Dorothea Buck
Dorothea Buck (auch J. E. Deranders oder Sophie Zerchin) (* 5. April 1917 in Naumburg a. d. Saale; † 9. Oktober 2019 in Hamburg)[1] war eine deutsche Autorin und Bildhauerin. Als Zwangssterilisierte war sie Opfer der NS-Diktatur, sie wurde eine bedeutende Persönlichkeit der Bewegung Psychiatrie-Erfahrener.
Leben und Wirken
Herkunft
Dorothea Buck wuchs als viertes von fünf Kindern in Naumburg an der Saale auf.
Psychiatrische Aufenthalte und NS-Zeit
1936, im Alter von neunzehn Jahren, wurde sie mit der Diagnose „Schizophrenie“ in die Von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel eingewiesen. Dort lernte sie erstmals die menschenverachtenden, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts üblichen Praktiken in der Psychiatrie kennen – wie Dauerbäder und Kaltwasserkopfgüsse zur „Disziplinierung“. Als besonders erniedrigend empfand sie jedoch die „völlige Sprachlosigkeit“: Die Patienten untereinander hatten Sprechverbot, Gespräche zwischen Personal und Patienten waren unüblich.
Aufgrund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde Dorothea Buck in den Von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, Bielefeld, am 18. September 1936 zwangssterilisiert.[2]
Ab 1937 erlernte Dorothea Buck das Töpferhandwerk und besuchte ab 1942 die private Städel-Kunsthochschule in Frankfurt am Main. Eine Aufnahme an der Hochschule wurde nur möglich, weil sie ihren Psychiatrieaufenthalt und vor allem die Sterilisation verschwieg, weil Sterilisierten vom NS-Regime unter anderem der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen verwehrt wurde.
1943, während eines weiteren Psychiatrieaufenthaltes, diesmal in der Universitätsklinik in Frankfurt am Main, erlebte sie, wie Mitpatientinnen und Mitpatienten Opfer der sogenannten Euthanasie wurden, das heißt von Psychiatern ermordet wurden.
Berufliche Laufbahn nach dem Krieg
Nach dem Krieg begann Dorothea Buck als Bildhauerin zu arbeiten. Ende April 1950 ging sie nach Empfertshausen (Thüringen), um den Gesellenbrief als Holzbildhauerin zu erwerben, der Voraussetzung für ein Studium an der einer Kunsthochschule war. Von 1969 bis 1982 war sie Lehrerin für Kunst und Werken an der Fachschule für Sozialpädagogik I in Hamburg.
Medienberichte in den frühen 1960er Jahren über die weiterhin menschenunwürdigen Bedingungen in den deutschen Psychiatrieeinrichtungen motivierten Dorothea Buck, sich für deren Verbesserung einzusetzen. Sie verfasste ein Theaterstück über den hunderttausendfachen Mord an psychisch Kranken und Behinderten in der NS-Zeit, schrieb zahlreiche Aufsätze, hielt Vorträge, um aufzuklären und für eine humanere Psychiatrie in der Gegenwart zu werben.
Spätes Wirken
Ab 1989 – die Erfahrung der „Sprachlosigkeit“ in der Psychiatrie war ihr unvergessen geblieben – galt ihr Engagement der Einrichtung von Psychoseseminaren. In Hamburg gründete sie zusammen mit dem Psychologen Thomas Bock in der Psychiatrie der Universitätsklinik die erste Einrichtung dieser Art, in der Patienten, Angehörige und in der Psychiatrie Beschäftigte in einen gleichberechtigten Wissens-, Meinungs- und Erfahrungsaustausch (Trialog) über psychische Erkrankungen traten.
1990 erschien unter dem Pseudonym Sophie Zerchin, einem Anagramm des Wortes Schizophrenie, Dorothea Bucks Biografie Auf der Spur des Morgensterns.
1992 gründete Dorothea Buck mit anderen Betroffenen den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener, deren Ehrenvorsitzende sie bis zu ihrem Tod war.[3]
2007 hielt sie einen Hauptvortrag (70 Jahre Zwang in deutschen Psychiatrien – erlebt und miterlebt) beim Kongress „Coercive Treatment in Psychiatry: A Comprehensive Review“ („Psychiatrische Zwangsbehandlung. Ein Überblick“) der World Psychiatric Association in Dresden.[4]
Dorothea Buck starb 2019 in Hamburg.[1]
Auszeichnungen und Ehrungen
Buck erhielt zwei Klassen des Bundesverdienstkreuzes: 1997 das Verdienstkreuz 1. Klasse, 2008 das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.[5] 2017 verlieh ihr der Senat der Hansestadt Hamburg die Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes in Silber.[6]
Zu Ehren ihres 102. Geburtstags am 5. April 2019 publizierte der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e. V. die ihr gewidmete Fest- und Feierschrift Psychose als Selbst-Findung – Bald 100 Stimmen zu Dorothea Bucks 100. Geburtstag.[7]
1996, noch zu ihren Lebzeiten, wurde ein Wohnheim für psychisch erkrankte Menschen in Bottrop nach ihr benannt.
