Duplex usus legis

Der usus civilis legis: Tafel mit den Zehn Geboten im Rathaus zu Wittenberg, Lucas Cranach d. Ä., 1516
Der usus elenchticus legis: Vom Gesetz (den Tafeln der Zehn Gebote) zu Tode erschreckt, flieht der Mensch zum Kreuz Christi. Lucas Cranach d. Ä., Gesetz und Gnade, 1529 (Herzogliches Museum Gotha)

Duplex usus legis („zweifacher Gebrauch des Gesetzes“) ist ein Begriff der lutherischen Ethik.

Martin Luther verwendete seit der Kirchenpostille (1522)[1] konsequent folgende Terminologie:

  • Erster Gebrauch des Gesetzes (usus civilis oder politicus): Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung. Luther meinte, dass die Menschen wie wilde Tiere übereinander herfielen, wenn die weltliche Obrigkeit nicht durch Gesetze und Strafen ein friedliches Zusammenleben schützte.[2]
  • Zweiter Gebrauch des Gesetzes (usus elenchticus, spiritualis oder theologicus): Sündenerkenntnis (cognitio peccati). „So ‚braucht‘ Gott sein Gesetz (läßt es wirksam werden) zur Aufdeckung der Sünde in den Herzen der Menschen.“[3]

Einen Tertius usus legis („dritten Gebrauch des Gesetzes“) kannte Luther nicht. Werner Elert und Gerhard Ebeling wiesen unabhängig voneinander nach, dass die einzige Fundstelle hierzu in Luthers Werken, WA 39 I, 485, 16–24, eine Bearbeitung des Textes (Elert: „Fälschung“) durch Philipp Melanchthon ist.[4] Gegen die Anhänger Melanchthons („Philippisten“) hielten die Gnesiolutheraner am Duplex usus legis fest.[5]

Den Begriff usus legis bildete Luther in Anknüpfung an den Bibelvers 1 Tim 1,8 . Die inhaltliche Präzisierung erfolgte in zwei Schritten, zunächst in Auseinandersetzung mit den von Luther sogenannten „Schwärmern“ (hier besonders mit Karlstadt), später in Auseinandersetzung mit den Antinomisten.

„Bildersturm“ als vermeintliche Konsequenz von Luthers Theologie (Thomas Murner, Von dem grossen Lutherischen Narren, 1522)
  • Für Karlstadt machte sich die Gültigkeit des alttestamentlichen Gesetzes für Christen besonders am Bilderverbot fest. Die Entfernung kultischer Bilder aus Kirchen wurde von Luther als „Bildersturm“ bezeichnet und damit als gewalttätiges „Stürmen“ diskreditiert. Gegen Karlstadt behauptete Luther, für Christen gelte statt des alttestamentlichen Gesetzes das kaiserliche Recht. Die Tora sei „der Juden Sachsenspiegel“ und gehe die Christen nichts mehr an. Damit trat Luther für eine Eigenständigkeit der bürgerlichen Rechtschaffenheit (iustitia civilis) ein, deren Normen nicht biblizistisch hergeleitet werden.[6]
  • Für Johann Agricola hat es der Glaube nur mit dem Evangelium zu tun; das Gesetz gehöre ins Rathaus und nicht auf die Kanzel.[7] Luther ging nicht so weit. Das Gesetz könne zwar nichts zur Rechtfertigung beitragen. Aber es beschreibe eine Grundverfassung des Menschen. Der Mensch werde vom Gesetz z. B. mit der Forderung der Mitmenschlichkeit konfrontiert: ignoriert er sie, so macht er sich schuldig; erfüllt er sie, so dient ihm das nach Luther nur zur Selbstbestätigung und endet als fatale Selbstgerechtigkeit.[8]

