Erdbeben vor Kreta 365

Erdbeben vor Kreta 365
Erdbeben vor Kreta 365 (Mittelmeer)
Erdbeben vor Kreta 365 (Mittelmeer)
Datum21. Juli 365
Magnitudegeschätzt ≥ 8 MW
Epizentrum35° 0′ 0″ N, 23° 0′ 0″ O
(südwestlich von Kreta)
LandAnrainer des östlichen Mittel­meers

Das Erdbeben vor Kreta 365 n. Chr. war ein unterseeisches Erdbeben im östlichen Mittelmeer,[1][2] dessen nachfolgender Tsunami im Morgengrauen des 21. Juli 365 Zerstörungen in den Küstenregionen Zentral- und Südgriechenlands, Libyens, Ägyptens, Zyperns und Siziliens anrichtete. Das Epizentrum wird heute in der Nähe Kretas angenommen. Die Stärke des Bebens dürfte bei einer Magnitude von 8 oder höher gelegen haben.[2][3]

Von der Zerstörung durch den Tsunami waren insbesondere die Küsten des östlichen Mittelmeeres, das Nildelta und Alexandria betroffen, wo laut Ammianus Marcellinus tausende Menschen getötet und Schiffe bis zu zwei Meilen weit ins Landesinnere getragen wurden.[4] Auf Kreta wurden fast alle Städte beschädigt oder zerstört. Das Beben hinterließ einen tiefen Eindruck im kollektiven Gedächtnis der spätantiken Bevölkerung. Viele der damaligen Schriftsteller bezogen sich auf dieses Ereignis.[2]

Geologischer Nachweis

Kreta

Einige Studien sehen das Erdbeben auf Kreta von 365 n. Chr. in Zusammenhang mit einer Häufung von großen seismischen Aktivitäten im östlichen Mittelmeer zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert nach Christus, welche vielleicht eine Reaktivierung aller größeren Plattengrenzen in der Region hervorrief. Das Erdbeben soll die Ursache für eine Anhebung der Insel Kreta um 9 Meter gewesen sein. Dies lässt auf ein geschätztes Seismisches Moment von ≈1021 Nm schließen. Ein Erdbeben solchen Ausmaßes übertrifft alle heutigen in dieser Region.[2] Allerdings legt eine Neubewertung der Radiokohlenstoffdatierung nahe, dass die Anhebung der Insel erst später stattfand.[5]

Literarischer Nachweis

Historiker diskutieren weiterhin über die Frage, ob die historischen Ereignisse sich auf ein einziges katastrophales Erdbeben im Jahre 365 beziehen oder ob sie – aufgrund von Vermischungen im Laufe der Geschichte – eine Serie von Erdbeben, die sich zwischen 350 und 450 ereigneten, repräsentieren.[6] Die Auslegungen der zeitgenössischen Schriften werden von den Deutungen späterer antiker Schriftsteller überlagert, die Naturkatastrophen als göttliche Antworten oder Warnungen auf politische oder religiöse Ereignisse beschreiben.[5]

Weite Teile von Apollonia in Libyen gingen unter

Insbesondere die scharfen Gegensätze zwischen dem aufstrebenden Christentum und dem Paganismus zu dieser Zeit verleiteten zeitgenössische Schreiber dazu, Nachweise zu verfälschen. So versuchten zum Beispiel der Sophist Libanios und der Kirchenhistoriker Sozomenos das Erdbeben von 365 zusammen mit anderen schwächeren Beben, abhängig vom Standpunkt, entweder als göttliche Trauer oder als Wut anlässlich des Todes des römischen Kaisers Julian zwei Jahre zuvor darzustellen. Dieser Herrscher hatte versucht, den heidnischen Glauben wiederherzustellen.[2]

Die relativ häufigen Hinweise auf Erdbeben in einer Zeit, die sonst von einem Mangel an historischen Aufzeichnungen geprägt ist, weisen darauf hin, dass es damals eine Phase erhöhter seismischer Aktivität gab.[2] Von Kourion auf Zypern beispielsweise ist bekannt, innerhalb von 80 Jahren von fünf starken Erdbeben heimgesucht worden zu sein, die zur dauerhaften Zerstörung der Stadt führten.[7] Einen weiteren Anhaltspunkt für die besonders verheerende Wirkung des Erdbebens von 365 liefern die Auswertungen von Ausgrabungen, die die Zerstörungen um 365 in vielen spätantiken Siedlungen und Städten im östlichen Mittelmeerraum dokumentieren.[2]

Tsunami

Der römische Historiker Ammianus Marcellinus beschrieb, wie der Tsunami Alexandria und andere Orte in den frühen Stunden des 21. Juli 365 n. Chr. traf.[4] Sein Bericht ist besonders bemerkenswert wegen der klaren Unterscheidung der drei Hauptphasen eines Tsunamis, nämlich das anfängliche Erdbeben, der plötzliche Rückzug des Meeres und die darauf folgende gigantische Flutwelle, die in das Landesinnere rollte:

Nildelta

„... kurz nach Tagesanbruch begann plötzlich, nachdem die heftigsten Blitze und Donner Schlag auf Schlag vorangegangen {seltener Bericht eines Erdbebenlichts[8]}, die ganze Erdfeste bis auf den Grund erschüttert, zu beben, und das Meer trat mit aufgewühlten Wellen vom Ufer zurück, so daß man auf dem entblößten Abgrund die mannigfaltigsten Geschöpfe des Meeres in dem Schlamme liegen sah, und ganze Strecken von Berg und Thal, welche die erschaffende Natur in unermeßlichen Tiefen verborgen hatte, damals, wie man wohl glauben konnte, die Strahlen der Sonne zu sehen bekamen. Zahlreiche Schiffe standen wie auf trockenem Grunde nebeneinander, und eine Menge Menschen liefen ohne Scheu in dem geringen Überreste von Wasser herum, um Fische und Aehnliches mit den Händen aufzulesen, als plötzlich die Meereswogen, wie im Zorn über diesen erzwungenen Rückzug, sich umgekehrt erhoben und durch die kochenden Untiefen über Inseln und ausgedehnte Strecken des Festlandes hereinbrachen und unzählige Gebäude in Städten und wo dergleichen standen, dem Erdboden gleich machten, ganz wie wenn unter dem wüthenden Kampf der Elemente das finstere Angesicht der Erde die wunderbarsten Erscheinungen zur Anschauung brächte. Die in einem Augenblick, – da man es am wenigsten erwartete, rückkehrende Meeresfluth begrub viele Tausende von Menschen und bei dem ungestümen Rückzuge der Wogen waren, wie sich hernach zeigte, als die Aufregung des feuchten Elements sich gelegt hatte, eine Menge Schiffe zu Grunde gegangen, und die Leichname der Schiffbrüchigen trieben, mit dem Gesicht auf- oder abwärts, auf der Oberfläche herum. Schiffe von gewaltiger Größe waren von dem reißenden Sturm hinausgerissen worden, und saßen jetzt auf der Höhe von Häusern, wie das namentlich zu Alexandrien geschah: einige wurden bis auf 200 Schritte landeinwärts vom Ufer geschleudert ...“

Ammianus Marcellinus: Res gestae, Buch 26 (Übersetzung von Carl Büchele, 1854)[9]

Der Tsunami von 365 n. Chr. war so vernichtend, dass man sich noch am Ende des 6. Jahrhunderts in Alexandria am Jahrestag der Katastrophe an den „Tag des Schreckens“ zurückerinnerte.[2][10] Die Zerstörungen erreichten aber auch deutlich weiter westlich entfernte Küstenstädte der afrikanischen Küste, wie z. B. Neapolis im heutigen Tunesien, das schwer zerstört wurde, wie Unterwasserarchäologen 2017 feststellen konnten.[11][12]

Galerie

Sichtbare Spuren des Erdbebens der Antike überdauerten bis heute.

Siehe auch

Literatur

  • Stathis C. Stiros: The AD 365 Crete earthquake and possible seismic clustering during the fourth to sixth centuries AD in the Eastern Mediterranean: a review of historical and archaeological data. In: Journal of Structural Geology. Band 23, Februar 2001, S. 545–562, doi:10.1016/S0191-8141(00)00118-8 (englisch).
  • Kelly, Gavin: Ammianus and the Great Tsunami. In: The Journal of Roman Studies. Band 94, November 2004, S. 141–167, doi:10.2307/4135013 (englisch).
Literarische Diskussion über Quellen und die Rückführung des Bebens auf die Vorsehung
  • C. Lepelley: Le presage du nouveau desastre de Cannes: la signification du raz de maree du 21 juillet 365 dans l'imaginaire d' Ammien Marcellin. In: Kokalos. Band 36–37 (1990–91), S. 359–374.
  • F. Jacques, B. Bousquet: Le raz de maree du 21 juillet 365. In: Mélanges de l'Ecole française de Rome. Antiquité (MEFRA), Band 96, Nr. 1 (1984), S. 423–61.
  • M. Mazza: Cataclismi e calamitä naturali: la documentazione letteraria. In: Kokalos, Band 36–37 (1990–91), S. 307–330.
  • M. Henry: Le temoignage de Libanius et les phenomenes sismiques de IVe siecle de notre ere. Essai d'interpretation. In: Phoenix. Band 39 (1985), S. 36–61.
  • G. J. Baudy: Die Wiederkehr des Typhon. Katastrophen-Topoi in nachjulianischer Rhetorik und Annalistik: zu literarischen Reflexen des 21 Juli 365 n.C. JAC, Band 35 (1992), S. 47–82.
Geologischer Diskurs
  • G. Waldherr: Die Geburt der „kosmischen Katastrophe“. Das seismische Großereignis am 21. Juli 365 n. Chr. Orbis Terrarum, Band 3, 1997, S. 169–201.
  • D. Kelletat: Geologische Belege katastrophaler Erdkrustenbewegungen 365 AD im Raum von Kreta. In: E. Olhausen und H. Sonnabend (Hrsg.): Naturkatastrophen in der antiken Welt. Stuttgarter Kolloquium zur historischen Geographie des Altertums, Band 6, 1996 (1998), S. 156–161.
  • Bibliographie in: E. Guidoboni (mit A. Comastri und G. Traina. Übersetz. B. Phillips): Catalogue of Ancient Earthquakes in the Mediterranean Area up to the 10th Century. 1994
  • P. Pirazzoli, J. Laborel, S. Stiros: Earthquake clustering in the Eastern Mediterranean during historical times. Journal of Geophysical Research, Band 101 (1996), S. 6083–6097.
  • S. Price, T. Higham, L. Nixon, J. Moody: Relative sea-level changes in Crete: reassessment of radiocarbon dates from Sphakia and West Crete. In: BSA, Band 97 (2002), S. 171–200.
  • B. Shaw et al.: Eastern Mediterranean tectonics and tsunami hazard inferred from the AD 365 earthquake. Nature Geoscience, S. 1–9, Veröffentlichung online: 9. März 2008