Durch Senatsbeschluss vom 10. Februar 2022 erhielt die im Hamburger Stadtteil Schnelsen auf dem Deckel der A 7 entstandene Grünfläche zwischen Frohme- und Heidlohstraße den Namen Dorothea-Buck-Park.[8] Durch einen weiteren Senatsbeschluss vom 18. Mai 2022 wurde die im Stadtteil Farmsen-Berne gelegene, erst 2017 benannte Emmy-Püttjer-Straße in Dorothea-Buck-Straße umbenannt. Die Umbenennung erfolgte wegen der Nähe Püttjers zum Nationalsozialismus und des Umstandes, dass sich an dieser Stelle früher ein Pflege- und Versorgungsheim und ein so genanntes Arbeitshaus befanden, in dem in der NS-Zeit Menschen zwangsinterniert, zwangssterilisiert und in weitere Anstalten zur Euthanasie deportiert wurden.[9]
Rezeption
Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) von 2010 zitierte Sigrid Falkenstein in ihrer Rede als Angehörige von Anna Lehnkering, die im Zuge der Aktion T4 ermordet wurde, Bucks Worte: „Was nicht erinnert wird, kann jederzeit wieder geschehen, wenn die äußeren Lebensumstände sich entscheidend verschlechtern.“[10] Am 27. Januar 2017 wurde im Bundestag an die Opfer des psychiatrischen Massenmords und der Zwangssterilisationen während des Naziregimes erinnert. In ihrer Rede sprach Falkenstein von Dorothea Buck und wiederholte das Zitat.[11]
Werk (Auswahl)
- Dorothea Buck-Zerchin: Lasst euch nicht entmutigen. Texte 1968–2001. Anne Fischer Verlag, Norderstedt ISBN 3-926049-32-4 und Leipziger Universitätsverlag 2002 (Vergriffen).
- Dorothea-Sophie Buck-Zerchin: Auf der Spur des Morgensterns – Psychose als Selbstfindung. Anne Fischer Verlag, Norderstedt ISBN 978-3-926049-47-6 und Paranus Verlag, Neumünster 2005 ISBN 978-3-926200-65-5.
- Dorothea Buck: Ermutigungen – Ausgewählte Schriften. Anne Fischer Verlag, Norderstedt ISBN 978-3-926049-63-6 und Paranus Verlag, Neumünster 2012 ISBN 978-3-940636-21-8.
- Dorothea Buck u. a.: Mit meinen herzlichen Grüßen! Ihre Dorothea Buck – Der Gartenhaus-Briefwechsel. Paranus Verlag, Neumünster 2016 ISBN 978-3-940636-37-9.
Filme (Auswahl)
- Edgar Hagen: Vom Wahn zum Sinn, 45 Minuten
- Alexandra Pohlmeier: Himmel und mehr – Dorothea Buck auf der Spur, 90 Minuten, 2008[12]
- Alexandra Pohlmeier: 20 Jahre Trialog – Das Hamburger Psychoseseminar und die Folgen, 52 Minuten, 2009, Paranus-Verlag
- Alexandra Pohlmeier: Unglaublich gradezu, 23 Minuten, 2011
Weblinks
- Dorothea Bucks Website
- Dorothea Buck: 70 Jahre Zwang in deutschen Psychiatrien – erlebt und miterlebt. (PDF; 50 kB) 7. Juni 2007 (Hauptvortrag beim Kongress „Coercive Treatment in Psychiatry: A Comprehensive Review“, veranstaltet von der World Psychiatric Association (WPA) in Dresden).
- Jurand Daszkowski, Anke Griesel, Hannelore Klafki, Reinhard Wojke: Gemeinsam sind wir stark – Interview mit Dorothea Buck. In: Rundbrief des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener e.V. 3/2005. 25. Januar 2005, S. 10–13 .
