Diebe im Gesetz

Diebe im Gesetz (russisch воры в законе, wory w zakone; georgisch კანონიერი ქურდები, Kanonieri K'urdebi, armenisch օրենքով գող, orenk'ov goğ) ist die Bezeichnung für eine bestimmte Gruppe von Kriminellen, die meist aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion stammen und der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind.[1]

Die „Diebe im Gesetz“ sind nicht Mitglieder einer zusammengehörigen Organisation, sondern jeweils Anführer eines regionalen Verbands. In der oft gewaltsam gebildeten internen Gefangenenhierarchie sowjetischer Lager und Gefängnisse waren verurteilte Diebe oft die angesehenste Häftlingsgruppe und einige von ihnen entwickelten sich zu „kriminellen Autoritäten“, die hinter sich eine organisierte Gefolgschaft bildeten. Sie gehören jedoch zu einer gemeinsamen Subkultur, die zu Zeiten der Sowjetunion eigene Organisationsstrukturen, Kommunikationsformen und Verhaltenskodizes entwickelt hatte. Der Begriff der „Diebe im Gesetz“ hat somit eine Doppelbedeutung und bezieht sich auf verurteilte Diebe und ihre Gefolgschaften, wie auch auf die gebildeten kriminellen Verhaltenscodices, das „Diebesgesetz“, in Abgrenzung gegen andere Kriminelle, darunter auch einige auf Verwandtschaft beruhende Gruppen organisierter Kriminalität, für die diese Regeln nicht galten.

Hintergrund

Entstehung

Schon zur Zarenzeit etablierte sich in Russland eine organisierte Kriminalität.[2] Diese Kriminellen nennen sich vermutlich seit der Stalin-Ära und der Zeit der Straflager des sogenannten GULag „Diebe im Gesetz“.[3][4] Die in Stalins Amtszeit rigide durchgesetzte Repressionspolitik bedeutete seit den 1920er Jahren für politische Regimegegner und Kriminelle gemeinsame Haft. Manche von ihnen formierten sich zur Organisation der Diebe im Gesetz, die bald schon großen Einfluss innerhalb der Gefangenenlager hatte.[5]

Gegenwart

Diese Organisationsform gibt es noch heute. Sie ist spätestens seit dem Zerfall der Sowjetunion auch international aktiv und hat in der organisierten Kriminalität weltweit großen Einfluss. Bemerkenswert ist, dass die „Diebe im Gesetz“ früher in der sozialistischen wie auch heute in der kapitalistischen Gesellschaft eine beachtliche Reputation genießen, was auch auf ihre Geschichte als Ausgestoßene in der Stalin-Zeit zurückzuführen ist. Die „Diebe im Gesetz“ kommen nicht nur aus Russland, sondern auch aus der Ukraine, Belarus, Aserbaidschan, Armenien, Georgien und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion.[6] Sowohl die Diebe im Gesetz als auch die Zdarowi-Obras-Kriminellen (russ. „gesunde Lebensart“) werden verallgemeinernd als Russenmafia bezeichnet.

„Diebesgesetz“ und „Obschak“

Die Verbrecher lebten früher mehr als heute nach eigenen sozialen Regeln, dem „Diebesgesetz“, das es ihnen unter anderem verbot, mit den Behörden in irgendeiner Weise zusammenzuarbeiten, eine Familie zu gründen oder einer regulären Arbeit nachzugehen. Eine zentrale Funktion hat dabei die Gemeinschaftskasse Obschak,[7] die aus informellen Mitgliedsbeiträgen und Erpressungsgeldern finanziert wird. Ursprünglich als eine Art Sozialkasse der Gemeinschaft gedacht, wird aus ihr der Drogenhandel finanziert, Bestechungsgelder und Anwaltshonorare bezahlt. Das Geld war auch für die finanzielle Unterstützung inhaftierter Mitglieder bestimmt. Die „Diebe“ hielten regelmäßige Treffen ab (S’chodka), deren Beschlüssen Folge zu leisten war.[8] Damals wie heute besteht ein „absolutes Aussageverbot gegenüber staatlichen Organen.“[1]

Ein Teil der Gelder wird durch Geldwäsche legalisiert und zum Kauf von Immobilien oder Betrieben verwendet.[9][1][10]

Tätowierungen

Ein wichtiges Erkennungsmerkmal der Diebe im Gesetz sind ihre markanten Tätowierungen. Sie geben Auskunft über den Status des „Diebes“, aber auch z. B. über seine Verurteilungen und Gefängnisaufenthalte. Zu Sowjetzeiten war in den Zeichnungen auch die Verhöhnung des Staates gängig, z. B. durch Verunglimpfung des Textes der sowjetischen Nationalhymne. Die Tätowierungen wurden durch Danzig Baldajew ausgiebig erforscht.[11]

Wer sich Tätowierungen anbringt, die ihm nicht zustehen, oder sich mit Straftaten schmückt, die er nicht begangen hat, fällt im Ansehen auf die unterste Stufe, die auch für Sexualverbrecher vorgesehen ist. Er wird von den anderen Gefangenen gemieden, verachtet und manchmal sogar ermordet, meist werden solche Tätowierungen zwangsweise entfernt.[12]