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Today in Earthquake History (Memento vom 4. Oktober 2008 im Internet Archive)
  2. a b c d e f g h Stathis C. Stiros: The AD 365 Crete earthquake and possible seismic clustering during the fourth to sixth centuries AD in the Eastern Mediterranean: a review of historical and archaeological data. In: Journal of Structural Geology. Band 23, Februar 2001, S. 545–562, doi:10.1016/S0191-8141(00)00118-8 (englisch).
  3. Simon Jusseret, Charlotte Langohr, Manuel Sintubin: Tracking Earthquake Archaeological Evidence in Late Minoan IIIB (∼1300–1200 B.C.) Crete (Greece): A Proof of Concept. In: Bulletin of the Seismological Society of America. Vol. 103, Nr. 6. Katholische Universität Löwen, Löwen 2013, S. 4 (Online [abgerufen am 10. Mai 2015]).
  4. a b Ammianus Marcellinus, "Res Gestae", 26.10.15-19
  5. a b Kelly, Gavin: Ammianus and the Great Tsunami. In: The Journal of Roman Studies. Band 94, November 2004, S. 141–167, doi:10.2307/4135013 (englisch).
  6. Stiros, Stathis C.: The AD 365 Crete earthquake and possible seismic clustering during the fourth to sixth centuries AD in the Eastern Mediterranean: a review of historical and archaeological data. In: Journal of Structural Geology. Band 23, 2001, S. 545–562 (545f.).
  7. D. Soren: The Day the World Ended at Kourion. Reconstructing an Ancient Earthquake. In: National Geographic. Vol. 174, No. 1, (July, 1988), S. 30–53.
  8. Übersetzungen unterschiedlich, aber immer mit „vorangegangenen Blitzen“; siehe auf Lateinisch: Vers 15 von Res gestae Buch 26, Kapitel 10@thelatinlibrary.com.
  9. Ammianus Marcellinus, Römische Geschichte, übersetzt von Dr. Carl Büchele. Band 6. Buchhandlung J.B. Metzler, Stuttgart 1854, Sechsundzwanzigstes Buch, S. 679–689 (Römische Geschichte in der Google-Buchsuche).
  10. Hecht, Jeff: “Mediterranean's 'horror' tsunami may strike again”, NewScientist.com news service March 10, 2008.
  11. Rosemarie Frühauf: Gigantische Flutwelle verschluckte römische Stadt: Jetzt wurden die Ruinen gefunden. Epoch Times, 3. September 2017, abgerufen am 21. Juli 2020 (englisch).
  12. 'Tsunami-sunk' Roman ruins discovered in Tunisia. phys.org, 31. August 2017, abgerufen am 21. Juli 2020 (englisch).

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Stadplan des antiken Apollonia (Libyen). Apollonia wurde im 7. Jh. v. Chr. von griechischen Siedlern gegründet und diente als Hafen für das benachbarte Kyrene. Die Karte zeigt, welche Teile der Stadt nach dem Erdbeben von 365 n. Chr. im Meer versanken.
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Seaward Baths, Sabratha, taken in November 2006
365 Crete Earthquake, Apollonia, Pier (Jona).JPG
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Reste von Hafenbecken (Hintergrund) und Badehaus (Vordergrund) des antiken Apollonia (Libyen). Das kreisförmige Hafenbecken reichte in der Antike bis zu den Felsen im Hintergrund, bevor ein starkes Erdbeben 365 n. Chr. den Meeresboden absenkte.
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