- Literatur von und über Dorothea Buck im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Brigitte Siebrasse, Michaela Hoffmann: „Ich hatte ein reiches Leben“: Dorothea Buck, die große alte Dame der Psychiatrie-Erfahrenen-Bewegung, zieht Bilanz. (PDF; 110 kB) (Nicht mehr online verfügbar.) In: Soziale Psychiatrie. 31. März 2005, S. 36–38, archiviert vom Original am 27. Mai 2006 .
- Peter Lehmann: Dorothea Sophie Buck-Zerchin: 70 Jahre Zwang in deutschen Psychiatrien – erlebt und miterlebt (Buch). Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, 12. Januar 2009 .
- Dorothea-Sophie Buck-Zerchin: Rede bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer der „Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. In: bpe-online.de. 6. September 2008 .
6.9. – Gedenktag für die Opfer der Euthanasiegesetze. In: BpE-Rundbrief. 19. Januar 2009 (Dokumentation der Veranstaltung). - Von Dr. Peter Lehmann erstellte und von ihm bis zu Dorothea Bucks Tod in Absprache mit ihr betreute Website mit ihrer Biographie, ihren Publikationen, Stellungnahmen, Referaten und Auszeichnungen sowie den Nachrufen
Einzelnachweise
- ↑ a b Solange wir miteinander reden, bringen wir uns nicht um. In: www.zeit.de, Zeit Online. 10. Oktober 2019, abgerufen am 11. Oktober 2019.
- ↑ Friederike Gräff: Nachruf auf Dorothea Buck: Den Schmerz verwandeln. In: Die Tageszeitung: taz. 1. November 2019, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 1. November 2019]).
- ↑ Lea Diehl: Der Hausbesuch: Eine Kämpferin für die Seele. In: Die Tageszeitung: taz. 18. September 2018, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 2. Oktober 2018]).
- ↑ Peter Lehmann, Reinhard Wojke: Video-, Photo- und Text-Dokumentation von „Psychiatrische Zwangsbehandlung. Ein Überblick“. Kongress, veranstaltet von der World Psychiatric Association in Dresden vom 6. bis 8. Juni 2007
- ↑ [1] Bundesverdienstkreuz für Dorothea Buck. In: Hamburger Morgenpost vom 20. Februar 2008, S. 20
- ↑ [2] Dorothea Buck für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Gesundheitssenatorin Prüfer-Storcks würdigt Einsatz der 99-Jährigen für eine menschliche Psychiatrie. Pressestelle des Senats, Hamburg, 22. Februar 2017/bgv22a
- ↑ [3] Am 5. April 2019 wird Dorothea Buck 102 Jahre alt. Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e. V. ehrt die Überlebende und Kämpferin gegen erbbiologische Psychiatrie mit einer Festschrift der besonderen Art. Pressemitteilung des BPE e. V., Bochum, 4. April 2019
- ↑ Senatsbeschluss vom 10. Februar 2022, veröffentlicht im Amtlichen Anzeiger Nr. 14 vom 18. Februar 2022, abgerufen am 10. April 2022
- ↑ Senatsbeschluss vom 18. Mai 2022, veröffentlicht im Amtlichen Anzeiger Nr. 43 vom 1. Juni 2022, abgerufen am 3. Juni 2022
- ↑ [4] Rede von Sigrid Falkenstein bei der Gedenkveranstaltung „Psychiatrie im Nationalsozialismus – Erinnerung und Verantwortung“ anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, Berlin, November 2010
- ↑ [5] Bundestag erinnert an die Opfer der „Euthanasie“ im NS-Staat. Deutscher Bundestag, 27. Januar 2017
- ↑ Himmel und Mehr – Dorothea Buck auf der Spur. Abgerufen am 14. Oktober 2019 (Website zum Film).
Himmel und mehr – Dorothea Buck auf der Spur (2009) in der Internet Movie Database (englisch)
Personendaten | |
---|---|
NAME | Buck, Dorothea |
ALTERNATIVNAMEN | Zerchin, Sophie; Deranders, J. E. |
KURZBESCHREIBUNG | deutsche Autorin und Menschenrechtlerin |
GEBURTSDATUM | 5. April 1917 |
GEBURTSORT | Naumburg a. d. Saale |
STERBEDATUM | 9. Oktober 2019 |
STERBEORT | Hamburg |
Auf dieser Seite verwendete Medien
Autor/Urheber: Minderbinder, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Bronze "Mutter und Kind", geschaffen 1964 von Dorothea Buck (1917-2019), aufgestellt im Innenhof der Schule An der Gartenstadt in Hamburg, vor dem Verwaltungstrakt.