Heute ist es zu beobachten, dass Mitglieder der Organisation neue Tätowierungen meiden bzw. sich sogar alte entfernen lassen – vermutlich um in der gehobenen Gesellschaft, in die einige aufgrund ihres Reichtums Eingang finden, nicht weiter negativ aufzufallen, auch wenn sie damit streng genommen gegen das eigene „Diebesgesetz“ verstoßen.[13]

Die Diebe im Gesetz und die Schattenjustiz

Hierbei handelt es sich um inoffizielle Gerichtsbarkeiten in der Russischen Föderation, die vor allem dazu angerufen werden, um Vermögensstreitigkeiten zu regeln. Hierbei ist es unerheblich, ob dem Streit legale oder illegale Tatbestände zu Grunde liegen, in beiden Fällen kann der Richter angerufen werden. Die „Richter“ sind stets kriminelle Autoritäten und in vielen Fällen Wory w sakone. Ihr Urteil muss befolgt werden. Weigert sich eine der Parteien, das Urteil anzuerkennen, wird dies gegebenenfalls auch mit Gewalt durchgesetzt.[14]

Strafverfolgung

Wie bei anderen Formen der organisierten Kriminalität wären auch zur effektiven Strafverfolgung der Diebe im Gesetz ein Austausch mit ausländischen Strafverfolgungsbehörden sowie europaweite Ermittlungs- und Strafverfolgungsinstrumente erforderlich, die aber noch weitgehend fehlen.[15] Die Operation Java führte 2010 gleichwohl zu 69 Festnahmen.[16]

Bekannte „Diebe im Gesetz“

  • Aslan Usoyan alias Ded Xasan/Hasan
  • Leonid Bilunow[17]
  • Eduard Emanuilowitsch Braginski (1954–1994)[18]
  • Witali Djomotschka[19]
  • Lew Iossifowitsch Epstein (1928–2005)[20]
  • Dschaba Iosseliani (1926–2003)
  • Wjatscheslaw Iwankow (1940–2009)[21]
  • Zachari Knjazewitsch Kalaschow (geb. 1953)[22]
  • Pawel Nikolajewitsch Kuprijanow (1957–1996)[23]
  • Semjon Mogilewitsch (geb. 1946)
  • Tariel Oniani (geb. 1952)
  • Alimschan Tursunowitsch Tochtachunow[24]
  • Nikolai Jakowlewitsch Wolkow (1937–1988)[25]

Dokumentation und Spielfilm

  • Alexander Gentelev (Regie): Die Ehre der Paten. Israel 2010, 121 Min. Dokumentation, in der einige „Autoritäten“ ausführlich interviewt werden, die heute u. a. in Israel oder Frankreich Millionäre und erfolgreiche Geschäftsleute sind.[1]
  • Der 2007 in die Kinos gekommene Film Tödliche Versprechen – Eastern Promises mit Viggo Mortensen, Armin Mueller-Stahl, Naomi Watts, u. a. beleuchtet die Hintergründe einer Wory-Familie im gegenwärtigen London.[26]
  • Im Angesicht des Verbrechens, Deutschland 2010, zehnteilige TV-Serie von Dominik Graf zum Thema Russenmafia in Berlin, welche unter anderem auch die Ehrenkodices der agierenden Banden thematisiert.
  • Sibirische Erziehung (Educazione siberiana), Italien 2013, Regie: Gabriele Salvatores, Kinofilm.[27]
  • Kriminalserie SOKO Donau Folge 87: Der Austausch, Österreich 22. November 2011[28]
  • Kriminalserie Law & Order Folge 9x23: Der einzige Zeuge (org. Refuge), Erstausstrahlung USA: 11. Juli 2006[29]
  • Französische Kriminalserie Braquo, Dritte Staffel, Erstausstrahlung Frankreich: 10. Februar bis 3. März 2014

Literatur

  • J. Aleksandrov: Otscherki kriminalnoi subkulturi. Moskau, 2001.
  • Paul Erich Roth: Organisierte Kriminalität in Russland. In: Kriminalistik. Band 54, 2000, ISSN 0023-4699, S. 725–730.
  • Danzig Baldaev: Russian Criminal Tattoo Encyclopedia. 3 Bände. Steidl, Göttingen 2003–2008, Band 1, ISBN 978-0-9558620-7-6, Band 2, ISBN 978-0-9550061-2-8, Band 3, ISBN 978-0-9550061-9-7.
  • Elena Scherschneva-Koller: Postsowjetische Organisierte Kriminalität – Bekämpfung der „Vory v zakone“ in Österreich. Grin Verlag, 2010, ISBN 978-3-656-19709-6.
  • Alix Lambert: Russian Prison Tattoos, Codes of Authority, Domination and Struggle. Schiffer Publishing, 2003, ISBN 0-7643-1764-4.
  • Peter Skoblikow: Vermögensstreitigkeiten und Schattenjustiz im postsowjetischen Russland (1991–2001). In: Kriminalistik. Band 59, 1, 2005, ISSN 0023-4699, S. 19–25.
  • Moris Shalikashvili: Diebe im Gesetz: Eine kriminelle Organisation im deutschen Jugendstrafvollzug? wvb Wissenschaftlicher Verlag Berlin, 2009, ISBN 978-3-86573-451-8.
  • Jürgen Roth: Mafialand Deutschland. Eichborn-Verlag 2009, ISBN 978-3-8218-5632-2, Kapitel: Russische Mafia. S. 119ff.
  • Linus Geschke: Tannenstein dtv Verlag, 2019, ISBN 978-3-423-21824-5.
  • Ulrich Schmid: Gnadenlose Bruderschaften. Aufstieg der russischen Mafia. Schöningh Verlag, 1996, ISBN 3-506-77902-8.
  • Der Präsident des Landtags Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Russlanddeutsche im Strafvollzug. (= Schriftenreihe des Landtags Rheinland-Pfalz. Heft 19). 2002. ISSN 1610-3432