Gibt es für Luther eine allgemeinmenschliche Gesetzeserfahrung? Nach Ebelings Definition wäre das anzunehmen: „Gesetz ist für Luther nicht eine statuarische geoffenbarte Norm, zu der sich nun der Mensch so oder so verhält, sondern … eine existentiale Kategorie, in der die theologische Interpretation des faktischen Menschseins zusammengeballt ist. Gesetz ist darum nicht eine Idee oder eine Summe von Sätzen, sondern die Wirklichkeit des gefallenen Menschen.“[9] Vor dem Hintergrund moderner Philosophie ist die Annahme, es gebe eine natürliche Gotteserkenntnis, mindestens umstritten. Luther sah das allerdings so: Das Gesetz sei in Form der Zehn Gebote jedem Menschen in Herz und Gewissen eingeprägt.[10] Für Luther gehörte das Gesetz auf die Kanzel, allerdings nicht als (pädagogische oder moralisierende) Gesetzespredigt, sondern als Wegweiser zum Evangelium. Luther hat die Äußerung, die Tora sei der Juden Sachsenspiegel und ginge die Christen nichts an, teilweise wieder relativiert: es gebe in der Tora Gesetze, besonders den Dekalog, die dem natürlichen Gesetz entsprächen. Dasselbe Gesetz, das Gott dem Mose am Sinai offenbarte, sei auch allen Menschen ins Herz geschrieben.[11]

Im Blick auf den ersten Gebrauch des Gesetzes (usus civilis) ergeben sich Perspektiven für eine moderne lutherische Ethik. „Das ‚Gesetz‘ ist dasselbe für Christen und Nichtchristen. Nur seine Bedeutung, Wirkung, ‚Funktion‘ ist verschieden für Christen und Nichtchristen“, so Martin Honecker.[12] In christlicher Freiheit können deshalb neue Gesetze entworfen werden, nach Luther sogar ein neuer Dekalog. Aber dabei bleibt man immer anfällig für Irrtümer. Die Entwicklung neuer Gesetze ist deshalb ein kommunikatives Geschehen, bei der die Christen untereinander, aber auch mit der Bibel im Gespräch bleiben.[13]

Literatur

  • Wilfried Joest: Dogmatik, Band 2: Der Weg Gottes mit dem Menschen. 3., durchgesehene Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993. ISBN 3-525-03264-1.
  • Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe. Walter de Gruyter, Berlin / New York 1990. ISBN 3-11-008146-6.
  • Svend Andersen: Macht aus Liebe: Zur Rekonstruktion einer lutherischen politischen Ethik (Theologische Bibliothek Töpelmann. Band 149) Walter de Gruyter, Berlin / New York 2010.

Einzelnachweise

  1. Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik, Berlin / New York 1990, S. 63.
  2. Svend Andersen: Macht aus Liebe: Zur Rekonstruktion einer lutherischen politischen Ethik, Berlin / New York 2010, S. 22 f.
  3. Wilfried Joest: Der Weg Gottes mit dem Menschen, Göttingen 1993, S. 494.
  4. Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik, Berlin / New York 1990, S. 63.
  5. Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik, Berlin / New York 1990, S. 75.
  6. Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik, Berlin / New York 1990, S. 64.
  7. Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik, Berlin / New York 1990, S. 65.
  8. Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik, Berlin / New York 1990, S. 66.
  9. Gerhard Ebeling, Wort und Glaube I, S. 64 5., hier zitiert nach: Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik, Berlin / New York 1990, S. 66 f.
  10. Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik, Berlin / New York 1990, S. 67.
  11. Svend Andersen: Macht aus Liebe: Zur Rekonstruktion einer lutherischen politischen Ethik, Berlin / New York 2010, S. 61.
  12. Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik, Berlin / New York 1990, S. 68.
  13. Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik, Berlin / New York 1990, S. 69.

