Vorstellungen der Gewaltenteilung, wie sie Montesquieu in der Schrift Vom Geist der Gesetze (1748) dargelegt hatte.
Vertreter des Liberalismus und der Klassischen Nationalökonomie empfahlen eine Zurückhaltung des Staats, etwa Adam Smith in dem Werk Der Wohlstand der Nationen (1776). Vertreter einer aufkommenden Sozialphilosophie konstruierten die Idee eines (all-)umfassenden sozialstaatlichen Etatismus, etwa Johann Gottlieb Fichte in dem Werk Der geschlossene Handelsstaat (1800). Vertreter des Anarchismus erdachten Systeme ohne oder geringer Staatlichkeit, etwa Michail Alexandrowitsch Bakunin in der Schrift Staatlichkeit und Anarchie (1873).
Bedeutende Beiträge zum Verständnis des modernen Etatismus lieferte Max Weber ab dem Ende des 19. Jahrhunderts. Weber verstand den Staat als eine „Anstaltsbetrieb“, der das Monopol legitimer Zwangsanwendung beansprucht. Diese Definition betont die rein funktionale Rolle des Staates als Träger von Gewaltmonopol und Ordnung, unabhängig von spezifischen wirtschaftlichen oder sozialen Zwecken. Webers Staatstheorie ist eng mit seiner Analyse der Bürokratie und Herrschaftsformen des Rationalismus verbunden, da der moderne Staat auf einem bürokratischen Verwaltungsapparat beruht.
Ein bürokratischer Etatismus bestand neben einem ständischen Partikularismus bereits in der Epoche des Aufgeklärten Absolutismus.[6]
In der Schweiz der Gegenwart wird damit hingegen die Stärkung der Zentralgewalt des Bundes gegenüber den Kantonen zum Ausdruck gebracht.[7]
In Frankreich steht der Gaullismus für einen zentralistischen und dirigistischen Staat.
In der Türkei ist Etatismus (Devletçilik) eines der Grundprinzipien des Kemalismus.
Der Peronismus in Argentinien basierte auf einem etatistisch-autoritären Staatsverständnis und fand im Kirchnerismo eine Fortsetzung.
In Italien stand der Faschismus für einen Staat als Lebensquelle des Volkes, der einen eigenen Willen besitzt.[8]
Zentralistische Tendenzen in der Europäischen Union, der Ebene des Staatenverbunds mehr Kompetenzen zuzuordnen bzw. sie zu einem europäischen Bundesstaat fortzuentwickeln, werden ebenfalls als Etatismus gekennzeichnet.[9]
Im englischen Sprachraum werden mit dem Begriff Nanny State eine Politik und ein Staat bezeichnet, die mit Verboten bzw. Pflichten, Sanktionen oder sonstigen Erschwernissen das Verhalten der Bürger beeinflussen und dabei das Recht mündiger Bürger auf freie Willensentscheidung in unangemessener Weise einschränken.
Siehe auch
Weblinks
- Etatismus, Eintrag im Portal bpb.de (Bundeszentrale für politische Bildung)
Einzelnachweise
- ↑ Etatismus ( vom 14. Oktober 2007 im Internet Archive), Markus Blaser im Wörterbuch der Sozialpolitik auf socialinfo.ch
- ↑ „Doctrine politique préconisant l’extension du rôle, des attributions de l’Etat à toute la vie économique e sociale.“ – Etatisme. In: Le Grand Robert de la langue française. 1880, Band 4, S. 177
- ↑ Bakunin war als Anarchist davon überzeugt, dass der Hauptfeind der Arbeiter der Staat ist. Dessen Wesen sei die „Versklavung der Massen“. Als ausgeprägtestes Beispiel für einen solchen Staat sah er das Deutsche Kaiserreich unter Reichskanzler Otto von Bismarck an. In Europa unterschied er zwischen veralteten „römisch-katholischen“ Staaten und „modernen Staaten“ („jüdische Königreiche“, „Bankokratien“), die auf der Ausbeutung der Arbeitskraft durch das Kapital basierten. Bakunin identifizierte die Steuerbürokratie und die Polizeigewalt als die wichtigsten Instrumente des Staates. Das Aufkommen „demokratischer Republiken“ änderte seiner Ansicht nach nichts am Wesen des Staates. Bakunin kritisierte die politische Linke Deutschlands – sowohl die Anhänger von Karl Marx als auch die Sozialdemokraten in der Tradition Ferdinand Lassalles – für ihren Etatismus.
- ↑ Maurice C. Bryson, William R. McDill: The Political Spectrum: A Bi-Dimensional Approach. In: Rampart Journal of Individualist Thought. Band 4, Heft 2 (Sommer 1968), S. 19–26 (PDF)
- ↑ Klaus Schubert, Martina Klein: Das Politiklexikon. 4., aktual. Auflage, Dietz, Bonn 2006.
- ↑ Arthur Schlegelmilch: Anfänge und Perspektiven des Verfassungsstaates in Deutschland und im Habsburger Reich zwischen 1780 und 1820, in: Digitale Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2000.Friedrich-Ebert-Stiftung ( des vom 26. Januar 2013 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Etatismus, duden.de, abgerufen am 27. Januar 2012
- ↑ Biblioteca Fascista: The Doctrine of Fascism (1932). In: Biblioteca Fascista. 1. März 2012, abgerufen am 18. Oktober 2023.; siehe auch Der Geist des Faschismus (Benito Mussolini, 1932)
- ↑ Lukas Oberndorfer: Hegemoniekrise in Europa – Auf dem Weg zu einem europäischen Wettbewerbsetatismus? In: Forschungsgruppe ‚Staatsprojekt Europa‘ (Hrsg.): Zwischen europäischem Frühling und autoritärem Etatismus. Die EU in der Krise. Münster 2012, S. 50–72
Auf dieser Seite verwendete Medien
Political Compass with the commonly associated colors in each quadrant