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c Klaus Laubenthal: Gefangenensubkulturen. In: Bundeszentrale für politische Bildung. 8. Februar 2010.
  2. P. E. Roth: Organisierte Kriminalität in Russland. In: Kriminalistik. 11/2000, S. 725.
  3. J. Aleksandrov: Otscherki kriminalnoi subkulturi. Moskau 2001, S. 16–27.
  4. Jekaterina Sinelschtschikowa: „Diebe im Gesetz“: Die Paten der russischen Unterwelt. In: Russia Beyond the Headlines. 22. Juli 2016.
  5. R. Stettner: Archipel Gulag: Stalins Zwangslager, Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Paderborn 1996.
  6. Alexander Rahr, Philipp Pachomow: Die Geschichte der russischen Kriminalität. In: kanka.de, November 1998.
  7. Andreas Förster: Schwarzgeld aus der Gemeinschaftskasse. In: Berliner Zeitung. 12. Mai 2011.
  8. P. Skoblikow: Über kriminelle Traditionen und Normen. In: Kriminalistik. 1/2006, S. 49.
  9. Stefan Mayr: Tigran und die Spur des Verbrechens. In: Süddeutsche Zeitung. 17. Mai 2010.
  10. Info: So funktioniert die Zwangskasse "Abschtschjak". In: Augsburger Allgemeine. 5. August 2008.
  11. Danzig Baldaev: Russian Criminal Tattoo Encyclopedia. 3 Bände. Steidl, Göttingen 2003–2008.
  12. D. Wachter: Tätowierungen als Sinnbilder. Symbole und Hinweise in Tätowierungen von Kriminellen aus den Nachfolgestaaten der UdSSR. In: Kriminalistik. 11/1999, S. 733.
  13. P. E. Roth: Organisierte Kriminalität in Russland. In: Kriminalistik. 11/2000, S. 727.
  14. P. Skoblikow: Vermögensstreitigkeiten und Schattenjustiz (1991–2001). In: Kriminalistik. 1/2005, S. 19.
  15. Egbert Bülles: Deutschland Verbrecherland? Organisierte Kriminalität (OK) im Rheinland.@1@2Vorlage:Toter Link/www.dwt-sgw.de (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Dezember 2023. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. Dezember 2014.
  16. Gavin Slade: Understanding the Emergence, Mobility, and Specificity of Georgian Organized Crime Groups in Europe since 2006. In: Ursula Töttel, Gergana Bulanova-Hristova, Gerhard Flach (Hrsg.): Research Conferences on Organized Crime at the Bundeskriminalamt in Germany. Vol. VIII: Transnational Organized Crime. 2013–2015. Luchterhand, Köln 2016, S. 63 ff. (englisch)
  17. Gregor Dolak: Der Mob, der aus der Kälte kam. In: Focus. 12. Mai 2010.
  18. primecrime.ru: Брагинский Эдуард Эммануилович (Чирик), abgerufen am 14. Juni 2020.
  19. Eric Leimann: Die Ehre der Paten - Russlands Mafia (Der Dokumentarfilm:) (Memento vom 3. Dezember 2013 im Internet Archive) In: stimme.de, 14. Juni 2011.
  20. primecrime.ru: Эпштейн Лев Иосифович (Лева Бельмо), abgerufen am 14. Juni 2020.
  21. Julia Smirnova: "Opa Hassan" galt schon einmal als tot. In: Die Welt. 18. Januar 2013.
  22. primecrime.ru: Калашов Захарий Князевич (Шакро Курд), abgerufen am 14. Juni 2020.
  23. primecrime.ru: Куприянов Павел Николаевич (Пашкан), abgerufen am 14. Juni 2020.
  24. Nathan Vardi: The World's 10 Most Wanted Fugitives. In: Forbes. 14. Juni 2011 (englisch).
  25. primecrime.ru: Волков Николай Яковлевич (Коба), abgerufen am 14. Juni 2020.
  26. Tödliche Versprechen – Eastern Promises (2007) bei IMDb
  27. Educazione siberiana (2013) bei IMDb
  28. Der Austausch. In: fernsehserien.de. 3. Juli 2015, abgerufen am 3. Juli 2015.
  29. Law & Order – Refuge bei IMDb