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Scène d'iconoclasme illustrant Le Grand Fou luthérien (Von dem grossen Lutherischen Narren) de Thomas Murner. 1522, p. 220
Cranach Gesetz und Gnade Gotha.jpg

Nach den Briefen des Apostels Paulus wird der Weg des Menschen aus Verdammnis, Sünde und Gesetz zu ewigem Leben, Glaube und Gnade aufgezeigt. Da für Martin Luther die Sünde untrennbar mit dem menschlichen Wesen verbunden ist, bedarf der Gläubige des mosaischen Gesetzes, um sich seiner Sündhaftigkeit bewusst zu werden. Er muss erkennen, dass er an den Geboten des strafenden alttestamentarischen Gottes scheitert und verzweifeln wird. Diese Verzweiflung ist Voraussetzung für die Errettung durch Christus und das Evangelium. Entsprechend der von Luther vorgenommenen Differenzierung trennt der Baum in der Bildmitte die gegenübergestellten Ereignisse aus dem Alten und dem Neuen Testament. Auf der linken Bildhälfte des Gesetzes ist der Lebensbaum vertrocknet, auf der rechten Seite des Evangeliums trägt er grünende Äste. Links jagen Tod und Teufel den sündigen Menschen ins Höllenfeuer, während er nach rechts zu Moses blickt, der in einer Gruppe von Propheten des Alten Testaments auf die Tafeln der zehn Gebote verweist. Darstellungen des Sündenfalls und des Jüngsten Gerichts in der weiten Landschaft zeigen Ursprung und Strafe der menschlichen Verfehlung. Die für Luther wichtige Szene der ehernen Schlange aus dem Alten Testament deutet typologisch auf die Kreuzigung hin und zeigt die Rettung der Israeliten vor dem Gift durch Befolgung der Weisung Gottes.

Direkt rechts des Baumstamms ist Johannes der Täufer zusammen mit dem nackten Menschen der linken Seite zu sehen. Johannes als der letzte Prophet vor Christus steht für Luther zwischen Gesetz und Evangelium, weshalb ihm hier die Rolle des Vermittlers zukommt. Er lenkt die Aufmerksamkeit des Nackten, der vollkommen ruhig und mit gefalteten Händen dasteht, auf den Gekreuzigten am rechten Rand des Bildes. Von der Seitenwunde Christi geht ein Blutstrahl aus, der sich über nahezu die gesamte Breite der rechten Hälfte erstreckt und auf der Brust des Nackten niedergeht. In dem Blutstrahl erscheint die Taube des Heiligen Geistes. Hier zeigt sich, dass allein Christus, der stellvertretend für den Menschen gestorben ist und dessen frohe Botschaft vom Heiligen Geist übermittelt wird, die Verurteilung durch das Gesetz aufheben kann. Nur durch seinen Glauben, sola fide, wird der Mensch der göttlichen Vergebung in Form des erlösenden Blutstrahls teilhaftig. Durch den auferstandenen Christus, der sich über die Grabeshöhle hinter dem Kreuz in den Himmel erhebt, sind Tod und Teufel, die den Sünder auf der linken Seite verfolgten, gebannt: Beide liegen besiegt vor dem Kreuz, unter dem Lamm Gottes, das wie der Auferstandene die Siegesfahne trägt. Der Sünder der Seite des Gesetzes ist hier jedoch ein Gerechter, womit das Gothaer Bild den Aspekt des simul iustus et peccator verdeutlicht. Vor den Toren der Stadt Bethlehem erscheint im Hintergrund der rechten Seite die Verkündigung an die Hirten. Wie die Erhöhung der ehernen Schlange, die das Auge des Betrachters direkt daneben auf der anderen Seite des Baums findet, zeigt diese Szene das Anerkennen von Gottes Wort durch den Menschen. Für den Betrachter wird verdeutlicht, dass Gesetz und Evangelium die gleiche frohe Botschaft verkünden, die immer zu Christus hinführt. Zitate aus dem Alten und Neuen Testament im unteren Bereich der Tafel unterstreichen die Aussage und liefern zudem die biblische Legitimation der Darstellung.
10 Gebote (Lucas Cranach d A).jpg
sächsische Wappen in den unteren Ecken